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Mord bleibt Mord

Kurzbeschreibung
GeschichteAbenteuer / P12 / Gen
22.04.2009
22.04.2009
1
1.151
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22.04.2009 1.151
 
Richard war am Boden zerstört. Wie hatte es soweit kommen können? Wie hatte das überhaupt passieren können?
Nächste Woche wäre er fünfundzwanzig gewesen, damit hätte automatisch die Verjährungsfrist eingesetzt. Nächste Woche...
Es hatte nicht so sein sollen. Sie hatten es herausgefunden und vor drei Wochen war Anklage erhoben worden. Nun saß er hier wegen Mordes, einem der schlimmsten Verbrechen, zu dem Menschen fähig waren.

„Sehen Sie ihn sich an“, rief der Staatsanwalt. „Können Sie sich vorstellen, dass dieser Mann ein Mörder ist?“ In einer großspurigen Geste wandte sich der nicht viel ältere Jurist Wilfried Sommer zum Richtertisch um. Sein Gehabe war eindeutig für die Schöffen bestimmt, nicht für die ältere, abgeklärte Richterin. Wenn er diesen Prozess gewann, stand ihm eine grandiose Karriere bevor. „Nein, Sie können es nicht. Ehrlich gesagt kann auch ich es nicht. Aber die Analysen beweisen es. Der Gentest beweist es. Dazu kommt eine Hochrechnung des BKA-Hauptrechners, der den Mord nachstellte und verifizierte.“
Erschrocken zuckte ein Schöffe zusammen, ein älterer Mann, der normalerweise nur bei kleineren Delikten wie Raub oder Urkundenfälschung beisaß.
„Irrelevant!“, rief Richards Verteidigerin. „Ich kann eindeutig beweisen, dass mein Mandant, Richard Medlig, zum Zeitpunkt der Tat nicht in der Lage war, seine Handlung zu kontrollieren. Sie geschah instinktiv und nicht unter Vorsatz.“
Der Staatsanwalt nickte schwer. „Aha. Das alte Lied. Er war nicht zurechnungsfähig. Wissen Sie, verehrte Kollegen, wie viele Vergewaltiger, Steuerhinterzieher und Mörder wegen dieses netten kleinen Satzes durch die Maschen des Gesetzes schlüpfen?
Und nun wollen Sie diesen Satz verwenden, um Ihren Mandanten freizubekommen? Herrgott, Frau König, dieser Mann hat seinen Bruder getötet! Und nicht nur das, er hat ihn sich regelrecht einverleibt, ABSORBIERT! Sie mögen es eine Instinkthandlung nennen, ich nenne es Mord.“
„Ich bitte Sie, Herr Staatsanwalt“, fuhr die Richterin dazwischen. „Wir sind hier nicht in den USA. Bei uns entscheiden immer noch die Fakten und nicht die weißesten Zähne oder die beste Stimmlage. Fahren Sie fort, aber gemäßigt!“
„Nun gut, dann will ich mich auf Fakten stützen.
Dieser Mann hat seinen Bruder getötet. Definitiv. Dies geht aus einem Gentest hervor, den der Angeklagte freiwillig durchführen ließ, da er mit seiner Lebenspartnerin Kinder zeugen will und sichergehen wollte, dass sie Kinder zeugen können, ohne Erbschäden befürchten zu müssen.
Der zuständige Genetiker entdeckte in der Probe aber Unregelmäßigkeiten, Zellstämme, die nur zu 99,999 Prozent zum Angeklagten passten. Weitere Tests, wieder unter der aktiven Mithilfe des Angeklagten ergaben schließlich, dass es Zellen seines Zwillingsbruders waren, der vor fast fünfundzwanzig Jahren spurlos verschwand. Nun wissen wir auch, wieso.
Da dieses Verbrechen mit ungeheurer Brutalität ausgeführt wurde, veranlasste der zuständige Oberstaatsanwalt eine genauere Untersuchung der Sachlage. Das Ergebnis sehen Sie hier. Dort ist der Mörder, da die Beweise... Und unter Ihrer linken Hand, Frau Richterin, das Gesetzbuch, auf das Sie geschworen haben.“
„Es sieht schlecht für uns aus“, raunte seine Anwältin ihm zu. „Euer Ehren, ich erbitte eine Pause.“
„Warum steht es schlecht?“, fragte Richard. Er erhielt keine Antwort.

Eine halbe Stunde später wurde die Verhandlung fortgeführt. Amelia König lächelte zaghaft, als sie sich neben ihrem Mandanten niederließ. „Richard, ich habe mit Staatsanwalt Sommer verhandelt. Er sieht ein, dass er die Anklage wegen Mordes nicht halten kann. In Ihrem damaligen Zustand ist Ihnen unmöglich ein Vorsatz zu unterstellen. Er verzichtet auch auf eine Haftstrafe.“
„Aber?“, fragte Richard leise, böse Vorahnungen in sich aufsteigen spürend.
„Aber er besteht darauf, dass Sie wegen dem schweren Fall der Absorption einige Zeit unter Beobachtung gestellt werden. Sie können gar nicht glauben, wie stolz er auf seine neue Wortschöpfung ist. Absorption als Verbrechen...“
„Das ist mir ein Trost! Hören Sie, Amelie, ich habe von diesem Zwilling doch nie etwas gewusst! Als ich ihn absorbierte, waren er und ich doch noch Embrios. Das passiert nun mal bei Zwillingen im Mutterleib ab und zu. Das ist ein natürlicher Vorgang. Ich kann nicht verstehen, dass ich dafür bestraft werden soll.“
„Richard“, erwiderte die Anwältin mit ruhiger Stimme, „laut Gesetzbuch sind Embryonen als menschliches Leben anzusehen und entsprechend zu schützen.
Dies ist für Sommer ein Musterprozess, und selbstverständlich will er ihn gewinnen. Und durch dieses Gesetz hat er auch die Rechtsmittel.“
Richard schüttelte den Kopf. „Das ist also der Höhepunkt meines Lebens. Ich werde das Trittbrett für die Karriere eines ehrgeizigen Juristen, weil ich im zweiten Monat einen Embryo absorbiert habe. Die Alternativen sind Knast wegen Mord oder Irrenhaus. Na, danke...“
„Moment. Richard, sagten Sie "zweiter Monat"?“
„Ja“, erwiderte er verblüfft. „Wieso? Die Simulation geht eindeutig von einem Zeitpunkt in der fünften Schwangerschaftswoche aus. Ich dachte Sie wussten das?“
Die Augen der Juristin begannen zu leuchten. „Richard, ich hole Sie hier raus. Ohne Kratzer, ohne Schramme. Das verspreche ich Ihnen.“
Sie wandte sich zum Staatsanwalt um und sagte: „Sommer, der Deal ist geplatzt. Plädieren Sie ruhig weiter auf Mord.“
Die Miene des Mannes verfinsterte sich. „Wenn Sie darauf bestehen...“

„Also, wo waren wir?“, fragte die Richterin.
Amelie König erhob sich und sagte: „Es ist irrelevant, Euer Ehren. Ich beantrage, den Prozess wegen Verjährung einzustellen.“
Staatsanwalt Sommer sprang auf und rief: „Das können Sie nicht! Die Verjährungsfrist beträgt bei Mord fünfundzwanzig Jahre! Ihr Mandant ist aber erst vierundzwanzig! Die Anklage wurde vor zwei Monaten erhoben. Wie kann die Tat also verjährt sein?“
„Ja, das interessiert mich auch.“ Neugierig beugte sich die Richterin vor. „Bitte erläutern Sie.“
Die Anwältin trat vor und lächelte siegesgewiss. „Nun, es ist wahr, wir haben bei Mord eine Verjährungsfrist von fünfundzwanzig Jahren. Und mein Mandant feiert seinen fünfundzwanzigsten Geburtstag erst nächste Woche. Aber was wir dabei außer Acht lassen ist die Schwangerschaft, die über neun Monate dauert. Die Straftat wurde Pränatal begangen, sieben Monate vor der Geburt. Damit ist sie bereits fünfundzwanzig Jahre UND sieben Monate her. Sie ist eindeutig verjährt.“
„Aber... Aber da war er doch noch gar nicht geboren. Sie können das Recht doch nicht so auslegen, wie Sie es wollen!“, stammelte der Staatsanwalt.
„Nun, Herr Sommer, ich bin geneigt, der Frau Anwältin zuzustimmen. Immerhin war Herr Medlig während der Tat auch noch nicht geboren.
Abgesehen davon hat mir dieser Prozess von vorne herein Magenschmerzen bereitet. Ich bin froh, dass es diesmal so glimpflich ablief. Die Anklage ist abgewiesen.“
Der Hammer der Richterin sauste herab und beendete mit einem Knall die ach so rosigen Aussichten des Staatsanwalts auf eine glänzende Karriere.
***
„Wir haben gewonnen!“, rief Richard erfreut. „Wir haben gewonnen!“
Traurig schüttelte Amelie König den Kopf. „Sie haben gewonnen, Richard. Ich habe verloren.“
„Das verstehe ich nicht.“
„Richard, Ihr Freispruch beruht auf einem Formfehler. Der Staatsanwalt hat nicht an die gesamte Zeit seit der Absorption gedacht.
Ich wollte Sie aber auf Rechtswege frei bekommen, um einen Präzedenzfall zu schaffen. Denn rein statistisch ist jeder siebzigste Alleingeborene wie Sie, Richard. Was passiert wohl wenn jemand entdeckt wird, der weit unter zwanzig ist? Können Sie sich vorstellen, was mit ihm passiert? Wofür er büßen wird, obwohl er nichts dafür kann?“
„Da soll noch mal einer sagen, Babys werden unschuldig geboren...“
Darauf schwiegen beide eine lange Zeit.
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