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Tomaso

Kurzbeschreibung
GeschichteAbenteuer / P12 / Gen
02.03.2009
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Tomaso

Nachdenklich betrat Tomaso das Theater.
Hier hatte er Erfolge gefeiert, wie selten zuvor ein Schauspieler seiner Gattung. Wie lange noch würde es gut gehen mit seinen Parodien? Sicher, das Publikum wollte ihn sehen. Lachen über ein Thema, das im realen Leben Angst und Schrecken verbreitete.
Immer hatte er sich aus der Politik rausgehalten. Seinen Humor soweit heruntergeschraubt, dass nie ein Skandal aus seinen Parodien entstanden war. Doch die neuen Machthaber sahen dies vielleicht anders, verstanden keinen Spaß, wenn es darum ging Militärs zu parodieren.
Er hatte sich bemüht, das Militär so genau wie möglich zu imitieren und gleichzeitig das Ganze so überspitzt darzustellen, dass niemand eine spezielle Person heraussehen konnte. Nicht zuletzt deswegen hatte er seine Bewunderer.
Deswegen war er auch bei den Militärs hoch angesehen gewesen. Aber jetzt? Der General, wie er seit einiger Zeit nur noch genannt wurde, ganz so als gäbe es keine anderen Generäle mehr um ihn herum, verstand seine Parodien sicher nicht. Für den Mann aus Texas galt nur eins: Seine Ehre als oberster Machthaber der Union. Als Galionsfigur einer Bewegung, die nur eines im Sinn hatte: Den Weltbrand. Welch ein Ausdruck! Dennoch nannte es der General erst kürzlich in einer Ansprache so. Deswegen wurden seine treuesten Anhänger auch Brandstifter genannt. Weltbrand? Die Maxime der verbrannten Erde.
Dieser Texaner war nicht der Erste in der Weltgeschichte, der dies versuchte und er wird bestimmt nicht der Letzte sein. Eine Welt schaffen nach seinen Vorstellungen. Wie absurd, wie arrogant, wie wahnsinnig. Wie konnte ein Mensch sich anmaßen, für Milliarden von Menschen das Schicksal zu formen. Nun, er war zwar nicht der Erste, der es versuchte, aber er war der Erste, der so eine ungeheuere Macht in seinen Händen vereinte. Die Macht, die Erde aus dem All zu fegen; die Macht, allen Menschen in diesem Sonnensystem seinen Willen aufzuzwingen. Macht, die kein Mensch alleine in seinen Händen halten dürfen sollte.

Wie gesagt, Tomaso war eigentlich nicht politisch veranlagt. Diskussionen über die Richtungen der Politik waren ihm seit jeher zu tiefst verhasst. Er fand es einfach langweilig darüber zu reden, was wer wo wie wann falsch gemacht hatte und wie jeder Gesprächsteilnehmer es viel besser gemacht hätte, wenn man ihn „Nur mal ran gelassen“ hätte.
Hier aber ging es nicht um Politik im ursprünglichen Sinne. Nicht die Art von Politik, die im Wirtshaus diskutiert wurde. Hier ging es um die Freiheit seines Berufes, seines Lebens. Viel zu lange war es einfach selbstverständlich. Ein verfassungsmäßiges Recht, so sehr in den Köpfen der Bürger der Union verankert, dass niemand mehr darüber nachzudenken brauchte. Niemand hatte es für möglich gehalten, dass eines Tages dieses Recht abhanden kommen könnte. Doch nun war der General an der Macht und seinen Beruf würde er sicher nicht mehr lange ausüben können. Zumindest nicht so, wie er ihn verstand. Und was sollte er dann tun?
Er konnte nichts anderes, wollte gar nichts anderes machen und wer würde ihm schon Arbeit geben? Selbst wenn er nicht eines Tages auf den schwarzen Listen der Brandstifter auftauchen würde, jeder hätte Angst vor den Konsequenzen. Nun, für einige Zeit könnten sie von dem Gehalt leben, das seine Frau mit nach Hause brachte. Hungern würde er wohl nicht. Zumindest nicht nach Essen. Aber Essen ist nicht alles im Leben.

„Tomaso! Gut, dass ich dich treffe! Du sollst gleich mal zum Direktor kommen.“ Charles Phyllis´ Stimme klang ganz normal. Kein Alarmzeichen, keine Nervosität ließ auf irgendetwas schließen.
„Charles! Hey! Was will denn der Direktor?“ Tomaso hatte seine Stimme völlig unter Kontrolle.
„Glaubst du im Ernst, der erzählt mir Einzelheiten?“
Die Stimme seines Kollegen klang amüsiert und um die Augen bildeten sich seine berühmten Lachfalten. Charles war ein Mensch, der alles mit Humor nahm. Selbst wenn der Direktor ihn als Laufburschen benutzte. Gleichzeitig war Charles ein Mensch, dessen Freundschaft man suchte und wenn sie einem gewährt wurde, war sie unzerbrechlich. Tomaso hatte das Glück, Charles als seinen Freund zu bezeichnen. Hätte er etwas von Gefahr gerochen, hätte er Tomaso mit Sicherheit gewarnt. Vielleicht machte sich Tomaso ja einfach zu viele Gedanken. Schließlich musste ein Gespräch beim Direktor nicht gleich seine Entlassung bedeuten. Es könnte ja auch einfach um die gestrige Vorstellung gehen. Schließlich hatte das Publikum ungewöhnlich lang stehende Ovationen gegeben. Vielleicht, vielleicht auch nicht. Tomaso wurde nervös. Er konnte seine Gedanken nicht unter Kontrolle halten. Nach außen hin sagte er allerdings gelassen:
„Na, da werde ich ihn mal lieber nicht länger warten lassen.“

Damit ließ er Charles, dem er noch ein kurzes Nicken entgegenbrachte, stehen und ging in die zweite Etage des Theaters, in der sich die Direktions- und Verwaltungsräume befanden.
Vor der Tür des Vorzimmers blieb er kurz stehen. Atmete tief ein und bezwang seine Aufregung mit einem kurzen Ritual. Dieses Ritual hatte ihn schon von Lampenfieber befreit, als er noch ein ganz junger Schauspieler war. Einatmen, Luft anhalten und den Satz durch den Kopf gehen lassen:
„Ich bin Tomaso Rossi. Ich kann das. Und wenn mich mein Publikum nicht mag: Rosi mag mich!“
In dem er an seine Frau dachte, wichen alle anderen negativen Gedanken von ihm. Er atmete aus und war ruhig und zuversichtlich. So konnte er auf die Bühne gehen und so konnte er auch zum Direktor ins Büro.

„Guten Morgen, Silvia. Der Direktor wollte mich sprechen – hat man mir zumindest gesagt.“
„Tomaso! Ja, er erwartet dich bereits. Du kannst gleich durchgehen.“
Silvia schenkte ihm noch ein Lächeln. Dies allerdings schenkte sie jedem Besucher, daher war dies kein zuverlässiges positives Zeichen. Allerdings tat es gut.
„Danke!“, erwiderte er nur kurz und ging auf die Tür zu, die er vor über zwei Jahren das erste Mal durchschritten hatte. Damals war er auf der Suche nach einem neuen Arrangement. Damals hatte er auch Lampenfieber gehabt und auch damals hatte Silvia ein Lächeln für ihn auf ihr Gesicht gezaubert.
Er klopfte kurz an und nach einem einladenden „Herein!“, betrat er das Büro des Direktors.
„Ah! Signore Rossi! Schön, dass Sie da sind.“
Der Direktor hatte immer auf eine Distanziertheit bestanden und nie war es einem seiner Schauspieler in den Sinn gekommen, diese durchbrechen zu wollen.
„Sie wollten mich sprechen, Direktor?“
„Genau, bitte nehmen Sie doch Platz!“
Er zeigte nicht auf den Stuhl an seinem Schreibtisch, sondern auf die bequeme Sitzgruppe in der gegenüber liegenden Ecke seines überaus geräumigen Büros. Tomaso setzte sich. Hier durfte er bis jetzt nur einmal länger verweilen und dies war zum Anlass einer Gagenerhöhung. Sollte es sich am Ende gar um eine solche handeln? Sicher, die Erfolge, die er erbrachte, waren nicht schlecht. Ganz im Gegenteil. Doch in der gegenwärtigen Lage? Der Direktor hatte sich von seinem Schreibtischstuhl erhoben und sich ihm gegenüber in einen Sessel gezwängt.
„Signiore Rossi – Tomaso.“
Tomaso war mehr als erstaunt über diese Anrede. Noch nie war es ihm zu Ohren gekommen, dass der Direktor einen seiner Schauspieler mit Vornamen angeredet hatte.
„Sie sind jetzt seit...“ Der Direktor sah Tomaso fragend an und dieser antwortete ganz automatisch:
„Im März waren es zwei Jahre.“
„Zwei Jahre! Genau. Und es waren erfolgreiche Jahre. Für Sie ebenso, wie für das Theater. Die Zuschauerzahlen schnellen jedes Mal in die Höhe wenn es heißt: Tomaso Rossi spielt. Ein Direktor eines Theaters sieht das natürlich gerne. Und zu dem bewundere ich Sie sehr.“
Tomaso wollte etwas erwidern.
„Nein, unterbrechen Sie mich bitte nicht. Ich bewundere Sie, weil Sie es schaffen, sich über etwas lustig zu machen, ohne verletzend zu werden. Nicht umsonst hatten Sie immer wieder Zugang zu allen möglichen Militäreinrichtungen. Auch das Militär hat Ihre Arbeit bewundert. Leider muss ich jetzt dazusagen: hat! Sie wissen wie die neuen Machthaber sind und wie ernst sie das Militär nehmen. Schließlich ist unser neuer Staatenlenker ein General.“
Tomaso hatte also mit seiner ersten Vermutung Recht. Dies war ein Rausschmiss. Verwundert war er nur über die Art und Weise, wie der Direktor ihm das nahe brachte. Undurchsichtig war für ihn auch, was der Direktor wirklich davon hielt. Die Art des Gespräches ließ darauf schließen, dass der Direktor nicht damit übereinstimmte. Andererseits hatte er auch mit keinem Wort Kritik an den neuen Machthabern verlauten lassen. Eher hatte er die Situation als gegeben dargestellt und das andere war nur eine Konsequenz aus der neuen Gegebenheit.
„So Leid mir das auch persönlich tut, Tomaso, ich glaube, ich kann Sie in diesem Theater nicht länger beschäftigen. Wenn es Sie tröstet, ich kann gar keinen Schauspieler mehr beschäftigen, denn die Theater werden alle zum nächsten Ersten geschlossen.“
Tomaso war wie vom Donner gerührt. Nicht nur er sollte nicht mehr spielen dürfen, sondern niemand mehr?
„Direktor, das ist nicht Ihr Ernst?“
„Ich fürchte doch. Alle Schauspielhäuser, Opern, ja selbst die Kinos werden geschlossen. Das Volk soll sich nicht mehr unterhalten können. Das Fernsehen ist da viel einfacher zu kontrollieren.“
Dies war der erste Hinweis darauf, wie der Direktor zu dem Ganzen stand. Er hatte verstanden worum es den Machthabern ging: Kontrolle über alles, was der Bürger konsumierte. Kontrolle über das Gedankengut von Milliarden von Menschen.
„Allerdings muss ich Ihnen noch sagen, dass es völlig unmöglich sein wird, Sie noch bis zum Letzten des Monats weiter zu beschäftigen. Das müssen Sie einsehen, Tomaso. Die – III. Abteilung würde das Theater stürmen, das Ensemble festnehmen, oder gar schlimmeres.“ Ein kurzes Zögern, die genaue Wortwahl. Der Direktor hatte Angst. Angst abgehört und verhaftet zu werden.
„Ich verstehe!“, antwortete Tomaso mit einem ausdruckslosen Gesicht, welches einem Pokerspieler zu Ehren gereicht hätte.
„Ich nehme an, ich darf mich dann verabschieden?“
„Natürlich! Ich kann nur noch einmal wiederholen: Mir tut es unendlich Leid. Die Gage für diesen Monat wird Ihnen natürlich in voller Höhe gewährt. Das habe ich bereits veranlasst.“
„Dann habe ich wohl zu danken.“ Nun klang seine Stimme doch etwas bitter und der betroffene Gesichtsausdruck des Direktors ließ ihm fast so etwas wie Gewissensbisse entstehen, aber eben nur fast. Um wirklich auf das Gefühlsleben des Direktors zu achten, war er viel zu sehr mit seinem beschäftigt. Fast hätte er die ausgestreckte Hand des Direktors übersehen. Im letzten Augenblick ergriff er sie noch und drückte sie, wie es seine Angewohnheit war, mit einer genau abgestimmten Portion Kraft. Nicht zu locker und nicht zu fest.
„Leben Sie wohl, Tomaso.“
„Leben Sie wohl, Direktor.“
Mit steifem Gang und erhobenen Hauptes verließ er das Büro seines, jetzt ehemaligen, Arbeitgebers. Nickte kurz Silvia zu und verließ den zweiten Stock.

Im Erdgeschoss lief er ausgerechnet wieder Charles in die Arme.
„Hoppla. Nicht so stürmisch.“ Charles hatte ein Lächeln auf den Lippen.
„Scusi – entschuldige. Ich hatte dich gar nicht gesehen.“
„Du siehst aus, als würdest du einen Wolkenkratzer nicht sehen. Was ist passiert? Hat man dein Stück abgesetzt?“
„Nein, mich!“
„Dich? Du verkohlst mich doch. Das ist doch...“ Ein Blick in das Gesicht von Tomaso ließ ihn verstummen.
„Wegen deines Stücks?“
„Wegen meiner Person!“ In kurzen Worten erzählte er Charles von dem Gespräch im Büro des Direktors und seinen Befürchtungen, die er schon vorher hatte. Charles hörte aufmerksam zu. Eine Eigenschaft, die ihn so zum Freund prädestinierte, ebenso wie sein heiteres Gemüt und seine ruhige Art.
„Dann war es also vorauszusehen“, brachte er das Gehörte auf einen Punkt.
„Wenn du das so siehst – ja! Ich werde dann wohl mal nach Hause gehen und es schonend Rosi beibringen. Ach, geht ja nicht, die ist ja noch im Büro.“
„Stop! Wenn Rosi noch im Büro ist, wärst du ja ganz alleine zu Hause. Kommt gar nicht in Frage. Ich bin in zehn Minuten hier fertig. Dann habe ich zwei Stunden frei. Wir gehen zu mir und lassen uns ein Bier schmecken.“
„Um 10.00 Uhr?“
„Dann eben einen Kaffee, oder Tee oder sonst was.“
Tomaso sah ihn dankbar an. Das Alleinsein wäre jetzt bestimmt nicht gut. Er war froh, so einen Freund sein Eigen nennen zu dürfen.
„Gerne!“, sagte er nur mit einem etwas schiefen Lächeln, aber immerhin einem Lächeln.
„Gut! Setz dich da hin. Ich bin gleich fertig.“
Darauf hin drängelte er Tomaso zu einer Sitzgruppe im Foyer und war verschwunden.
Es dauerte nicht einmal zehn Minuten, da tauchte er auch schon wieder auf und forderte ihn mit einem Kopfnicken auf, ihm zu folgen.
Tomaso war schon das eine oder andere Mal in der gemütlich eingerichteten, kleinen Wohnung seines Freundes. Meist hatten sie sich ja irgendwo in einer Kneipe oder Restaurant getroffen. Nun war er aber froh darüber, nicht in einer Kneipenatmosphäre zu sein, sondern es sich auf dem Sofa des Freundes gemütlich zu machen.
„Also was nun? Kaffe? Tee? Wasser?“
„Ich glaube ich könnte jetzt einen guten Kaffee vertragen.“
„Kaffe plus?“
„Nein, nein. Nur Kaffee.“
„O.k.“
Und schon machte er sich in seiner Kochnische zu schaffen. Er hatte einen alten, fast schon als antik zu bezeichnenden, Kaffeeautomaten. So ein Gerät war fast nirgendwo mehr zu sehen. Aber im Gegenteil zu den modernen Kaffeebereitern war der Kaffee, den er aus diesem Gerät zauberte, ein Hochgenuss. Tomaso kannte das schon und freute sich auf einen „charlischen Kaffe“, wie er es nannte.
Kurze Zeit später stand der duftende, dampfende Lebenssaft vor ihnen und Charles stellte noch ein bisschen Gebäck dazu und fertig war die perfekte Kaffeetafel. Charles ließ sich in den Sessel fallen, den er schon immer als sein Lieblingssitzmöbel ansah und den auch niemand sonst benutzen durfte. Jeder hatte so seine Eigenarten und dies war die von Charles.
Charles trank einen Schluck Kaffee und nahm sich einen Keks. Tomaso machte es ihm nach und ließ sich auf dem Sofa nach hinten fallen. Er schloss die Augen und überlegte sich, was er von dem, jetzt unweigerlich folgenden, Gespräch zu erwarten hatte. Er wollte unter keinen Umständen das Mitleid seines Freundes. Wollte sich als stark erweisen, einer der die Situation so akzeptieren konnte, wie sie war. Umso überraschter war Tomaso, als Charles anfing zu reden.
„Was hältst du von unseren neuen Machthabern?“
Tomaso riss die Augen auf und flüsterte: „Bist du verrückt? Die Abhörwagen durchfahren die Gegend!“
„Und?“ Charles tat, als wäre dieses Argument nicht im Geringsten wichtig. Tomaso atmete tief ein und zweifelte am Verstand seines Freundes. Hatte dieser noch nie von den Verhaftungen seit der Machtübernahme gehört? Lebte er in einer Scheinwelt? Hatte er den Bezug zur Realität verloren? Tomaso musste hier unbedingt raus. Die Machthaber waren sowieso nicht gut auf ihn zu sprechen. So eine Unterhaltung, selbst wenn man alle Klippen umschiffen konnte, war, gelinde gesagt, gefährlich.
„Nein, ich habe nicht den Verstand verloren.“ Konnte er jetzt schon Gedanken lesen? War er am Ende ein Spitzel geworden und wollte ihn in die Falle locken? Unmöglich! Charles hätte er sein Leben anvertraut.
Charles sah ihn mit einem durchdringenden Blick an. Ein Blick, der auch als abschätzend interpretiert werden konnte. Er legte seine Stirn in Falten und schien plötzlich zu einem Ergebnis gekommen zu sein.
„Ich bin dein Freund und ich vertraue dir“, begann er schließlich. „Was ich dir jetzt sage, würde ich aber unter Umständen vor jedem abstreiten.“ Charles machte eine Pause, in der Tomaso erwiderte: „Vor wem würdest du was abstreiten? Was hat das alles zu bedeuten?“ Der verwirrte Blick von Tomaso rang Charles ein Lächeln ab. Seit dem er sich hingesetzt hatte, hatte er sein Dauerlächeln abgelegt und ein sehr ernstes Gesicht gemacht.
„Kann ich dir bedingungslos vertrauen?“
Tomaso nickte. „Du kennst mich doch!“
„Ja, ich kenne dich. Verzeih! Als erstes einmal: Du kannst hier ganz offen sprechen. Die Abhörwagen haben nicht die geringste Chance hier auch nur eine Silbe zu verstehen.“
Tomaso sah ihn nur zweifelnd an.
„Also, die Sache ist ganz einfach. Ich habe hier ein Gerät, das jedes Abhören unmöglich macht. Pass auf!“ Er hielt inne und reichte Tomaso einen kleinen Gegenstand, den dieser als Ohrhörer erkannte. Eines jener kleinen Wunderwerke moderner Technik, die sie auch im Theater benutzten.
„Steck es ein, dann hörst du, was unsere Überwacher hören.“
Tomaso folgte dieser Aufforderung und war nicht wenig erstaunt, als er sich und Charles über belanglose Dinge aus dem Theaterumfeld reden hörte. Dann stutzte er.
„Das ist ja das Gespräch von vor zwei Wochen.“ Sein Gesicht verfinsterte sich etwas, denn er war es nicht gewohnt, ohne sein Wissen aufgenommen zu werden.
„Ja!“, bestätigte sein Gegenüber kurz.
„Und ich muss wohl um Verzeihung bitten. Ich konnte dir aber schlecht sagen, dass ich das Gespräch mitschneide. Der erste Grund ist, dass selbst du nicht mehr natürlich wirkst, wenn man so ein Gespräch aufzeichnet und zweitens, hätte ich es dir gesagt, hätte die Gefahr bestanden, dass unsere Freunde das gehört hätten und dann wären wir in Erklärungsnot geraten. Wolltest du vielleicht den Brandstiftern erzählen, wozu es nötig ist, ein Privatgespräch aufzuzeichnen?“
Tomaso schüttelte den Kopf.
„So auf Anhieb fällt mir dafür kein Grund ein.“ Ein schiefes Lächeln trat auf sein Gesicht.
„Dennoch, ich verstehe das alles nicht. Was hat das alles zu bedeuten und was willst du abstreiten und vor wem?“
„Das kann ich nachvollziehen. Also werde ich mal ein bisschen ausholen. Als erstes solltest du wissen, ich gehöre zum Widerstand.“
Charles machte eine kurze Pause. Tomaso hatte sich vorgenommen, seinen Freund nicht mehr zu unterbrechen bis er das alles hier verstanden hatte. Deswegen nickte er nur zustimmend und abwartend. Verkniff sich aber jeglichen Kommentar.
„Der Widerstand baut sich langsam auf und kann immer gute Leute gebrauchen.“ Wenn dies eine Anspielung war, überhörte dies Tomaso ganz bewusst.
„Wir sind inzwischen etwa 300 Leute in Metropolis. Diese Zahl kann ich nur schätzen, denn ich kenne nicht alle. Niemand tut dies. Wäre viel zu gefährlich. Ich habe nur Kontaktleute, die wiederum Kontaktleute haben, die Jemanden kennen, der sie kontaktiert.“ Charles grinste nun. „Etwas kompliziert, aber die einzige Methode zu verhindern, dass, wenn einer geschnappt wird, er den ganzen Widerstand verraten könnte. Als sich abzeichnete, dass du nicht mehr lang auftreten würdest...“
„Wieso war dir das schon klar?“ Tomaso brach sein Schweigen. Der letzte Satz hatte ihn doch ein bisschen betroffen gemacht.
„Nun, das war doch offensichtlich. Dein Programm war, wie soll ich es sagen, nicht gerade regimefreundlich.“
„Einschränkungen. Damit habe ich gerechnet. Das Auftrittsverbot habe ich erst seit heute in Betracht gezogen. Und nun schließen sie gleich das ganze Theater. Das alles hattest du vorausgesehen?“
„Nicht alles, aber einiges. Mir war zumindest klar, dass dich das Regime nicht mehr lange dulden würde.“
„Aber wieso dann der Aufwand, uns aufzunehmen und woher hattest du die Utensilien?“
„Die Utensilien habe ich mir von einem meiner Kontakte besorgt. Und der Aufwand war nicht ganz so groß. Ich empfand es als nötig. Erstens können wir so ungestört reden und zweitens möchte ich dich dabei haben.“
Jetzt war die Katze aus dem Sack. Darum ging es also. Um Rekrutierung. Der Widerstand wollte ihn in seinen Reihen haben.
„Aber wieso? Ich bin nur ein Schauspieler. Ich kann nicht kämpfen. Waffen sind mir zuwider. Und du weißt, ich bin völlig unpolitisch.“
„Wieso, ist einfach geklärt: Wir brauchen jeden Mann. Nur Schauspieler? Ich will dich ja nicht loben, aber du bist einer der Besten.“
Charles hob die Hand, um Widerspruch im Keim zu ersticken.
„Ich weiß, du willst das nicht hören, aber es ist so. Aber gehen wir deine Punkte weiter durch. Kämpfen? Meist du wirklich, in einem offenen Kampf hätten wir auch nur die geringste Chance? 200 Widerständler gegen 20.000 bestens ausgerüstete Soldaten? Nein, Kampf ist eines der unwahrscheinlichsten Szenarien, die der Widerstand zu erwarten hat. Zumindest nicht in absehbarer Zeit. Also auch keine Waffen für dich. Wozu dann, fragst du dich jetzt? Ich weiß es nicht. Aber es kommt für jeden eine Gelegenheit. Vielleicht ist es ja auch nur, dass ich mal mit jemanden sprechen will.“
Er legte den Kopf schief und grinste Tomaso wie ein Lausbub an und zwar einer, wie aus dem Bilderbuch.
Tomaso konnte nicht anders, auch auf seinem Gesicht zeichnete sich ein Lächeln ab. Er war zwar immer noch verwirrt und ein bisschen durcheinander, aber das Grinsen war einfach ansteckend. Dennoch, man bekommt nicht jeden Tag gesagt, dass ein Freund ein Widerstandskämpfer ist.
Schließlich fuhr Charles fort. Jetzt wieder mit ernstem Gesicht:
„Unpolitisch zu sein, ist allerdings nur etwas für Friedenszeiten. Und du bist alles Mögliche, aber nicht unpolitisch. Was meinst du denn, was dein Programm für Auswirkungen hatte?“
Tomaso machte ein fragendes Gesicht. „Mein Programm...?“
„Dein Programm brachte mich dazu über so einiges nachzudenken. Trotz des eindeutig humorvollen Inhalts hat es mich nie darüber hinweggetäuscht, dass der wahre Kern des Militärs darin verborgen lag und ich nie eine Regierung ertragen will, die einen Militärhintergrund hat.“
„Aber...“, fing Tomaso an und verstummte gleich wieder.
„Tomaso, ich musste es einfach versuchen. Und ich würde mich freuen, wenn du dazugehören möchtest. Wenn nicht, wird unsere Freundschaft nicht leiden. Dennoch, überlege es dir. Du musst dich auch nicht sofort entscheiden. Lass dir Zeit und sage mir in den nächsten Tagen Bescheid.“
Er überlegte einen Moment. „Solltest du dich dafür entscheiden, rufe mich an und sage mir einfach, dass du dieses Buch ausgelesen hast“, damit drückte er ihm ein dünnes Buch in die Hand „und gerne noch eines leihen möchtest. Das heißt für mich dann, du möchtest. Wenn du anrufst und sagst, du wärst noch nicht fertig, bedeutet dies für mich, du hast kein Interesse.“
Tomaso betrachtete das Buch nachdenklich. Der Autor sagte ihm nichts und das Thema, soweit er es auf dem Einband lesen konnte, war nicht ganz sein Fall. Er sah Charles nachdenklich an und sagte todernst: „Haste kein besseres Buch?“
Charles hob irritiert die Augenbrauen hoch und bemerkte dann, dass Tomaso grinste. In das Spiel einstimmend sagte er:
„Such dir eines aus!“, und wies auf ein gut gefülltes Bücherregal.
„Ich denke, ich schau wirklich mal durch. Ich habe ja jetzt Zeit.“ Tomaso erhob sich und schritt zum Bücherregal.

Zwei Tage später klingelte das Visiophon. Der Bildschirm wurde hell und Charles erkannte Tomaso am anderen Ende.
„Hallo Charles, tut mir Leid, aber ich habe das Buch schon aus und würde mir gerne ein Neues bei dir holen. Würde das gehen?“
„Wann willst du denn kommen? Wegen mir jetzt gleich. Ich habe Zeit.“
„Hey, das ist ja super! Ich mache mich dann gleich auf den Weg. Bin also in etwa zwanzig Minuten bei dir.“
„Gut! Bis gleich denn.“
„Ja, bis gleich.“
Der Bildschirm wurde dunkel. Charles schaltete ab und schüttelte den Kopf. Er hatte es gehofft, aber er hatte auch eine Ablehnung einkalkuliert. Zwanzig Minuten zum Vorbereiten. Das reichte allemal. Er begann seine Gerätschaften zusammenzusuchen und bereitete alles vor.

„Die Geschichte war wirklich faszinierend. Hast du von diesem Autor noch mehr Bücher?“
„Habe ich und du kannst gerne noch eines oder auch mehrere mitnehmen. Wir sind aber auch wieder abhörsicher. Du kannst also ganz offen reden.“
Charles zwinkerte Tomaso zu. Dieser atmete tief ein.
„Gut! Dennoch, das Buch fand ich wirklich gut.“ Tomaso wirkte angespannt und sichtlich um Worte verlegen. Schließlich war der Schritt, den er gehen wollte, etwas ganz Neues in seinem Leben.
„Ich habe es mir nicht leicht gemacht“, begann er dann. „Sympathisiert habe ich schon seit unserem Gespräch, aber selbst dazugehören? Das erschien mir nicht mein Weg zu sein – bis gestern!“
„Was war gestern?“, wollte Charles wissen, obwohl er schon seine Vermutung dazu hatte. Das Leben in dieser Stadt war seit einiger Zeit nicht mehr der lebensfrohe, ausgelassene Zustand, der er früher mal war. Nein, die Stadt hatte sich verändert. Die einen waren voll Zuversicht, nämlich jene die der Reinigenden Flamme nahe standen, die anderen waren erfüllt von Angst. Und das waren die meisten. Nur wer ein ganz dickes Fell hatte, konnte diesen Zustand ignorieren. Dazu gehörte Tomaso sicher nicht. Er war immer sensibel gewesen. Dies musste er ja in seinem Beruf auch sein, sonst hätte er sich nicht in seine Rollen einfinden können.
„Gestern wurden John und Melissa von nebenan verhaftet.“
„John und Melissa? Wieso?“
Nun war Charles doch ein bisschen erstaunt.
„So genau habe ich das nicht mitbekommen. Sie sind gekommen, haben die Tür eingetreten und die beiden, wie sie waren, weggezerrt. Ich wollte es gar nicht glauben. In ihrem Alter stecken die das mit Sicherheit nicht einfach weg. Ich glaube John hat seinen Mund mal wieder nicht halten können und wähnte sich sicher in seinen eigenen vier Wänden. Die unterscheiden nicht zwischen so-daher-reden und wirklicher Opposition. John ist 84! In dem Alter nimmt man kein Blatt vor den Mund. Er hat auch immer über Hirschmann und Bellini hergezogen. So ist er nun mal! Aber die Reinigende Flamme macht da keinen Unterschied.“

Er seufzte. In dieser Nacht  hatte er kaum geschlafen. Immer wieder hatte er an die zwei denken müssen. Nicht einmal mit Rosi konnte er darüber reden, immer bestand die Gefahr, dass die Abhörwagen alles mitbekommen würden. Das war nicht mehr das lebenswerte Leben. Nicht mehr die gewohnte Freiheit. Die ganze Stadt war wie unter einem bösen Zauber gefangen. Nun wo er Gespräche mit Rosi am meisten gebraucht hätte, konnte er nicht offen mit ihr reden. Irgendwann in der Nacht machte es klick in ihm. Er war zu dem Entschluss gekommen.
„Ich trete bei. Ich kann und will dieses Regime bekämpfen, soweit es in meiner Macht steht und ich dazu fähig bin. Wo muss ich unterschreiben?“
„Dein Wort genügt! Es gibt keine Unterschriften – wie du dir ja sicher denken kannst. Sowenig wie möglich Spuren hinterlassen. Ich freue mich. Es tut gut, einen Freund um sich zu haben, nicht immer nur Verbündete.“
In diesem Moment schlug das Visiophon an. Charles nahm einen der Ohrhörer und lauschte einen Moment.
„Schnell, wir müssen in das aufgezeichnete Gespräch einstimmen. Mit einem Anruf in der Leitung funktioniert der Schutz nicht.“
Mit leicht zitternden Händen reichte er Tomaso einen zweiten Ohrhörer. Dieser verstand sofort und lauschte ebenfalls dem aufgezeichneten Gespräch. Derweil regte sich das Visiophon noch einmal. Tomaso hatte dem Gespräch gefolgt und war sich sicher, seinen Einsatz hinzubekommen. Er zeigte Charles den abgespreizten Daumen. Alles ok. Dieser hantierte an einem Gerät und sagte:
„Achtung! Jetzt...!“ Damit schaltete er das Gerät aus.
„... du hast Recht, das Stück hat so seine Höhen und Tiefen. Willst du nicht an das Viso gehen?“ Tomaso hatte den Übergang ohne Schwierigkeiten hin bekommen.
„Ja, natürlich. Hatte es gar nicht wahrgenommen. Ich hatte es leise gestellt, um ungestört schlafen zu können und dann wohl vergessen...“
Er schaltete das Gerät an und auf dem Bildschirm erschien ein Mann Mitte dreißig mit einem offenen Gesicht, welches verriet, dass er viel und gerne lachte. Die Fältchen um die Augen waren so ausgeprägt, dass man vermuten konnte, dass das Lachen zu seiner Person gehörte, wie der Bart zum Weihnachtsmann.
„Hallo Charles.“
„Hallo Mike“, erwiderte der Angesprochene erfreut. Anscheinend war es ein erfreulicher Anruf. Tomaso entspannte sich ein bisschen und hörte dem Gespräch aufmerksam zu.
„Charles, wie sieht es aus? Wir wollen heute Abend eine kleine Pokerrunde abhalten. Interesse?“
„Sicher! Du weißt doch, da bin ich immer dabei. Vor allem, weil du so ein lausiger Spieler bist. Bei deinem Grinsen kann man immer ablesen welches Blatt du hast.“
„Ha! Ich grinse auch, wenn ich nichts habe!“ Nun bemerkte der Anrufer, dass Charles nicht alleine war.
„Hallo! Das trifft sich gut. Noch ein Spieler?“
„Das ist Tomaso Rossi“, erklärte Charles.
Das Gesicht des Anrufers verlor für einen Augenblick das Grinsen und er machte ein nachdenkliches Gesicht.
„Ah, ja. Charles hat mir von Ihnen erzählt. Sie sind der Bücherwurm, stimmt´s? Hat Ihnen das Buch gefallen, oder sind Sie noch nicht fertig?“
„Ich hoffe, Charles hat keine schlimmen Geschichten über mich erzählt. Und, ja, ich habe das Buch fertig und war restlos begeistert. Bin gerade hier, um mir ein Neues zu holen.“
„Na, bevor Sie damit anfangen, sollten Sie unbedingt ein kleines Spielchen mit uns wagen. Keine Angst, wir spielen nicht um Geld, nur um die Ehre.“
Charles nickte Tomaso unauffällig zu.
„Ja, ich denke das lässt sich einrichten, aber ich muss Sie warnen: Ich bin recht gut im Spiel.“
„Umso besser, da ist Charles vielleicht nicht der Einzige, der gewinnt. Also abgemacht. Wir treffen uns um sieben bei mir. Das wird mit Sicherheit ein lustiger Abend. Bis dann.“
„Bis dann“, sagten Charles und Tomaso gleichzeitig und dann wurde der Bildschirm auch schon dunkel.
„Am besten, du bist dann so gegen halb sieben bei mir, dann können wir gemeinsam hingehen.“ Charles machte noch immer ein etwas besorgtes Gesicht. Anscheinend wusste er nicht so genau, was er davon halten sollte. Da das Gerät abgeschaltet war und sie nicht wagen konnten offen zu reden, enthielt sich Tomaso jeglichen Kommentars.
„Ja, das machen wir. Ich bin um halb sieben bei dir und nun mache ich mich wieder auf den Weg.“
„Ok. War schön, dass du vorbei geschaut hast. Bis heute Abend dann.“
„Bis heute Abend.“
Charles hatte Tomaso zur Tür begleitet. Nachdenklich verließ er die Wohnung und machte sich auf den Weg nach Hause.

„Ah, da seid ihr ja“, begrüßte sie der Mann, den er als Mike kennen gelernt hatte. „Schön, nur herein in die gute Stube.“ Damit gab er die Tür frei und sie betraten eine stilvolle, gleichzeitig aber sehr praktisch eingerichtete Wohnung. Tomaso schaute sich neugierig um und sein Blick blieb am Bücherregal hängen, das den geräumigen Flur dominierte.
„Ah, ja, unser Bücherwurm. Schauen Sie sich meine gesammelten Werke nur an.“
Dabei drückte er Tomaso einen Zettel in die Hand, welcher mit einer gleichmäßigen, engen Handschrift vollgeschrieben war. Tomaso, im Lesen geübt und darin erprobt, schnell Inhalte aufzunehmen, sog den Text in sich auf:
Charles vertraut Ihnen und wir vertrauen Charles. Bitte sagen Sie im Moment nichts Verfängliches. Unsere Antiabhöranlage können wir erst später zuschalten. Achten Sie auf das Stichwort „Schweigsam“ und lesen Sie dann diesen Text: „Beim Spielen mache ich lieber weniger Worte und dafür mehr Gewinn.“ Danach werde ich das Gerät einschalten und es wird nicht auffallen, dass ein Mitspieler stumm bleibt.

Tomaso nickte als Zeichen, dass er verstanden hatte und wandte sich voll Interesse dem Bücherregal zu. Dies brauchte er nicht zu spielen, denn Büchern gehörte seine große Leidenschaft. Und dieses Bücherregal war faszinierend. Es umfasste nicht nur Sachbücher und Beschreibungen fast jeden Teils der Erde, es war auch mit Belletristik gefüllt, die jeden Sammler vor Neid erblassen lassen würde. Wohl sortiert standen da die Werke von Nobelpreisträgern nebeneinander. Dann gab es klassische und moderne Dichtkunst und, was ihn am meisten in den Bann zog, eine Sammlung SF-Literatur aus drei Jahrhunderten. Von Jules Verne, über Asimov, Heinlein, Scott, bis hin zu den modernen Werken von Fred Schuster.
Es entlockte ihm ein Schnauben.
„Sind das tatsächlich alle Werke von Heinlein? Ich wusste gar nicht, dass alle ins Metro übertragen worden sind.“
„Stimmt, es sind alle. Ein kleiner Verlag hatte es sich zur Aufgabe gemacht, diese Werke in Metro neu entstehen zu lassen. Allerdings ist dies hier mein besonderer Liebling.“
Damit förderte er ein Buch zu Tage, das Tomaso die Augen aus dem Kopf zu fallen drohten. Die Originalausgabe von „The Rolling Stones“ aus dem Jahr 1952 in englischer Sprache gedruckt. Vorsichtig blätterte Tomaso in dem Buch. Er verstand ein bisschen Englisch, aber bei weitem nicht so viel, um ein Buch in dieser Sprache zu lesen.
„Unfassbar. Das Buch ist ja unbezahlbar!“
„Das trifft sich gut, denn es ist auch unverkäuflich und so Leid mir das tut, auch nicht zu verleihen.“
„Das hätte ich mich sowieso nicht getraut“, erwiderte Tomaso tonlos und gab das Buch vorsichtig zurück.
Die Türklingel ging und Mike ging an die Gegensprechanlage. Der kleine Bildschirm flammte auf und dort erschien ein junger Mann, den Tomaso nicht kannte.
„Hallo Günter. Komm hoch.“
„Will ich ja, sobald du die Tür öffnest.“
Wenige Minuten später betrat der, mit Günter bezeichnete, junge Mann die Wohnung. Nach einer kurzen Begrüßung und Vorstellung:
„Dies ist Günter Holthaus – unser Vierter im Bunde“,
geleitete Mike seine Gäste in einen kleinen Raum, in dem sich nur ein Tisch, vier Stühle und ein kleines Sideboard befanden. Auf dem Tisch befanden sich neben den Karten und den Chips, vier Gläser und eine kleine Auswahl nicht alkoholischer Getränke. Mike machte eine einladende Geste.
„Bitte Platz zu nehmen. Sorry, aber Alkohol habe ich keinen im Haus.“
Der letzte Teil war wohl nur für Tomaso bestimmt, da sich der Rest wohl schon länger zu kennen schien.
„Kein Problem, den brauche ich nicht unbedingt“, erwiderte er deswegen, ohne besondere Betonung. Es gab so manchen Grund, warum jemand keinen Alkohol im Haus hatte und es ging ihn im Grunde auch nichts an. Außerdem hatte er es ehrlich gemeint, wenn er sagte, er brauche nicht unbedingt Alkohol. Sicher, hin und wieder trank er mal ein Bier, aber in der Regel hielt er sich lieber bei nicht alkoholischen Getränken auf.
Alle suchten sich einen Platz. Mike schräg zum Fenster, die beiden anderen links und rechts von ihm, so dass für Tomaso der Platz zur Tür hin übrig blieb.
„Nun Mr. Rossi...“
“Bitte, wir können doch nicht Poker spielen und beim förmlichen „Sie“ bleiben. Ich bin Tomaso.“
„Also, Tomaso, ich bin Mike.“
„Und ich Günter“, schloss sich der Neue an.
„So, wo war ich stehen geblieben? Ach ja! Tomaso, was möchtest du trinken?“
„Wasser, bitte.“
Mike füllte ein Glas mit Wasser und reichte es ihm. Charles nahm eine Limonade und Günter ebenfalls ein Wasser. Nachdem jeder sein Glas vor sich stehen hatte, grinste Mike und verkündete:
„Tomaso, die anderen kennen das schon: Ich teile nur das erste Glas aus und gehe davon aus, dass das Zweite selbst genommen wird. Das ist einfacher, zumindest für mich.“
Das gewinnende Lächeln, das er dabei zu Tage förderte, ließ Tomaso keine andere Wahl. Er musste lachen.
„Kein Problem. Wenn es zuviel wird, musst du mir die Flaschen einfach wegnehmen.“
Darauf hin lachten alle.
„Wir spielen Texas in der klassischen Variante. Jeder bekommt hundert Chips. Geboten werden darf nur bis zum Höchstbetrag des Mitspielers, der am wenigsten Chips hat. Alles klar?“
„Alles klar“, bestätigte Tomaso.
„Gut! Dann fangen wir an.“
Charles mischte die Karten und teilte aus. Tomaso hob seine zwei Karten auf und war erfreut über ein Pärchen Buben. Auf seinem Gesicht allerdings, war keine Regung zu sehen. Wie es seine Rolle verlangte, sagte er auch kein Wort während des Spieles. Stumm machte er seine Einsätze oder stieg aus, indem er einfach die Karten auf den Tisch legte. Die anderen unterhielten sich über belanglose Dinge und ließen Kommentare zu den einzelnen Spielzügen verlauten. Schließlich bemerkte Mike: „Du bist sehr schweigsam, Tomaso.“
Das war das Stichwort. „Ich spiele immer lieber still. Das hilft mir, mich zu konzentrieren.“
„Auch eine Möglichkeit“, erwiderte Charles und Mike bediente ein kleines Gerät.
„So, wir können jetzt offen reden.“ Tomaso atmete erleichtert aus.
„Das war nicht gerade eine einfache Rolle. Ich hätte ja zu manchem Spielzug was zu sagen gehabt.“
„Es war optimal. Jetzt können sich die lieben Zuhörer einen Reim darauf machen, warum hier nur drei Leute reden, wo doch vier erschienen sind.“
Mike sah in die Runde. „Es hat sich was ergeben. Wir müssen umgehend einen Plan schmieden. Mein Kontaktmann hat mir folgende Aufgabe übertragen. Deswegen war es ein sehr glücklicher Zufall, dass du, Tomaso, heute dabei bist. Wir brauchen nämlich dringend dein Talent. Und auch dich, Günter, werden wir brauchen. Und zwar schon am 28. 5. früh morgens.“
„Das ist ja schon übermorgen!“ Charles war entsetzt und auch Tomaso war es nicht wohl in seiner Haut, aber er hatte sich entschieden mitzumachen, also stand er auch zu seinem Wort.
„Ja, es ist knapp. Aber man hat mir mitgeteilt, dass es unbedingt nötig ist. Ein ganzes Unternehmen hängt davon ab, am 28. morgens den Sektor 24 von allen Militärs zu befreien. Ich stelle mir das so vor...“
Ein Plan wurde geschmiedet, der später als Teil des Unternehmens „Delfin“ in die Geschichte eingehen sollte. Tomaso und Günter waren daran unmittelbar beteiligt. Charles wurde nicht benötigt. Mike auch nicht, aber er hatte noch einen Auftritt. Kurz, aber wichtig für das Unternehmen.

Um vier Uhr in der Frühe wachte Mike auf. Es war der 28.05.2070. Er wusste nicht, warum er auf einmal wach wurde. Aber das Bewusstsein, dass heute eine Unternehmung starten sollte, die den General in seine Schranken wies, ließ ihn nicht wieder einschlafen. Er ging ins Bad und anschließend wieder in sein Schlafzimmer, um sich anzuziehen. Vor seinem Fenster befand sich der kleine Balkon, den er so liebte. Nur wenige Wohnungen hatten solch einen Luxus. Da hörte er sie kommen. Die Brandstifter waren nie wirklich von der leisen Sorte gewesen.
„Zum Glück“ dachte Mike.
Währen sie lautlos eingedrungen, wäre er nicht gewarnt gewesen. Hätte er länger geschlafen, wäre keine Zeit geblieben zu reagieren. Unter keinen Umständen durfte er in die Hände der Brandstifter fallen. Die hatten noch jeden zum Reden gebracht. Und Tomaso brauchte noch zwei Stunden. „Das Unternehmen darf nicht scheitern“, mit diesem Gedanken öffnete er die Balkontür, kletterte auf die Brüstung, rief „Nieder mit dem General“ und ließ sich fallen. Er hörte noch einen Fluch und schon kam der Boden auf ihn zu. „Mach es gut, Tomaso“, dachte er noch zweideutig und dann schlug er auf.
 
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