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Nur für das Leben lohnt es sich zu sterben

Kurzbeschreibung
GeschichteAbenteuer / P12 / Gen
Iris Monier
02.03.2009
02.03.2009
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Nur für das Leben lohnt es sich zu sterben


„Bist du verrückt? Das ist doch der helle Wahnsinn!“
Joseph sah Iris an wie eine Fremde.
„Nein, ist es nicht!“
Im Gegensatz zu Joseph war Iris völlig ruhig und sachlich. Sie hatte sich das Ganze gut überlegt und war zu dem Schluss gekommen, dass dies der beste Plan sei, um die Reinigende Flamme unter Colonel Larriand, wenn schon nicht zu stürzen, so doch zumindest empfindlich zu treffen.
„Aber die Ozonerien zu sabotieren, heißt unzählige Menschen in Gefahr zu bringen. Das bin ich nicht bereit zu verantworten. Ich kämpfe gegen die RF, nicht gegen die Bevölkerung der Venus!“
Von seinem Standpunkt aus hatte Joseph Recht. Iris aber hatte auch das bedacht und erläuterte ihren Standpunkt und ihren Plan noch einmal.
„Joseph! Ich bin mir bewusst, dass ein gewisses Risiko besteht. Ich will ja auch nicht, dass Zivilisten verletzt werden.“ Wie das klang! Vor noch gar nicht allzu langer Zeit war sie selbst Zivilist gewesen. Bevor sie auf Interplanar XII inhaftiert wurde, dort an einem Aufstand mitwirkte, erneut verhaftet wurde und schließlich auf der Venus landete. Dort hatte Joseph sie befreit. Seit dem war sie in seiner Widerstandsgruppe und nach kurzer Zeit hatte sie sogar die Führung übernommen. Wenn sie jetzt von Zivilisten sprach, waren dies die, die nicht offen gegen das Regime der RF kämpfen wollten oder konnten. Bestimmt gab es viele, die nur keine Gelegenheit hatten Widerstand zu leisten. Doch um genau diese ging es doch bei dieser Aktion. Iris hatte schnell mitbekommen, wie das Leben auf der Venus aussah. Die blanke Angst regierte. Keiner traute sich ein offenes Wort auszusprechen. Das Überwachungsnetz war beinahe lückenlos und jedes falsche Wort führte zur Verhaftung und nicht selten zum Tod. Entweder direkt im Gefängnis, oder aber in einem der Versuchslabors der RF.
„Wie viele Soldaten sind hier auf der Venus stationiert?“
Joseph erkannte den Zusammenhang nicht. Zu plötzlich hatte Iris scheinbar das Thema gewechselt. Dennoch kam die Antwort wie aus der Pistole geschossen. Das Militär auf der Venus war schließlich sein Fachgebiet.
„Rund 50.000 Mann.“
„Wie viele sind davon bei der Raumflotte?“
„Alles in allem ca. 15.000.“
„Von den Restlichen 35.000: Wie viele sind Offiziere?“
„Wie überall etwa 8 %, also 2.800.“
„Bleiben also 32.200. Wie viele davon sind in der Verwaltung tätig?“
„Rein in der Verwaltung? Etwa 2.000 bis 2.500.“
„Nehmen wir 2.200 an, dann sind wir wieder auf einer geraden Zahl. 30.000! Wie viele davon sind Spezialisten, oder einfacher, was bleibt an Fußvolk übrig?“
„Spezialisten weg. Das sind dann ca. 25.000.“
„25.000 Mann! Einerseits viel, andererseits ganz schön wenig. Wie viele bewachen davon die Ozonerien?“
„Wir haben 38 Ozonerien, jeweils von einer Hundertschaft bewacht. Nach Adam Riese also 3.800 Mann.“
„Was würde geschehen, wenn die Ozonerien als besonders gefährdet eingestuft würden?“
Langsam konnte Joseph den Gedankengängen von Iris folgen. Er fühlte sich in die Enge getrieben und antwortete mit zusammengebissenen Zähnen:
„Die Wachmannschaften würden mindestens verdoppelt werden.“
„Im Klartext: Mindestens weitere 3.800 Mann würden davon abgezogen werden Hausdurchsuchungen durchzuführen, Abhörwagen zu bedienen und ganz einfach Terror auszuüben. Hast du einen besseren Plan, wie wir 3.800 Soldaten anderweitig beschäftigen könnten?“
„Nein, habe ich nicht“, gab er zu. Dennoch musste er noch einmal Widerspruch anmelden. „Aber die Ozonerien zu zerstören und sei es nur eine, bringt Millionen von Menschen in Gefahr!“
„Ich will sie nicht zerstören! Ich will sie nur ein bisschen sabotieren. Genug um die Aufmerksamkeit Colonel Larriands zu erregen, aber keinesfalls soviel, dass Menschen in ernsthafte Gefahr geraten. – Zerstören? Wofür hältst du mich? Auch ich kämpfe gegen die RF, nicht gegen die Bewohner dieses Planeten. Ich will ihnen helfen und sie nicht umbringen!“
„Aber...“
„Jetzt gibt es kein „aber“ mehr!“, meldete sich Michael Stone zu Wort.
„Wenn ihr Zwei jetzt endlich fertig seid zu streiten, kann ich vielleicht ein bisschen zu dieser... Diskussion beitragen?“
„Und das wäre?“, warfen Iris und Joseph, wie aus einem Mund, ihm entgegen.
Die Aggressionen, die sich unter den beiden aufgestaut hatten, entluden sich nun scheinbar gegen Michael. Dieser allerdings blickte von einem zum anderen und sprach ruhig weiter.
„Eure Befürchtungen sind völlig unbegründet.“
„Ach?“, kam es da schwach von Joseph. Iris machte nur ein ratloses Gesicht, schwieg aber. Sie wollte dies erst einmal genauer erläutert haben.
„Ja! Wir haben 38 Ozonerien auf der Venus. Natürlich sind es die schwächsten Stellen der Venusverteidigung, aber die Erbauer haben natürlich auch weiter gedacht. Als diese errichtet wurden, war die Bedrohung durch die Republiken noch sehr stark. Man rechnete damals mit Sabotageakten von dieser Seite. Dies ist der eine Punkt, der andere ist einfach, dass gelegentlich mal eine wegen Reparaturen ausgeschaltet werden muss. Dies darf ja auch nicht zur Gefährdung der Bevölkerung führen. Dies alles hat die Erbauer dazu bewogen, alles doppelt zu bauen. 19 Ozonerien wären völlig ausreichend, die Venus mit all ihren Bewohnern mit Sauerstoff zu versorgen. Ja, selbst 15 würden zur Not noch ausreichen. Solange...“, er machte eine kurze Pause, „... solange diese nicht in Reihen ausgeschaltet werden. Will heißen, 18 Ozonerien nebeneinander auszuschalten, würde ernsthafte Probleme verursachen.“
Die beiden sahen abwechselnd sich selbst und dann Michael an. Hinter Iris’ Stirn arbeitete es fieberhaft. So gesehen war der Anschlag auf eine Ozonerie völlig sinn- und zwecklos. Es würde nichts bewirken und Colonel Larriand nicht einmal ein Achselzucken entlocken.
„Was schlägst du vor?“
Michael sah sie abwartend an. Er hatte sich schon Gedanken um die Ozonerien gemacht und hatte da einige Ideen.
„Als Erstes müssen wir mehr aufbieten, als eine Hand voll Einzelkämpfer. Zweitens müssen wir mindestens fünf Ozonerien gleichzeitig angreifen, oder anderweitig sabotieren. Als Drittes müssen wir uns völlig einig sein, was zu tun ist. Keinen Streit mehr.“ Als Joseph widersprechen wollte, fügte er noch hinzu: „Diskussionen sind in Ordnung. Wir sollten alle Ideen hören. Aber keine persönlichen Angriffe mehr und wenn Iris sich entschieden hat etwas zu tun, müssen wir alle hinter ihr stehen!“
Damit war auch Joseph einverstanden.
„Das wird nicht einfach.“ Iris war der Verzweiflung nahe. Einen Angriff zu planen und durchzuführen war eines, einen generalstabsmäßigen Plan für den Angriff auf fünf Ozonerien etwas ganz anderes. Iris war von Natur aus eher ein spontaner Mensch. Langes planen und austüfteln lag ihr gar nicht, aber sie sah ein, dass dies an dieser Stelle unbedingt nötig war. Und sie sah ein, dass die Verwirklichung eines solchen Planes den Ideenreichtum einer Person bei weitem überschritt. Dies war kein kleiner Partisaneneinsatz mehr, das war eine große Operation.
„Also dann“, führte sie ihre Gedanken aus, „werden wir einen Planungsstab benötigen.“ Jetzt war sie wieder eher in ihrem Element. Leute einteilen konnte sie, das hatte sie ja auch auf Interplanar XII gekonnt.
„Waffenmeister, würde ich sagen, macht Joseph. Technik übernimmt Michael. Tobias…“, hier sprach sie den vierten Anwesenden an, der bis jetzt ruhig in seiner Ecke gesessen und genau beobachtetet hatte. Tobias war, schon solange Iris ihn kannte, eher der ruhige Typ gewesen. Allerdings war er ein genauer Beobachter und ein Denker wie er im Buch steht. Solch ein scharfer Verstand war nötig für:
„…Du solltest die Gruppe „Kontakte“ übernehmen. Nimm bitte mit den anderen Gruppen Kontakt auf und bitte sie um Mithilfe. Noch etwas?“
Diese Frage galt allen in der kleinen Widerstandszelle. Nacheinander kam ein „Nein“, oder ein Kopfschütteln.
„Also wir treffen uns morgen um 12.00 Uhr wieder hier und dann hätte ich gerne die ersten Vorschläge.“ Sie nickte noch einmal allen zu, während diese sich eilig auf den Weg machten.
Jetzt begann für Iris die schwierigste Phase des Unternehmens: Das Abwarten. Ohne konkrete Informationen konnte die Planung nicht voran gehen. Noch einmal sah sie sich den Plan der Towns an. Die Stellen mit den Ozonerien waren rot markiert und schlängelten sich um die Grenzen der bewohnten Gebiete herum. War es wirklich sinnvoll diesen Schritt zu wagen? Brachte sie nicht unnötig ihre Leute in Gefahr? Ihre Leute? Schon dies klang anmaßend. Ihre Kollegen? Ihre Mitstreiter? Sie wusste keinen passenden Begriff. Ihre Freunde traf es wohl am besten. Aber Freunde  in Gefahr zu bringen, widerstrebte ihr noch mehr, als ihre Leute. Ja, in kürzester Zeit waren es ihre Freunde geworden. Selbst Joseph, der immer ein Widerwort parat hatte, war ihr ans Herz gewachsen. Sie hatten alle nur ein Ziel: Die Herrschaft des Generals so schnell wie möglich zu beenden. Um zurückzukehren zur alten Union, zur Demokratie und Freiheit, oder ganz einfach zu ihren Familien. Ohne Angst zu leben. Die höheren Ziele, wie Demokratie und Freiheit, waren zwar vorhanden, aber die Sehnsucht nach den Familien und Freunden waren bestimmt stärker. Ihre Gedanken flogen zu Interplanar XII und zu diesem jungen Captain. Was wohl aus ihm geworden war? War er schon in Gefangenschaft geraten oder gar tot? Es war ein Wechselbad der Gefühle gewesen. Der Aufstand, die vielen Toten auf beiden Seiten, Karwik sterbend auf der Plattform und immer wieder Captain Monnier. Ein seltsamer Mann. Seine Narben immer zur Schau tragend, wie ein Markenzeichen. Ganz verstanden hatte sie nie das Verhältnis zwischen ihm und seinem Commander. Die beiden kamen ihr vor wie ein altes Ehepaar, schwankend zwischen Liebe und Vertrautheit auf der einen und Ablehnung, ja sogar Hass, auf der anderen Seite. Dann das unverständliche Verhalten gegenüber seinem Bordkameraden. Erst das unbeirrbare darauf hinarbeiten, ihn von einem Kriegsgericht zum Tode verurteilen zu lassen, dann die plötzliche Wendung und der Freispruch. Das Verfahren hatte sehr auf Iris gelastet. Dies war eine Pflicht gewesen, die sie nie wieder erfüllen wollte. Und dann die Wendung. Iris war so erleichtert gewesen. Spätestens an dieser Stelle hatte sie sich unsterblich verliebt. Sie sah die Augen dieses Mannes vor sich, seine Bewegungen und seine Art zu reden. Sie stellte sich vor, dass sie ihn an einem anderen Platz getroffen hätte und... Sie rief sich selbst zur Ordnung. Dafür hast du jetzt keine Zeit, Iris!
Sie brach alle Gedanken an diesen Mann ab und wandte sich wieder den Karten der Towns zu. In ihrem Kopf wählte sie die geeigneten Ziele aus. Schrieb sie verschlüsselt auf ein Blatt Papier und überlegte, wie am besten dort anzugreifen war. Schließlich fielen ihr die Augen immer wieder zu und sie musste aufhören. Musste sich ausruhen. Morgen musste sie fit sein, um alle Informationen zu vereinen und den endgültigen Plan zu entwerfen. Sie ging also ins Bett und schlief fast augenblicklich ein. Und sie träumte von einem Leben ohne den General. Aber mit einem Piloten an ihrer Seite, der auffällige Narben im Gesicht hatte und, verborgen unter einer rauen Schale, ein Herz aus Gold. In dessen Armen sie sich geborgen fühlte und an nichts zu denken brauchte, als, wie sie ihr Leben in Freiheit, an der Seite dieses Mannes, verbringen wollte.

Drei lange Tage trafen immer wieder neue Informationen ein. Diese mussten ausgewertet und in den großen Plan eingeflochten werden. Material wurde beschafft und an einem geheimen Ort gelagert. Leute ausgewählt, die an den unmittelbaren Aktionen mitwirken sollten und andere, die Ablenkungen starten sollten. Die dritte Gruppe sollte den Rückweg sichern. Es waren intensive Tage gewesen. Voll von Planungen und Erörterungen, voll von Sorgen und aufkeimender Vorfreude. Endlich sollte der Widerstand über sich hinauswachsen. Von Kleinstaktionen zu einem Unternehmen, das Aufmerksamkeit erregen würde. Von kleinen Nadelstichen zu einem Hornissenschwarm. Diese Stacheln würden wirklich wehtun. Diese Stacheln würden den Colonel in Verlegenheit bringen und den General vor Wut schäumen lassen. Schon die Befreiung Iris´ war eine Schlappe, die der Colonel nur ungern wegsteckte. Aber diese Aktion würde seine Stelle, wenn schon nicht ins Wanken bringen, so doch zumindest erheblich schwieriger werden lassen.

Iris war nervös, wie vor ihrer Diplomarbeit, aber sie war auch bereit. Bereit zu kämpfen. Gegen eine verrückt gewordene Welt, einen größenwahnsinnigen General und einen, sich selbst überschätzenden, Colonel. Bereit für ihre Sache zu sterben, wenn es sein musste. Gegen den Rat der anderen hatte sie beschlossen, selbst einen Angriff zu leiten. Die Ozonerien, die ausgesucht worden waren, hatten griechische Buchstaben bekommen und sie hatte sich für den vierten entschieden: Delta. Für einen Moment hatte sie ihr Grinsen nicht unterdrücken können und dachte bei sich: „Für dich, Captain Monnier!“ Doch der kurze Augenblick ging vorüber und sie konzentrierte sich wieder auf den bevorstehenden Angriff. Sieben Ozonerien waren ausgewählt worden. Jede an einem anderen Ende der Towns gelegen. Wichtig war die zeitliche Übereinstimmung der Angriffe und dies war nur ein Punkt gewesen, der zu berücksichtigen war. Zwei Angriffe würden über die ungeschützte Venus erfolgen, sodass Schutzanzüge nötig waren. Ein Angriff würde mit Lenkraketen erfolgen. Sie wollte lieber nicht wissen, wie Joseph da rangekommen war. Aber dies machte einen Angriff fast ungefährlich für die Angreifer. Leider hatten sie nicht genügend dieser Waffen, um sie für alle Ziele zu benutzen. Ein Angriff wurde dadurch ermöglicht, dass ein Mitglied einer anderen Gruppe einen Leitungsplan der Stromversorgung von Epsilon erbeutete, ohne dass dies aufgefallen war. So konnte diese Gruppe aus einiger Entfernung die Stromzufuhr kappen und so die Ozonerie binnen Sekunden lahm legen. Die Standardbewaffnung für alle Gruppen war ein leichtes Lasergewehr, das allerdings auf kurze Distanz verheerende Folgen hatte. Zusätzlich hatte jeder noch eine LP 30 Laserpistole. Für den Nahkampf besser geeignet, als die unhandlichen Gewehre. Alles war vorbereitet und die einzelnen Gruppen in Stellung gegangen. Dies war auch eine der Schwierigkeiten gewesen. Schließlich konnte eine Gruppe Bewaffneter nicht einfach an einer Straßenecke stehen und auf ihren Einsatz warten. Letztendlich wurden aber genügend Plätze gefunden, an denen sich die Gruppen verstecken konnten, bis es zu ihren Einsätzen kam.
Iris kauerte sich nieder. Das Warten zehrte an ihren Nerven. Alle paar Minuten sah sie auf ihre Uhr. Dann war es 19.55 Uhr und Iris konnte ihre Gruppe in Aufstellung bringen. Zehn Männer und Frauen gehörten zu ihrer Gruppe. Viele unbekannte, neue Gesichter. Nur zwei kannte sie schon vor diesem Einsatz und das auch nur flüchtig. Dennoch vertraute sie jedem einzelnen dieser Gruppe. Anders wäre es auch nicht möglich diese Aktion durchzuführen. Jeder hatte das Leben des anderen in der Hand und jeder musste darauf vertrauen, dass jeder den anderen schützen würde. Für Iris war dies nichts Neues. So war es auf der Station gewesen und so würde es auch hier sein. Sie lächelte jedem Einzelnen zu.
„Noch einmal: Rein, Sprengsatz anbringen, raus, zünden und weg. Ich sage es nur ungern, aber danach ist jeder auf sich allein gestellt. Es kann nur funktionieren, wenn wir danach getrennt untertauchen. Vielleicht wird der eine oder andere gefangen genommen, vielleicht wird der eine oder andere verletzt. Das darf uns nicht kümmern. Die Aktion hat vorrang. Die Aktion muss durchgeführt werden. Nur so können wir ein Zeichen setzen. Nur so können wir unserem Ziel näher kommen: Nie wieder ein „Heil der Flamme“ zu hören, nie wieder Freunde sehen, die wegen ihrer politischen Überzeugung verhaftet werden und nie wieder das Lied der III. Abteilung hören. Freiheit für die Union!“
Aus zehn Kehlen wurde ihr dieses „Freiheit für die Union“ zurückgegeben. Sie drehte sich um und ging Richtung Ausgang. Jeder wusste worauf es ankam. Nun war es Zeit, den großen Worten auch Taten folgen zu lassen. Vielleicht war dies ihr letzter Abend, dachte sie und wenn es so wäre: Es hätte sich gelohnt, dafür zu sterben. Der einzige Grund zu sterben, ist das Leben. Nicht die Freiheit, nicht die Demokratie, nicht einmal die Freunde und Familie. Auch nicht für die Liebe, aber für das Leben. Das Leben an sich, nicht nur das eigene – nur dafür lohnte es sich zu kämpfen und zu sterben. Die Truppe des Generals starb für ihn. Was für ein armseliger Grund! Fast taten ihr die Schwarzuniformierten leid. Mit dieser grimmigen Erkenntnis machte sie sich auf den Weg, wie sechs andere Gruppen es zum Teil schon taten oder ebenfalls jetzt losgingen. Die Uhr tickte unaufhörlich. Vor ihrem inneren Auge sprang der Zeiger weiter und weiter. Sie sah auf die Uhr. Der Zeitplan funktionierte noch. 20.10 Uhr. Noch fünf Minuten und der Kampf begann. Sie hatte das Gewehr einem Mitglied der Gruppe gegeben. Nur mit der kleinen Laserpistole in ihrer Tasche ging sie auf die Absperrung vor der Ozonerie, der sie den Namen Delta gegeben hatte, zu. Sie setzte ein unschuldiges Lächeln auf und tat so, als wäre sie erfreut, endlich auf diese Soldaten zu treffen.
„Gut, dass ich Sie treffe!“
Der Soldat sah sie fragend an und sein Kollege befürchtete wohl ebenfalls keine Gefahr. Das jugendliche Gesicht des von ihr Angesprochenen ließ sie erschaudern und lähmte sie fast. Dann dachte sie wieder an Karwik und schoss ihm ohne weiteres Wort in die Brust. Er riss die Augen auf. Ungläubig und fassungslos und dann sank er in sich zusammen. Sein Kollege erholte sich von dem Schock, aber zu langsam. Iris hatte sich zu ihm umgewandt und schoss erneut, noch bevor er überhaupt die Waffe ziehen konnte. Iris wurde es übel. Noch nie hatte sie aus dieser Nähe einen Menschen erschossen. Dass es nötig war, um ihr Ziel zu erreichen, tröstete sie nur wenig. Kämpfen für das Leben. Welch ein Paradoxon. Doch sie hatte keine Zeit, weiter über dieses Dilemma nachzudenken. Der Rest ihrer Gruppe kam über die Straße zu ihr und strömte schon durch das, nun unbewachte, Tor Richtung Eingang.
„Kommst du?“ Eine der Frauen aus ihrer Gruppe hatte sie leicht am Arm berührt. Als könne sie Gedanken lesen ergänzte sie noch:
„Auch dafür muss der General eines Tages bezahlen. Es ist nie leicht und es wird auch nie leichter werden. Solange du noch diese Gefühle in dir spürst, bist du noch weit davon entfernt eine Tötungsmaschine zu sein. Solange du noch Bedauern für deine Feinde verspürst, bist du noch ein Mensch.“
Damit nickte sie noch einmal und lief den anderen hinterher. Iris tat es ihr nach.

Die Ozonerie Delta war ein etwa hundert Meter hohes Gebäude. Doch für ihre Aktion waren nur die unteren fünf Meter relevant. Der obere Bereich war den komplizierten chemischen Reaktionen und den Magnetfeldern vorbehalten, die den erzeugten Sauerstoff aufluden und anschließend festhielten. Ansonsten würde der erzeugte Sauerstoff sich mit der Venusatmosphäre verbinden und wäre für die Menschen nicht mehr von Nutzen gewesen.
Im Gebäude selbst stießen sie nur auf geringen Widerstand. Es waren lediglich acht Soldaten und diese wurde sehr schnell entwaffnet. Nur einer wollte die Eindringlinge aufhalten. Sein Schuss traf ausgerechnet die Frau, die gerade noch mit Iris gesprochen hatte. Dies war die letzte Tat dieses Mannes gewesen. Gleich aus acht Lasergewehren getroffen, wurde er fast zur Unkenntlichkeit verbrannt. Nicht einmal der Name fiel Iris ein, als sie mit tränennassen Augen der Frau den letzten Dienst erwies und ihr die Augen zu drückte. Sie schluckte und rief den anderen zu:
„Wir müssen weiter!“
Wie in Trance ging Iris nun auf das Kontrollzentrum zu, scheuchte ein paar technische Angestellte aus dem Raum und brachte die mitgebrachten Sprengsätze an. Dergleichen taten die drei anderen Sprengmeister. Die verbliebenen sechs Widerständler hielten derweil die Gefangenen in Schach.
Dies war oft geprobt worden. Die Stellen, an denen die Sprengsätze angebracht werden mussten, waren genau geplant worden, so dass das Anbringen nach 2 Minuten und 17 Sekunden vollendet war.
„Und jetzt raus!“
Iris’ Stimme klang rau und heiser.
Im Empfangsbereich angekommen, gab es noch eine Verzögerung, als ein Mann ihrer Gruppe, Jens, die gefangengenommenen Schwarzuniformierten nicht das Gebäude verlassen lassen wollte.
„Nein!“ Iris Stimme hatte ihre alte Festigkeit wieder erlangt. „So läuft das nicht. Lasst die Hände gefesselt, aber, um Himmelswillen, lasst sie hier raus!“
„Aber sie haben Monika erschossen.“
Monika, stimmt, das war ihr Name.
„Der, der Monika erschossen hat, ist tot. Ich will nicht mit denen auf einer Stufe gesehen werden. Wir sind keine Mörder! Siehst du das ein?“
„Du hast wohl Recht. Aber Monika...“
„Ich weiß, aber Monika hätte dies bestimmt nicht gewollt!“
Dieses Argument gab wohl den Ausschlag.
„Nein, das hätte sie bestimmt nicht!“
„Gut! Und jetzt alles raus! In zwei Minuten steht hier wohl kein Stein mehr auf dem anderen. Auf!“
Die technischen Mitarbeiter sahen sie bittend an.
„Das gilt für alle, auch für Sie!“
Jetzt kam Bewegung in die Gruppe und sie eilten dem Ausgang entgegen. Die Soldaten, angetrieben von ihren Bewachern, folgten. Sie wirkten verstört und konnten dem Ganzen wohl keinen Sinn abgewinnen. Dennoch liefen sie. In Ungewissheit, ob sie die nächsten Minuten wohl noch erleben würden. Nicht alle hatten dem Wortgefecht zwischen Iris und Jens folgen können. Und die, die verstanden hatten, was die zwei besprochen hatten, wussten nicht was sie davon halten sollten, noch konnten sie sich die Reaktion ihrer Vorgesetzten ausmalen. Würden sie dafür vor einem Kriegsgericht landen? Würden sie ohne Urteil einfach erschossen werden? So etwas hatte es noch nie gegeben. Terroristen, die in eine Ozonerie eindrangen und die Wachmannschaft überwältigten und dann auch noch die Wachleute zumeist am Leben ließen. Einige aber kamen zu der Erkenntnis, auch wenn sie es nicht wagten dies laut auszusprechen, dass dies kein Terrorismus war, sondern Widerstand. Und bei dem einen oder anderen kamen Zweifel auf, ob das jetzige Regime so rechtens war, wie man es ihnen immer sagte.
Doch unterdes liefen sie. Mit gefesselten Händen, doch in der Lage sich in Sicherheit zu bringen. Einer nach dem anderen ließen sie die Bewacher alleine und verschwanden in alle Richtungen. Einige in enge Straßen, andere in den Untergrund der Metro. Wie auf Kommando ließen sie sich hinter einer Häuserfassade fallen und in diesem Moment war auch schon ein ohrenbetäubender Lärm zu hören. Die Angreifer hatten wohl nicht zu viel versprochen.

Während sich die Soldaten hinter der Fassade in Deckung brachten, bestieg Iris einen unauffälligen Kleinwagen und brauste in Richtung Innenstadt. Nach vier Straßenzügen wechselte sie das Fahrzeug. Möglichst schnell passierte dies noch dreimal, bis sie in der Tiefgarage eines unscheinbaren Wohnkomplexes ausstieg und von ihrem Fahrer in einen Aufzug gedrängt wurde. Diesen verließen sie im Erdgeschoss und über einen Hinterausgang wurde sie erneut in ein Auto gedrängt. Iris hatte keine Ahnung, wohin die Reise gehen würde. Auch dies war ein Plan der Gruppe „Flucht“. Sollte sie in Gefangenschaft geraten, würde sie das neue Versteck nicht verraten können, denn sie kannte es nicht. Nach einer Fahrt von 45 Minuten hielt das Fahrzeug vor einer verlassenen Industrieanlage. Durch ein Tor, welches nur noch in einer Angel hing, durch eine enorm schmutzige Halle, schließlich durch eine Tür, die sie beinahe übersehen hatte, in ein, sie konnte es kaum glauben, gemütlich eingerichtetes, tadellos sauberes Zimmer. Dieses war einfach eingerichtet, aber es beinhaltete alles, was ein Mensch brauchte.
„Tobias, wie hast du das in der Schnelle der Zeit auftreiben können?“
„Bin halt gut!“ Ein Grinsen huschte über sein Gesicht. „Das Beste ist aber das!“ Damit öffnete er eine weitere Tür, hinter der sich ein kleines Badezimmer verbarg.
Iris traten unwillkürlich Tränen in die Augen. Nicht wegen des Badezimmers, sondern weil nun die ganze Anspannung von ihr abfiel und sie an die Aktion dachte. Die beiden Soldaten, Monika, der Streit mit Jens. Und nun war sie hier, in Sicherheit. Sie wandte sich Tobias zu.
„Die anderen...?“
„Dazu ist es noch zu früh. Ich denke in ein, zwei Stunden werden wir Gewissheit haben.“
Iris’ Knie wurden weich und sie ließ sich auf den nächsten Sessel fallen. Tobias tat es ihr nach und das Warten begann.

Vier Stunden später war es Gewissheit. Der Schlag war gelungen. Nur eine Ozonerie hatte es „überlebt“. Der Plan der Stromzufuhr war wohl nicht mehr auf dem neuesten Stand gewesen. Alle Mitglieder dieser Gruppe waren ums Leben gekommen, als dann unerwartet eine Patrouille auftauchte. Ein Mitglied aus einer anderen Gruppe hatte es mit angesehen. Acht Leute wurden verhaftet und fünf auf der Flucht erschossen. Es war vorauszusehen gewesen, dennoch traf es Iris hart und überschattete den Erfolg.
Nachdem die letzte Nachricht eingetroffen war, sah Tobias Iris an und strahlte vor Freude.
“Glückwunsch! Ich hätte es nicht für möglich gehalten.“
„Glückwunsch? Mir ist das Glück unbegreiflich. Die vielen Toten, die Gefangenen. Ich empfinde kein Glücksgefühl.“
„Natürlich ist es schlimm, aber bei weitem nicht so schlimm, wie es hätte sein können. Die Prognosen sahen viel schlimmer aus.“
„Prognosen?“ Iris sah Tobias zweifelnd in die Augen.
„Natürlich haben wir Prognosen aufgestellt. Unsere beste Annahme ging von drei erfolgreichen Anschlägen aus und von 45 Toten auf unserer Seite.“
„Die Beste?“ Iris konnte es nicht glauben. „Und die Schlimmste?“
Tobias sah an die Decke, damit sich ihre Blicke nicht trafen.
„Ein Treffer und der Totalausfall der Teilnehmer.“
Iris konnte es nicht fassen.
„Und so etwas sagst du mir jetzt? Dem hätte ich nie zugestimmt!“ Sie war außer sich.
„Das wusste ich! Es war der Grund, warum wir es dir nicht gesagt haben und weswegen wir nicht wollten, dass du mitmachst. Bevor du mich jetzt steinigst, wir haben darüber gesprochen und es für lohnend gehalten, wenigstens eine Ozonerie auszuschalten.“
„Wer ist „wir“?“
„Der Planungsstab. Wer sonst. Wir haben, das muss ich zugeben, etwas zu schwarz gesehen. Und wir wussten, dass du nie zustimmen würdest, so viele Menschen zu opfern. Deswegen haben wir die Schuld auf uns geladen. Iris, du bist die Seele dieser Menschen, aber du bist zu weich, zu sensibel. Dennoch brauchen wir dich, um die nächste Aktion zu planen.“
„Die nächste Aktion? Bist du verrückt? Wie soll ich jemals wieder so etwas tun, wie euch jemals wieder vertrauen? Das kann ich nicht. Das halte ich nicht aus. Ich will niemanden mehr umbringen und ich will niemanden mehr verlieren, der in meiner Nähe steht. Ich kann nicht!“
„Doch du kannst! Du weißt es, ich weiß es und die anderen wissen es auch. Schluss darf erst sein, wenn der General wieder hinter Schloss und Riegel ist. Wir vertrauen auf dich!“
Iris sah ihn an. Schluss ist dann, wenn ich den jungen Captain in meinen Armen halte. Aber bis dahin gibt es wohl noch einiges zu tun. Sie holte tief Luft und seufzte.
„Vielleicht hast du Recht...“
 
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