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Mark Brandis Junior: Der Beginn

Kurzbeschreibung
GeschichteAbenteuer / P12 / Gen
Mark Brandis Mark Brandis Junior Ruth O´Hara
02.03.2009
20.09.2011
36
132.541
 
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02.03.2009 4.576
 
Rückkehr von der Venus 14.07.2102

Du kehrst heim aus dem Glanz fremder, ferner Welten und erblickst mit einem Mal einen blauen Diamanten auf samtschwarzem Hintergrund. Die Erde! Ursprung allen, uns bekannten, Lebens. Wurzel der Menschheit. Wiege einer Zivilisation wie sie nie vorher existiert hat. Heimat. Zu Hause. Was treibt den Menschen hinaus in die unendliche, kalte Weite eines lebensfeindlichen Universums? Neugier? Ja, das muss es wohl sein. Neugier und ...
... mir ging das Wort Abenteuerlust durch den Kopf. Und das brachte mich zu zwei Erkenntnissen: 1. Ich denke schon wie der Commander und 2. Würde er das Wort Abenteuerlust hören, würden bei ihm die Augenbrauen so schnell in die Höhe schnellen, wie sonst nur die Omegron II beschleunigen kann. Es war ein Phänomen! Der Preuße, wie ihn seine Freunde und Untergebenen gerne hinter seinem Rücken nannten, der Mann, der Planeten bezwungen hatte, der Diktatoren zu Fall brachte, der durch ein Meteoritenfeld manövrierte ohne auch nur anzufangen zu schwitzen, brachte das Wort „Abenteuer“ regelrecht aus der Fassung. Ich höre ihn, mit seiner leicht schnarrenden Stimme sagen: „Abenteuer? Was ist das? Es gibt kein Abenteuer. Es gibt nur brenzlige Situationen, aus denen jeder, der klar bei Verstand ist, so schnell wie möglich herauskommen will. Jeder, der diese Situationen willentlich sucht, ist kein Abenteurer, er ist ein Narr!“ Und jeder, der dann immer noch nicht klein beigibt, bekommt zu hören: „Halten Sie mich etwa für einen Narren?“ Das lässt dann auch die Mutigsten verstummen. Von mir ganz zu schweigen. Nur einmal habe ich das Wort unbedacht benutzt. Nie wieder werde ich diesen Fehler machen. Nie wieder.

Dennoch musste ich ihm in einem Recht geben: Dieser Anblick der Erde, hier aus dem All besehen, ist einfach unglaublich schön.
Nicht vielen war es vergönnt diesen Ausblick zu genießen. Mutter hatte es möglich gemacht. Ich weiß nicht, was sie alles angestellt hatte, um mir diese Reise zu schenken. Sicher, ihre ehemalige Stellung hatte dabei geholfen und die vielen Leute, die sie kannte. Nicht zuletzt Onkel John. Ja, bestimmt hatte sie auch ihn mit eingebunden, mir dies zu ermöglichen. Andere bekamen eine Reise auf einen der Kontinente zum Abschluss. Ich bekam eine Reise zur Venus. Heutzutage fast unmöglich. Wenn man nicht gerade mit Geld und Macht gesegnet war. Nun, Geld war zwar nicht unbedingt Mangelware in meiner Familie, aber doch nicht so massig vorhanden, dass man uns als reich bezeichnet hätte. Reich waren wir nur an Geschichte. Sowohl Mutter als auch der Commander waren Teil der Geschichte der EAAU geworden. Der Commander machte auch heute noch Geschichte, obwohl er schon längst im Ruhestand sein könnte. Mutter wäre das bestimmt recht. Nach all den Jahren der Trennung und der Einsamkeit, die sie durchlebt hatte. Nein, eine Pilotenfrau zu sein, war bestimmt nicht einfach, aber die Frau von Mark Brandis zu sein, war das Ganze wohl zur 10. Potenz erhoben. Immer wieder Sonderaufträge, Missionen und ganz nebenbei noch die Leitung der UGzRR (Unabhängige Gesellschaft zur Rettung Raumschiffbrüchiger). Gut, er hatte sich die Zeit genommen mich zu adoptieren. Aber im Grunde war die Adoption nur auf die Stärke meiner Mutter, Ruth O´Hara, zurückzuführen. Der Commander hätte sich um so einfache Dinge, wie das Wohlergehen eines kleinen Jungen, nicht gekümmert. Er war mit Großem beschäftigt. Die Rettung der Welt, das Vereiteln von Revolutionen und so etwas halt. Mutter nahm mich auf, als keiner sich auch nur um seine eigene Verwandtschaft gekümmert hat. Ein fremdes Kind, das sie weinend in einer Wohnung gefunden hatte. Weinend und halb verhungert. Und das obwohl sie für sich selbst nicht genug hatte. Ich selbst kann mich an die Tage im Dezember 2089 kaum noch erinnern. Ich weiß nur noch, dass ich geweint habe und da tauchte ein Engel auf. Mit flammend rotem Haar. Er sprach ruhig zu mir und nahm mich auf den Arm. Der Engel blieb in meinem Leben. Auf den Arm kann sie mich heute nicht mehr nehmen, 13 Jahre später, aber beruhigend auf mich einwirken, mit mir reden, mir nahe sein, oder mir einfach zuhören, das kann sie auch heute noch. Sie hat immer einen Weg gefunden, wie ich mit dem Commander klar kommen konnte. Ich gebe zu, er ist kein schlechter Mensch, aber er hat Ansprüche an sich und seine Umwelt, die ich nicht erfüllen kann und auch nicht will. Er hat es nie geschafft, mir das zu sein, was Mutter mir geworden war.

Schluss mit dem Selbstmitleid. Der Ausblick war viel zu schön, um trübsinnigen Gedanken nachzuhängen.
Langsam schwenkte die Gloria in die Umlaufbahn ein. Die Gloria! Was für ein Schiff. Nicht sonderlich schnell, aber groß und komfortabel. Für die Reise von der Erde zur Venus und zurück musste ein Normalsterblicher ein mittleres Vermögen hinblättern. Wie Ruth O´Hara, meine Mutter, dies geschafft hatte, wollte ich lieber nicht wissen.
Ein leises, kaum merkliches Vibrieren ging durch das große Schiff, als es abermals die Richtung wechselte. Die Erde glitt langsam aus dem Bereich des Fensters, das ich mit Mühe ergattert hatte. Nun kam der Mond in meinen Blick. Von Dichtern in unsterbliche Poesie gebettet, von Sängern besungen, hing er da in seinem leuchtenden Gelb. Deutlich konnte man die Mare erkennen und selbst das Licht von Las Lunas schien, wenn auch schwach sichtbar, zu mir herüber. Wieder wanderten meine Gedanken zum Commander, der dort, immer bereit sofort zu starten, viel Zeit in der Raumnotwache verbrachte. In dieser, von Las Lunas gepachteten, unbeschreiblichen Einrichtung.
Wie es wohl gewesen sein mochte, als noch jedes Raumschiff auf sich allein gestellt war. Als ein Unfall im Raum in Neunundneunzig von hundert Fällen den sicheren Tod bedeutete? Onkel Iwan hatte mir oft davon erzählt. In jenen Jahren als er noch jung war und die Reisen nicht in Stunden, sondern in Monaten und oftmals auch in Jahren gemessen wurden. Noch bis in den späten Achtzigern des vergangenen Jahrhunderts waren Zwischenfälle im Raum fast immer tödlich verlaufen. Trotz des rasant wachsenden Verkehrs zwischen den Planeten und Raumstationen war es fast unmöglich einem havarierten Schiff rechtzeitig zu helfen.
Der zweite Punkt war außerdem gewesen, dass sich selten jemand angesprochen gefühlt hatte. Natürlich gab es das ungeschriebene Gesetz, dass jedem im Raum zu helfen ist. Aber in der Praxis sah dies meist anders aus. Ein Frachtschiffcommander überlegte es sich zweimal, ob er einem anderen Schiff half. Erstens, weil er natürlich seine Fracht pünktlich abliefern musste und zweitens, weil die Frachter meist viel zu langsam waren um rechtzeitig Hilfe zu leisten. Anders hätte es mit Piloten der Strategischen Raumflotte ausgesehen. Diese aber waren meist auf einem wichtigen Einsatz, auf Patrouille oder so geheim unterwegs, dass niemand wissen durfte wo sie sich befanden. Privatjachten waren äußerst selten und die wenigen, die es gab, waren meist nicht Tiefenraumtüchtig.
So blieben nur die Schiffe der VEGA (Venus Erde Gesellschaft für Astronautik). Diese, zumeist im Erprobungszustand oder gerade auf Expedition, waren auch meist nicht greifbar. Bis zu dem Tag, als die Han-Wu-Ti-Katastrophe stattfand, war es selten gelungen einem Schiff rechtzeitig zu helfen. Und auch bei diesem Zwischenfall gab es nur einen Überlebenden. Das hatte die beiden Machtblöcke dazu getrieben, eine eigene Flotte aufzustellen, die eigens nur für die Rettung in Raumnot befindlicher Schiffe gedacht war.
Die Geburtsstunde der UGzRR, eben der Organisation, welcher der Commander sein Leben gewidmet hat und deren Hauptstützpunkt auf eben diesem Mond beherbergt war. Diese unbeschreibliche Organisation, die für mehr Sicherheit im Raum sorgte und der mittlerweile 22 Schiffe gehörten. An die man sich immer wenden konnte, wenn einem da draußen etwas fehlte, diese humanitäre Einrichtung, die nur dazu da war zu helfen. Unentgeltlich, sofort, oft unter Einsatz des Lebens. So mancher Helfer hatte im Dienst dieser Organisation sein Leben gelassen und nicht nur einmal hat meine Mutter um das Leben ihres Mannes gebangt. Ohne Nachricht zu bekommen, manchmal fast ohne Hoffnung.
Die Aufzeichnungen, die der Commander gemacht hatte, eine Art Tagebuch eines Helden, habe ich, seit ich lesen konnte, oft durchgelesen. Dies war aber immer nur der Standpunkt des Commanders. Das sich seine Frau zu Hause Sorgen gemacht hatte, davon stand da nichts. Da musste man schon ihre eigenen Aufzeichnungen zu Rate ziehen. Auch diese habe ich gelesen und oft noch im Nachhinein mit ihr gebangt. Sicher, die Arbeit musste getan werden. Einer musste los fliegen wenn jemand in Not war, aber es gab auch immer die andere Seite.
Nicht das jemand den Eindruck gewinnt, ich wäre gegen die UGzRR. Niemals! Schließlich wollte ich auch Pilot werden und da ist es ein Gefühl von Sicherheit, wenn da jemand ist, der dich rettet.

Fast unmerklich war die Gloria weiter in die Umlaufbahn eingeschwenkt. Bald würde ich mich wieder auf meinen Sitzplatz begeben müssen. Ich wusste aus Erzählungen, dass es bei der Landung immer noch die meisten Unfälle gab und da war es sicherer sich angeschnallt auf einem Sitz zu befinden, als hier, völlig ungesichert an einem Fenster zu stehen. Ich wollte mich gerade umdrehen, um zu meinem Platz zu gehen, als mich von hinten jemand ansprach. Ich war so in Gedanken versunken gewesen, dass ich unweigerlich zusammenzuckte.
„Sir, darf ich Sie bitten jetzt wieder Platz zu nehmen?“
Eine leichte Ungeduld schwang in der Stimme mit. Bestimmt gab es angenehmere Tätigkeiten, als den Babysitter für die Passagiere der Gloria zu spielen. Bestimmt hatte er diesen Satz schon tausend Mal anbringen müssen. Dennoch klang, neben der Ungeduld, ein Respekt mir gegenüber durch, den ich bisher selten erhalten hatte. Sicherlich, der Steward konnte nicht wissen, dass ich den Flug gesponsert bekommen hatte. Er musste davon ausgehen, dass ich ein voll zahlender Passagier war und dies bedeutete, in der sozialen Ordnung weit über ihm angesiedelt. Dennoch befremdete mich dieser Respekt ein bisschen. Erstens war ich grade mal sechzehn Jahre, mehr oder weniger, denn mein Geburtsdatum wurde geschätzt, da ich ein Findelkind war und keiner mehr nachvollziehen konnte wer ich wirklich war, geschweige denn mein Geburtsdatum kannte.

Die Wohnung, in der mich Ruth O´Hara damals fand, war wohl nicht mein eigentliches zu Hause gewesen, denn darüber, dass die, dort wohnende, Frau jemals ein Kind gehabt hatte, gab es keinerlei Aufzeichnungen. So war ich quasi ein doppeltes Findelkind. An die andere Frau erinnere ich mich so gut wie nicht mehr. Nur schemenhaft taucht ab und zu in meinen Träumen ein Gesicht auf. Eine Frau gab mir ein Stück Brot und lachte mit mir. Auch sie musste mich gefunden haben. Auch sie hatte mich aufgenommen in einer Zeit in der sich jeder nur um sich selbst gekümmert hat. Auch sie wird immer einen Platz in meinem Herzen haben.
So wurde also festgelegt, dass ich am 10.12. (den Tag, an dem mich Ruth O´Hara fand) 2086 geboren wurde (denn man schätzte mich auf drei Jahre). Also war ich heute sechzehn und nicht gewohnt mit „Sir“ angeredet zu werden. Und zweitens waren, so die Verfassung der EAAU (Europäisch-Amerikanisch-Afrikanischen Union – Kurz Union), alle Menschen gleich. Sicher, in einer steifen Hierarchie, wie zum Beispiel bei der Strategischen Raumflotte oder der VEGA, war es sicherlich notwendig Abstufungen zu machen, aber hier? Vielleicht war es auch weniger Respekt, der den Steward „Sir“ sagen ließ, als vielmehr der Versuch einer Diskussion auszuweichen. Ich wandte mich ihm ganz zu und betrachtete ihn ein bisschen genauer. Fast hätte ich losgelacht, er war mindestens vierzig Jahre alt. Natürlich verkniff ich mir das Lachen. Er tat ja nur seinen Job und wenn es dazugehörte einem Jungen, der gut und gern sein Sohn hätte sein können, Höflichkeit entgegen zu bringen, dann sollte er es auch tun. Außerdem erschreckte mich der Gedanke etwas, dass er ja tatsächlich mein Vater sein könnte. Also erwiderte ich lediglich: „Selbstverständlich!“, und machte mich auf den Weg zu meinem Sitzplatz. Der Steward kam in einigem Abstand hinter mir her und überzeugte sich, nachdem ich Platz genommen und mich angeschnallt hatte, ob dies auch ordentlich geschehen war. Nachdem er sich mit gerunzelter Stirn davon überzeugt hatte, ließ er mich allein auf meinem Platz zurück und eilte davon. Wohl um sich selbst anzuschnallen.
Nachdem ich dem enteilenden Steward nachgesehen hatte, bis er aus meinem Blickfeld entschwunden war, wandte ich mich meinem Sitznachbarn zu und erkannte, dass es nicht mehr der Selbe war, wie seit Beginn der Rückreise von der Venus. Dies war seltsam, denn normalerweise hatte jeder Passagier seinen festen Platz. Da die Plätze alle gleich waren und es Fensterplätze, mit Ausnahme der Panoramafenster in den Zwischenbereichen, nicht gab, war die Sitzplatzvergabe endgültig und in der Regel bindend.
Neugierig betrachtete ich also meinen neuen Sitznachbarn. Das Gesicht kam mir vage vertraut vor. Irgendwoher kannte ich diesen Mann. Ich hatte ihn schon einmal gesehen. Wo war das noch? Er war mit Sicherheit kein Lehrer. Und Freunde meiner Eltern waren eher selten. Dennoch kannte ich dieses, ein bisschen lausbubenhafte, Gesicht, welches mich in diesem Moment wissend anlächelte.
„Und? Hast du herausgefunden woher du mich kennst?“
Normalerweise habe ich nichts dagegen, wenn mich jemand duzt, aber ein Fremder, einfach so? Das ließ mich doch ein bisschen wundern. Anscheinend war dies meinem Gesicht deutlich anzusehen, denn der Fremde fügte schnell hinzu:
„Ich hoffe doch noch „du“ sagen zu dürfen, auch wenn du jetzt“, er tat so als müsse er nachrechnen, „sechzehn bist – habe ich Recht?“
„Das stimmt!“, erwiderte ich kurz.
Also kannte er mich und war mir damit im Vorteil. Ich sah ihm in die Augen und sagte dann einfach
„Nein!“
Gleichzeitig war ich mir bewusst, dass dies sowohl auf die erste Frage bezogen sein konnte, als auch auf die zweite. Und dies verwirrte mein Gegenüber auch sofort.
„Du erkennst mich nicht, oder darf ich nicht mehr „du“ sagen?“
„Beides“ sagte ich und merkte selbst, dass meine Stimme eher trotzig als bestimmt klang. Mist, ging es mir durch den Kopf. Das muss ich noch üben, sonst nimmt mich keiner ernst, sondern hält mich für einen trotzigen Teenager. Und als alles wollte ich gelten, aber nicht als dies.
„Also“, fing mein Gegenüber erneut an, ohne sich anmerken zu lassen, wie ich auf ihn gewirkt haben musste. „Erst will ich mich mal vorstellen. Mein Name ist Martin, Martin Seebeck.“
Wie Schuppen fiel es mir von den Augen. Natürlich! Martin Seebeck. „Der einzige, wahre Journalist im Universum“ nannte ihn der Commander. Er hatte sogar wiederholt die Erlaubnis bekommen, Reportagen direkt auf den Schiffen der UGzRR zu machen. Mitzuerleben, was sonst nur gestandene Astronauten zu erleben im Stande waren. Das erste Zusammentreffen der Beiden war wohl auf der berühmt, berüchtigten Sirius – Patrouille gewesen. Jetzt fiel mir auch die Geschichte mit dem Schwarzen Loch wieder ein. Wäre diese nicht von allen Beteiligten übereinstimmend bestätigt worden, ich hätte sie nicht geglaubt. Martin Seebeck. Wie viele Preise hatte er bekommen für sein journalistisches Wirken. Beinahe hätte ich mir gegen die Stirn geschlagen. Wieso hatte ich ihn nicht erkannt? Ausgerechnet ich, der doch seine Abschlussarbeit über eine seiner Reportagen geschrieben hatte. Nun, dies hatte zuerst einmal den Grund, dass er, im Gegensatz zu den, von mir verwendeten, Bildern, sehr viel älter aussah. Zum anderen erwartet man wohl kaum den berühmtesten Journalisten des vergangenen Jahrhunderts und der Gegenwart plötzlich neben sich sitzen zu haben. Außerdem hatte er sich in den letzten Jahren kaum noch in der Öffentlichkeit sehen lassen. So dass mein Nichterkennen zumindest eine Erklärung hatte.
Interessiert beobachtete er meinen Gesichtsausdruck und interpretierte ihn anscheinend richtig.
„Ich sehe, Sie erkennen mich jetzt doch und was das Andere angeht, bitte ich um Verzeihung. Natürlich darf ich nicht einfach „du“ sagen. Mark, oder soll ich Mr. Brandis sagen?“, er machte eine kurze Pause, die ich nutzte, um zu antworten.
„Natürlich dürfen Sie Mark sagen. Und Sie dürfen auch „du“ sagen. Entschuldigen Sie, dass ich so unhöflich war. Ich war mit meinen Gedanken noch wo anders und etwas perplex, so angeredet zu werden.“
„Nein, nein. Wenn, dann muss ich mich entschuldigen. Also erst einmal, wenn ich Mark sagen darf, dann bin ich Martin und auch ein Du ist mir viel lieber als das Sie.“
Er reichte mir die Hand und ich ergriff sie erfreut. Er war im Grunde genau so, wie ich ihn mir vorgestellt hatte.
„Nun, da dies geklärt ist“, fuhr er fort, „muss ich dir wohl einiges erklären. Als Erstes einmal habe ich mich schon des längeren mit deiner Person beschäftigt.“
Da war es wieder, dieses lausbubenhafte Grinsen in seinem Gesicht. Er weidete sich geradezu an meinem erstaunten Gesicht.
„Wie das?“, stieß ich hervor.
„Nun, zum einen bist du der Sohn eines der berühmtesten Männer unserer Zeit.“ „Adoptivsohn ist die richtige Ausdrucksweise“, unterbrach ich ihn.
„Ich denke, dies macht hier keinerlei Unterschied.“ Er ließ sich nicht im Geringsten aus der Ruhe bringen.
„Und zum anderen habe ich einen alten Freund, der im Schulgremium sitzt, welches Abschlussarbeiten korrigiert. Und der hat mich angerufen und mitgeteilt, dass er eine sehr gute Abhandlung zu einer meiner letzten Reportagen in den Händen halte. Er ging davon aus, dass mich nicht nur die Arbeit interessierte, sondern auch der Verfasser. Ein Mark Brandis junior. Ich weiß, ich weiß“, er hatte wohl meinen erstaunten Blick bemerkt, „dieses Verhalten ist wohl nicht ganz astrein, aber man muss ihm das nachsehen. Ich hatte mit ihm oft über meine Reportagen an Bord der Invictus und der Henri Dunant gesprochen. Und natürlich auch über den Commander dieser Schiffe. Ihm war nicht bewusst, dass es auch einen Mark Brandis junior gibt. Also wollte er mir dies mitteilen. Ich hoffe du verrätst ihn nicht.“
Er sah mich erwartungsvoll an und wartete auf eine Antwort.
Das war ein seltsames Gefühl. Im Grunde hatte ich das Schicksal dieses Mannes vom Schulgremium in der Hand. Martin Seebeck wartete noch immer auf eine Antwort.
„Natürlich werde ich ihn nicht verraten.“ Es gab im Grunde nur diese eine Antwort. Wem wäre auch damit geholfen?

Ich sah ihn an und konnte diesmal auf diesem Gesicht nicht das Geringste erkennen. War er froh, dass ich seinem Freund nicht schaden wollte? War es ihm egal? Nicht eine Spur irgendeiner Regung war zu sehen, nur dieses Lächeln, das eher von den Augen ausging, als von seinem Mund. Die Falten um seine Augen ließen darauf schließen, dass er gerne und viel lachte. Eine interessante Mischung, dachte ich. Ein ernsthafter Journalist mit Humor und einer bejahenden Lebenseinstellung. Vielleicht ließ ich meinen Blick einen zu lange auf seinem Gesicht, denn er sah mich auf einmal fragend an.
„Und diese zwei Punkte machen mich interessant?“ Eine gewisse Herausforderung lag in meiner Stimme, die auch meinem Gegenüber nicht verborgen blieb.
„Nun, zuerst einmal finde ich alle Leute interessant, die sich mit meiner Person beschäftigen.“ Das Grinsen verstärkte sich noch. „Und zum Zweiten ist deine Lebensgeschichte, soweit sie mir bekannt ist, sehr – aufregend gewesen.“
„Und der Name spielt keine Rolle? Wäre ein Hans Meier auch von Interesse gewesen?“ Wieder konnte ich nicht umhin gereizt zu klingen, denn ich war es ja auch und ich verabscheute jede Anspielung, war sie auch noch so klein, auf meinen Namen.
„Wenn Hans Meier eine Lebensgeschichte hätte, die deiner ähnelt und er außerdem noch eine Arbeit über mich geschrieben hätte? – Sicher wäre sie das. Das ich deinen Vater“, er hob leicht die Hand als er merkte, dass ich widersprechen wollte und ich blieb stumm, „kenne, macht keinen großen Unterschied. Natürlich beeinflusst auch mich so etwas. Das gebe ich offen zu, aber es ist nicht ausschlaggebend. Deine ablehnende Haltung dem Commander“, er betonte dieses Wort extrem, „gegenüber, wäre dann noch ein weiterer Punkt, in der von mir angeführten Liste.“
„Ich lehne den Commander nicht ab! Ich“, das passende Wort fiel mir nicht ein, „bewundere seine Arbeit und seine Leistung sehr ...“
„... aber du hast Schwierigkeiten mit seinem Verhalten als Vater“, beendete er meine Ausführungen.
„So ungefähr“, gab ich zu und suchte nach einem Ausweg aus diesem Thema, denn es wurde mir zu unangenehm.
Einerseits wollte ich das Thema beenden, andererseits wollte ich Martin Seebeck auch nicht vor den Kopf schlagen. Fieberhaft überlegte ich mir einen Ausweg. Es wollte und wollte mir nichts einfallen. Da kam mir der Zufall zu Hilfe. Ein leichtes, aber doch erschreckendes Beben ging durch das Schiff. Immerhin so stark, dass wir in den Gurten hin und her geworfen wurden. Martin machte ein entsetztes Gesicht und ich konnte nicht umhin, nun meinerseits ein Grinsen auf mein Gesicht zu zaubern.
„Für jemand, der schon so viele Reportagen im Raum geschrieben hat, bist du ganz schön ängstlich.“
Er sah mich mit großen Augen an. Dann lachte er. Kurz und freudlos.
„Seit der Sache mit dem Schwarzen Loch habe ich da wohl einen kleinen Schaden davongetragen. Schon immer bin ich nicht wirklich gerne geflogen, aber seit diesem Zeitpunkt habe ich wesentlich mehr – Respekt vor dem Fliegen.“ Er wollte wohl etwas anderes sagen, als Respekt, aber ich ließ es darauf bewenden.
„Das war nur eine kleine Turbulenz beim Eintritt in die Atmosphäre. Kein Grund sich zu beunruhigen oder Respekt zu zeigen.“
Ein schiefes Lächeln zeichnete sich in seinen Mundwinkeln ab.
„Du hättest dies vor 50 Jahren erleben müssen, da war noch jeder Wiedereintritt in die Atmosphäre der gefährlichste Teil des ganzen Fluges. Nirgends sind mehr Unfälle passiert, als bei der Landung. Kein Meteoritenschwarm, kein Pirat, nicht einmal ein feindliches Raumschiff hat mehr Menschenleben gefordert, als das riskante Manöver des Wiedereintritts. Aber heutzutage ist die Landung fast so sicher wie ein Spaziergang im Park. Von leichten Turbulenzen einmal abgesehen, geht dieses Manöver fast unbemerkt vonstatten. Zumindest für die Passagiere. Die Crew, vor allem der Pilot, tut gut daran, mit dem Aufatmen zu warten, bis das Schiff am Boden ist und die Aggregate auf Null stehen. Das Einzige was ein Passagier normalerweise von der Landung mitbekommt, ist das Angurten und die Aufforderung, sich abzuschnallen und sich zum entsprechenden Ausgang, oder auch Schleuse genannt, zu begeben. Die Passagierraumfahrt ist heute wirklich sicher.“
„Du bist schon öfter geflogen? Oder hast du das nur gehört?“
Martin sah mich, immer noch etwas bleich im Gesicht, fragend an.
„Das ist meine erste Flugreise. Bis auf den Hinflug zur Venus natürlich. Zumindest in einem Passagierschiff. Früher war ich oftmals auf der Henri Dunant und durfte einmal mit zum Mond und wieder zurück. Ein Testflug natürlich und die große Ausnahme, ansonsten hätte der Vormann niemals einen Tropfen Treibstoff verschwendet, um mich hin und wieder zurück zu bringen.
Aber natürlich habe ich mich sehr mit diesem Thema beschäftigt, denn ich will ja bald auf die PA der VEGA und da sollte man schon ein bisschen Wissen mitbringen. Schließlich …“ Ich brach meinen Satz ab. Bis jetzt wusste kaum jemand, dass ich ausgerechnet zur PA wollte. Und es sollte auch vorläufig niemand erfahren. Am wenigsten der Commander. Und nun hatte ich mich ausgerechnet bei einem seiner wenigen Freunde verplappert.
„Schließlich?“ Martin sah mich fragend an.
„Schließlich können diese die Ausbildung ja nicht bei Null beginnen. In diesem Zusammenhang hätte ich da eine Bitte.“
„Und die wäre?“ Martin sah mich offen an.
„Es ist nämlich so“, die nächsten Worte wollten wohl überlegt sein, „der- ich meine mein Vater weiß noch nichts davon, dass ich zur Pilotenakademie möchte.“
Nun war es an mir leicht die Hand zu heben, denn ausgerechnet jetzt wollte ich lieber nicht unterbrochen werden. „Keine Angst, meine Mutter weiß Bescheid, aber meinen Vater wollte ich erst unterrichten, wenn ich auch wirklich angenommen worden bin.“
„Gibt es da einen Zweifel daran?“ Mich schauten zwei blaue, erstaunte Augen an.
„Nun, zum einen ist es die Aufnahmeprüfung, zum anderen der körperliche Eignungstest und nicht zuletzt der Psychotest. Vor dem habe ich die meiste Angst. Sollte ich durch einen dieser drei Tests fallen, ist es aus mit der Akademie und das braucht er dann nicht zu erfahren.“ So jetzt war es raus und ich hoffte, Martin Seebeck wäre der Ehrenmann, für den ich ihn hielt.
„Ich finde das Ganze zwar äußerst merkwürdig, um nicht zu sagen – verzeih diesen Ausdruck – albern, aber wenn du das wünschst – von mir wird er es nicht erfahren. Aber meinst du wirklich, es bleibt ihm verborgen? Er kennt doch noch immer viele Leute bei der VEGA. Ich denke da vor allem an John Harris. Der will zwar bald in den Ruhestand, aber noch ist er der Direktor – Generaldirektor“, verbesserte er sich sofort.

Seit 18 Monaten hatte er diesen neuen Titel inne. Es war eine Entscheidung, die nicht ganz seine Zustimmung fand. Bis dahin war er der Direktor und gut war es. Aber schließlich kam er in die Jahre und so ein riesiges Gebilde, wie die VEGA nun einmal war, war für einen Mann einfach nicht mehr zu überblicken, vor allem wenn dieser Mann die Siebzig überschritten hatte. Also beschloss ein Gremium der Regierung, die VEGA in drei Ressorts zu unterteilen und jedem dieser Ressorts einen Direktor vorzusetzen und John Harris, dem großen alten Mann, die Oberleitung zu übertragen, mit dem Titel Generaldirektor. Zähneknirschend hatte er dies schließlich akzeptiert und sich in das Unvermeidliche gefügt. Von diesem Augenblick aber hat er sich damit beschäftigt seinen Rücktritt zu planen. Und schließlich wurde vor 2 Monaten bekannt gegeben, dass er zum Jahresende in Pension gehen wolle. Der Commander machte, als er es erfuhr (zufällig war ich dabei) ein steinernes Gesicht und bekam so schmale Lippen, wie ich es selten erlebt hatte. Was mochte ihm wohl durch den Kopf gegangen sein? Sein eigener Ruhestand? Seine Laufbahn? Schließlich wurde er früher immer als Nummer zwei angesehen und wäre bestimmt, hatte er nicht einen Wechsel zur UGzRR vorgezogen, als John Harris´ Nachfolger weiter gehandelt worden. Da er sich aber bei der UGzRR befand, war dies nun nicht mehr im Gespräch.
„Und als solcher“, setzte Martin Seebeck seinen Satz fort, „wird es ihm wohl kaum verborgen bleiben, dass du in die PA eintrittst. Von den anderen Commandern, Piloten, Technikern und Navigatoren einmal ganz zu schweigen. Er kennt doch dort Gott und die Welt. Es kann gar nicht geheim bleiben. Sobald dein Name auf irgendeiner Liste erscheint, wird er es erfahren.“
„Daran habe ich schon gedacht“, begann ich. „Onkel John – ich meine Generaldirektor Harris – ist in alles eingeweiht …“
„Onkel John?“, entfuhr es meinem Gegenüber.
„… und hat dem Ganzen, wenn auch schweren Herzens, zugestimmt“, beendete ich meinen Satz. „Ja, Onkel John – eine lange Geschichte – vielleicht erzähle ich die ein anderes Mal. Auf alle Fälle wird mein Name auf keiner Liste auftauchen.“
Das erstaunte Gesicht war sehenswert. „Wie, um alle Welt, willst du das schaffen?“
„Das“, erwiderte ich, „bleibt mein Geheimnis. Nein, frag lieber nicht. Vielleicht erzähle ich dies ein anderes Mal. Aber nicht heute und nicht hier. Wir werden gleich gelandet sein und dann werde ich recht schnell verschwinden müssen, denn ich bin verabredet.“
„Ich würde dich gerne wieder sehen und weiter mit dir reden, schließlich sind wir ja nicht weit gekommen. Hast du morgen Zeit, dich mit mir zu Treffen? Vielleicht in der Andromedabar? Da kann man nicht nur gut reden, sondern auch gut essen. Du bist natürlich eingeladen“, fügte er schnell hinzu.
Da brauchte ich nicht lange zu überlegen. Schließlich geht man nicht jeden Tag mit seinem Idol essen. Also verabredeten wir uns für 18:00 Uhr in der Andromedabar, gerade als das Zeichen zum Abschnallen erklang und die Stewardess sich dafür bedankte, dass wir mit Ihrer Fluglinie geflogen sind und sich das Selbe auch für die Zukunft wünschte. Dann eilten andere Stewards und Stewardessen auf uns zu, um uns den Weg zur Schleuse zu erklären. Martin versuchte neben mir zu bleiben, schaffte es aber nicht, so rief er mir nach:
“18:00 Uhr, vergiss es nicht!“
„Nein, werde ich nicht vergessen!“, rief ich noch zurück und schon entschwand er meinem Blick. Ich habe nie verstanden und werde es auch nie verstehen, weshalb erwachsene Menschen so drängelten. Schließlich war ich am Ausgang und sog die Luft von Metropolis in mich ein. Eine leichte Brise blies vom Atlantik herüber. Die Luft in der Gloria war bestimmt nicht schlecht gewesen, aber dennoch nicht zu vergleichen mit einer frischen Atlantikbrise. Ich verließ das Gate und begab mich zur Passagierkontrolle.
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