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Superman`s Tochter 1 - Next Generation in Metropolis

von K Ehleyr
Kurzbeschreibung
GeschichteAbenteuer / P6 / Gen
11.01.2008
11.01.2008
4
56.437
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11.01.2008 23.052
 
Kapitel 1

Metropolis - Eine Stadt, voll von pulsierendem Leben. Beifällig sah Sanna um sich. Ihre Eltern hatten ihr nicht zuviel versprochen. Sie selbst kannte diese Stadt nicht, obwohl sie hier geboren worden war. Ihre Eltern waren kurz nach ihrer Geburt auf die Farm ihrer Großeltern gezogen. Es war eine Entscheidung, die sie nie bereut hatten. Zumal die Farm nach dem Tode ihrer Großeltern leer stand und bewirtschaftet werden sollte. Nicht, dass ihre Eltern es denn auch taten. Sie waren Reporter. Beide. Und sie blieben es auch. Selbst in Smallville, Kansas. Anstatt sich einem regem Farmleben zu widmen, übernahmen sie lieber die «Smallville Post». Sie wurden Herausgeber, Chefredakteur und Reporter in einem. Die Hauptverantwortung der Zeitung lag dabei vor allem auf den Schultern ihrer Mutter. Sie ging, obwohl es anfangs keiner für möglich gehalten hatte, voll in dieser Aufgabe auf. Selbst ihr Ehemann hatte Bedenken gezeigt, als die Idee von ihr angesprochen wurde. Niemand, wahrscheinlich nicht einmal sie selbst, hätte aber auch gedacht, dass ausgerechnet sie, Lois Lane, die Starreporterin des «Daily Planet», mit dem Leben, welches sich ihr in einer Kleinstadt bot, zufrieden geben würde. Der Grund für den Abbruch des bisherigen Lebensstils ihrer Eltern war sie gewesen - Sanna Kent. Ihr Vater wäre zwar jederzeit in der Lage gewesen, sie vor allem Bedrohlichem zu schützen, doch es war ihre Mutter, die sich weigerte, ein hilfloses Baby in einer Stadt wie Metropolis aufzuziehen. Zu groß war die Gefahr, dass sie durch das Kind in eine ausweglose Lage kommen würden. Die Erfahrung hatte ihnen in der Vergangenheit schließlich oft genug gezeigt, wie erpressbar selbst ihr Vater sein konnte, wenn man alleine die Frau, die er liebte, in Gefahr brachte. Keiner von beiden wollte es sich auch nur vorstellen, wie es wäre, ihr Kind in solch einer Situation zu wissen. Nur deshalb hatte sie, Sanna, das Glück gehabt, in einer behüteten und beschaulichen Kleinstadt wie Smallville, Kansas aufzuwachsen. Zwar stieg durch den Wegzug ihrer Eltern die Kriminalitätsrate in Metropolis wieder etwas an, doch die Menschen dort nahmen es ihrem Helden nicht weiter übel, dass er, anstatt ihre Kleingangster zu jagen, sich mehr um die internationale Sicherheit kümmerte.
All das lag jetzt schon dreiundzwanzig Jahre zurück. Und nun wollte sie, Sanna Kent, in die Fußstapfen ihrer Eltern treten und Reporterin werden - bei keinem geringerem Blatt als beim «Daily Planet».
Sanna lenkte ihren Blick nach oben. Die Fassade des Gebäudes hatte sich in den letzten zwanzig Jahren nicht geändert. Immer noch hing das Wahrzeichen des «Daily Planet» über dem Eingang zum Redaktionsgebäude: Ein großer, stählerner Globus. Den Erzählungen ihrer Eltern nach, hatte ihr Vater ihn einige Male dort wieder anbringen müssen. Sie konnte es sich gut vorstellen.
Plötzlich wurde Sanna jäh angerempelt. Ein junger Mann, nur wenige Jahre älter als sie, war aus der Glastür getreten und mitten in sie hineingerannt.
"Oh, Pardon!" sagte er schnell und trat einen Schritt zurück. "Aber es ist gefährlich, mitten in der Einflugschneise des «Planet» stehen zu bleiben."
"Ich werde es mir für das nächste Mal merken!" Die junge Frau musterte ihren Gegenüber kühl.
"Das sollten Sie auch, wenn Sie vorhaben, öfters hier zu stehen." Der Mann zog einen imaginären Hut und schob sich an ihr vorbei. Sanna gab ihm keine Antwort. Statt dessen trat sie unter den Globus und in das Foyer des «Daily Planet». Als sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, blieb sie jedoch als erstes staunend stehen und sah sich um. Hier war es, als wäre die Zeit stehen geblieben. Das Foyer sah genau so aus, wie sie es aus den Erzählungen und Bildern ihrer Eltern her kannte: Die Fliesen in der Vorhalle hatten den Charme eines Krankenhauses, den selbst der rote Teppich darauf nicht ganz nehmen konnte. Ein dunkler Empfangstisch, hinter dem eine junge Frau stand, war das einzige Mobliar der Halle. Dem Tisch gegenüber lagen die beiden Aufzüge, die dem leisen Surren nach ständig in Betrieb zu sein schienen.
Mit einem gewissen Herzklopfen ging Sanna am Tresen vorbei zu den Aufzügen. Auf einmal schien ihr ihr Vorhaben selbst für jemanden wie sie gewagt. Sicher, ihre Eltern waren beide gute Reporter und der Name Kent und Lane waren stets Garant für eine gute Story gewesen, doch es war noch lange keine Garantie dafür, dass sie dieselbe gute Arbeit leisten konnte.
Ein Zögern lag deshalb in ihrer Bewegung, als sie den Knopf des Aufzuges drückte. Mit einem leisen Surren öffnete sich die Tür und sie trat hinein. Sanna überlegte kurz. Wo, sagte ihre Mutter, ging es zum Büro des Chefredakteurs?

"James Olsen" stand in goldenen Buchstaben auf der Tür. "Chefredakteur". Sanna klopfte. Eine tiefe Stimme bat sie hinein. Forsch öffnete Sanna die Tür. Hinter einem dicken Schreibtisch saß ein Mann mittleren Alters. Sie schätzte ihn auf knapp fünfzig. Sein Haar war schon etwas schütter und angegraut, doch er sah immer noch gut aus - für jemanden in seinem Alter.
James Olsen sah auf. Vor ihm stand eine junge Frau. Er lächelte. Junge Frauen hatte er immer gerne im Büro - vor allem wenn sie so hübsch waren, wie die, die jetzt vor ihm stand. Und er liebte besonders die Brünetten. Das Mädchen - sie war wirklich kaum mehr als das - hatte Haare, die weit über den Rücken fielen. Sie trug sie offen. Leichte Wellen durchflossen es und gaben ihm einen besonderen Schwung. James Olsen Blick wanderte zum Gesicht. Es hatte etwas Bekanntes an sich, er wusste nur nicht zu sagen, woher. Fieberhaft durchforstete James Olsen sein Gedächtnis. Wo hatte er sie schon einmal gesehen?
Die junge Frau trat an seinen Schreibtisch und reichte ihm ihre Hand. "Hallo!", sagte sie mit weicher Stimme. "Mein Name ist Sanna Kent. Ich habe gestern angerufen!"
"Sanna Kent?" Für einen Moment war James Olsen verwirrt. Doch dann erinnerte er sich. Natürlich. Die Tochter von Clark und Lois. Erfreut nahm er die dargereichte Hand und drückte sie. "Entschuldigung! Ich habe Dich zwar seit mehreren Jahren nicht mehr gesehen, aber ich hätte es merken müssen. Du siehst Deiner Mutter sehr ähnlich."
"Das stimmt! Mein Aussehen habe ich von meiner Mutter."
James Olsen lachte. Es war ein angenehmes Lachen. "Und was hast Du von Deinem Vater?"
"Den Rest!"
"Das freut mich. Clark hat einen sehr bodenständigen Charakter. Man kann sich immer auf ihn verlassen."
Amüsiert senkte Sanna den Kopf. Sie hatte eigentlich etwas anderes gemeint.
"Kommen wir zum Geschäftlichen!" James Olsen setzte sich wieder hinter seinen Schreibtisch und deutete ihr an, auf einem Stuhl davor Platz zu nehmen. "Du willst also bei uns anfangen."
"Ja!" Sanna setzte sich auf den dargebotenen Stuhl und entnahm aus ihrer mitgebrachten Mappe einige Schriftstücke. "Ich habe zwar bis jetzt nur für die Zeitung meiner Mutter geschrieben, aber ich bin von ihr ausgebildet worden."
"Na, wenn das keine Empfehlung ist!" Er zwinkerte ihr leicht zu. "Von Lois Lane höchstpersönlich ausgebildet zu werden, ist das Beste, was einem passieren kann! Wenn Du dann noch ihr Gespür für gute Storys geerbt hast ... !"
"Ich denke aber, dass ich meinen eigenen Stil entwickelt habe!" Auffordernd hielt sie ihm die Blätter entgegen, die ihrer Meinung nach ihre besten Artikel beinhalteten.
Mit einem leichten Heben seiner Augenbraue nahm James Olsen die Blätter entgegen. Das kleine Mädchen von damals war anscheinend verschwunden. Er hatte Sanna, seit sie aufs College gegangen war, nicht mehr gesehen. Und als junge Frau herangereift, schien sie keine Umstände zu machen. Wie Lois ging sie direkt an eine Sache an. Das gefiel ihm. Kritisch begann er ihre Artikel zu lesen.
Während James Olsen schweigend die Blätter durchging, schweiften Sannas Augen durch das kleine Büro. Neben dem schweren Schreibtisch, einigen Stühlen, einem Bücherregal sowie einem alten Safe stand kein weiteres Mobiliar im Raum. Dafür hingen viele Fotografien an der Wand. Gerahmte und ungerahmte. Collagen, - eine Kopie von van Gogh`s Sonnenblumen. Sanna stand auf und ging zu der Bilderwand. Es waren viele alte und einige neue Bilder darunter. Ein Mann war oft präsent. Superman. Ihr Vater.
Hinter sich hörte sie ein Räuspern. Sanna drehte sich um. James Olsen hatte die Blätter auf den Schreibtisch gelegt und sah ihr amüsiert zu. Er zeigte zu den Bildern an der Wand. "Eine sentimentale Seite von mir," sagte er, stand auf und ging zu ihr. "Ich war damals zwar nicht mehr als ein Bürobote, doch es war die beste Zeit meines Lebens." Mit einem Finger tippte er auf eines der Bilder. "Hier. Das ist Perry White. Sie haben bestimmt schon von ihm gehört. Er war damals Chefredakteur, als ihre Eltern hier gearbeitet haben. - Und hier", er zeigte auf ein anderes Bild, "Superman! Ich weiß nicht, wie oft er Deine Mutter gerettet hatte. Nach dem zwanzigstenmal habe ich aufgehört zu zählen."
"Meine Mutter nach dem fünfzigstenmal!"
"Das kann ich gar nicht glauben." James Olsen hob abwehrend die Hände. "Ich will Deiner Mutter ja nicht zu nahe treten, aber sie war einmal ziemlich eingenommen von ihm, das kannst Du mir glauben!"
Sanna lachte. "Ja, ich weiß!"
"Irgendwann ist sie dann auf Clark umgeschwenkt. Zu seinem Glück. Denn wer kann schon von sich aus behaupten, er hätte den Mann aus Stahl ausgestochen?"
"Nicht viele, nehme ich an!"
"Nein, wirklich nicht. Aber Superman hat es wirklich gelassen genommen. Obwohl ich behaupte, dass er von Lois sehr angetan war."
Schweigend sah Sanna auf das Bild. Es zeigte Superman, wie er Mom im Arm hielt. Dasselbe hatten sie zu Hause auch. Es hing direkt neben dem Hochzeitsbild ihrer Eltern.
"Na, lassen wir die alten Geschichten!" sagte James Olsen plötzlich. "Wir werden alle älter. Sogar Superman. Ich bilde mir ein, lange nicht mehr so viel von ihm zu hören wie früher. - Kommen wir lieber zu der heutigen Zeit!" Er setzte sich wieder. "Deine Artikel gefallen mir. Man erkennt, dass Du einen guten Ausbilder hattest. Saubere Arbeit kann ich da nur sagen. Ich schlage deshalb vor, dass Du vorerst hier bleibst. Sozusagen eine Zeit auf Probe. Und wir geben Dir jemanden an die Seite, der Dich ein wenig an die Hand nimmt. "
"Danke Mister Olsen!"
"Oh, bitte!" James Olsen verzog das Gesicht. "Nenne mich Jimmy - wie früher!"
"Danke - Jimmy!"
"Komme morgen um neun Uhr wieder hierher. Ich werde Dir dann Deine Partnerin vorstellen." Er stand auf und trat um den Schreibtisch herum. "Weißt Du schon, wo Du wohnen wirst?"
"Ich möchte mir heute noch ein Appartement ansehen. Es liegt nicht weit von hier."
Lachend führte Jimmy sie zur Tür. "Das ist praktisch! Dann kannst Du ja jeden Morgen die erste sein!"

Kurzen Moment später stand sie wieder vor dem Eingangsbereich des Redaktionsgebäudes. Blinzelnd sah Sanna zur Sonne. Es durfte jetzt zwei Uhr nachmittags sein. Genug Zeit, um herauszufinden, ob ihr das Appartement gefiel. Und sie hatte Mom versprochen, heute noch zurückzurufen. Wenn alles glatt lief, würde sie sich am Wochenende vielleicht sogar in ein Flugzeug setzen, zurückfliegen und von Metropolis berichten.
Sie stieg die Treppe hinunter die zur U-Bahn führte. Nach nur fünf Stationen stieg sie wieder aus. Suchend wandte sie sich um. Die vielen Treppen und Gänge verwirrten sie und sie fragte sich, wo der Ausgang war. Plötzlich hörte sie hinter sich einen Tumult. Neugierig drehte sie sich um. Ein paar Jugendliche hatten einer Dame, die nicht zu den Ärmsten gehören schien, die Handtasche fortgerissen. Johlend liefen sie mit ihr davon. Die Handtasche hielten sie dabei triumphierend in die Luft. Entrüstet schrie die Frau nach der Polizei. Sanna wandte sich kopfschüttelnd ab. Metropolis war wirklich ein Moloch. Es hatte mit die höchste Kriminalitätsrate im Lande. Alle fünf Minuten geschah ein Raub und die Polizei sah sich außerstande, die Sache in den Griff zu bekommen. Kein Wunder, dass ihr Vater damals zum Superman wurde. Er konnte an so viel Ungerechtigkeit einfach nicht vorbeigehen. Was ihrer Meinung nach ein Fehler gewesen war - ihr würde das nicht passieren, soviel stand fest.
Inzwischen hatte Sanna den richtigen Ausgang gefunden und sie ging nach oben. Die Treppe endete genau in der Straße, wo das Appartement stand. Das war praktisch, so musste sie nur noch die richtige Hausnummer suchen. Gutgelaunt machte sie sich auf den Weg. Einige Minuten später stand sie dann vor dem dreistöckigen Haus, in dem das Appartement angeboten wurde. Sanna sah es mit prüfenden Blicken an. Es war neu. Zufrieden nickte sie. Sie mochte keine Häuser, in denen sich bereits Generationen von Mäusen und Schaben eingenistet hatten. Blieb nur zu hoffen, dass die Wohnung auch so gut erhalten war.
Die Vermieterin stand schon an der Tür, als hätte sie auf Sanna gewartet. Auch sie blickte prüfend - auf Sanna. Unbewusst zog Sanna die Schultern etwas hoch. Seit sie ein Kind war, und sich ihre Superkräfte entfaltet hatten, war ihr eingetrichtert worden, nicht allzu sehr aufzufallen. Niemand außer ihrer Familie, durfte wissen, dass Superman ihr Vater war. Auch jetzt steckte die Angst, entdeckt zu werden, noch tief in ihr, obwohl sie beschlossen hatte, ihre Kräfte nur selten und wenn, dann nur für sich einzusetzen.
Der inquisitorische Blick der Vermieterin hielt jedoch nicht lange an. Sanna schien ihr zu gefallen. Mit einem Lächeln hieß sie sie willkommen. "Kommen Sie ruhig herein, Miss. Ich habe schon auf Sie gewartet. Sie sind doch Miss Kent, oder?"
Sanna nickte. Neugierig ging sie hinter der Frau her, die sie jetzt in das Treppenhaus führte. Die Vermieterin durfte das ungefähre Alter ihrer Mutter haben - etwa Mitte fünfzig -, doch sie hatte sich bei weitem nicht so gut gehalten wie sie. Ihre Haare hatten einen aschfahlen Ton und wirkten durch das Grau darin sehr schmutzig. Auch war sie nicht so schlank wie ihre Mutter. Lois Lanes Figur hatte immer noch etwas mädchenhaftes, an der Frau vor ihr dürfte dagegen Rubens seiner Freude gehabt haben.

Nach drei Stockwerken blieb die Vermieterin stehen. Sie schnaufte hörbar. Das war kein Wunder, denn sie waren alle Treppen zu Fuß gegangen. Das Appartement lag direkt unter dem Dach.
"Ich komme so selten wie möglich hier hoch", sagte sie, immer noch nach Atem ringend. "Das Haus hat trotz seines jungen Alters leider keinen Aufzug. Aber Ihnen dürfte die Treppen nichts ausmachen - so jung, wie Sie noch sind!"
Sanna musste lächeln. "Nein, bestimmt nicht!"
"Na, Sie machen bestimmt viel Sport - alle jungen Leute treiben Sport. Entweder rennen sie hinter einem Ball her, oder sie springen auf einem Trampolin herum." Sie kramte mehrere Schlüssel aus ihrer Schürzentasche. "Hier sind die Schlüssel. Kommen Sie ruhig herein." Einladend öffnete sie die Tür.
"Danke!" Für einen Augenblick blieb Sanna an der Tür stehen, bevor sie eintrat. Dann aber traf sie der Schock. "Um Gottes Willen!" rief sie und sie starrte entsetzt auf das Zimmer.
"Ja, nicht wahr?" Die Vermieterin schloss hinter ihr die Tür. "Alles in Pink! Sogar die Toilettenbrille. Die letzte Mieterin hatte sich wohl für Barbie gehalten. Rosa Tapeten, rosa Bettwäsche, rosa Geschirr. Mich wundert es heute noch, dass sie grünes Gemüse gegessen hat."
"Kann man eine neue Tapete darüber kleben?"
"Sicher doch. Das sollten Sie sogar. Ich bin froh, wenn die hier runter kommt."
"Dann nehme ich es!"
"Aber Sie haben doch noch gar nicht alles gesehen!"
"Es reicht mir, glauben Sie mir!" Sanna war sich sicher, dass sie es mochte. Trotzdem ging sie, allein um kein Misstrauen zu erregen, rasch durch die Wohnung. Ein Schlafzimmer, nicht sehr groß, aber passend. Daneben ein Bad mit der pinken Toilette. Es sah apart aus, vielleicht würde sie es sogar so lassen.
"Na gut, wenn Sie meinen!" Die Vermieterin zuckte mit den Achseln. "Dann heiße ich Sie hier herzlich willkommen. Ich bin übrigens Mrs. Milers."
"Freut mich, Mrs. Milers. Wann kann ich hier einziehen?"
"Wann immer Sie wollen. Brauchen Sie Hilfe beim Tapezieren?"
"Nein danke, ich kann das alleine!"
"Aber dann werden Sie ganz schön lange damit beschäftigt sein!"
"Ich arbeite sehr schnell!"
Mrs. Milers blickte sie amüsiert an. "Sie sind wohl sehr selbständig, was?"
Mit einem Auflachen trat Sanna wieder vor die Tür. "Um das herauszufinden, bin ich hier!"

"Nein, Mom - ja Mom! Ja, ich habe es genommen." Mit einem Aufseufzen nahm Sanna den Telefonhörer in die andere Hand. Dass Mütter immer so besorgt sein müssen - selbst ihre machte da anscheinend keine Ausnahme. Sanna hatte ihre Mutter, wie versprochen, gleich nachdem sie in ihr Hotel zurückgekommen war, angerufen. Jetzt wollte sie natürlich alles wissen. Wie es Jimmy Olsen ging, was er für einen Eindruck machte, ob die Wohnung schön war. Fehlte bloß noch die Aufforderung, anständig zu essen und früh ins Bett zu gehen.
"Sanna, Liebling!", hörte sie jetzt ihre Mutter sagen. "Soll Dein Vater Dir beim Renovieren helfen?"
"Nein!" Sanna schrie es fast. "Bloß nicht!" Sie versuchte sich zu beruhigen. "Er hat doch sowieso keine Zeit! - außerdem kann ich es auch alleine."
"Sanna!" Sie hörte ihre Mutter aufseufzen. "Wann hörst Du bloß damit auf, zu denken, Du müsstest deinem Vater etwas beweisen?"
"Sobald er damit aufhört, mir etwas von Verantwortung und Pflicht an der Menschheit" vorzuquatschen. Wirklich Mom! Er sollte es wirklich langsam einsehen, dass ich nicht so sein will wie er!"
"Dein Vater ist der edelmütigste und charaktervollste Mensch, den es gibt!" Lois Lanes Stimme hatte sich erhoben. Wenn sie etwas nicht leiden konnte, dann Kritik an ihrem Mann. Nicht einmal von ihrer Tochter.
"Ja, ich weiß. Wahrscheinlich war er deshalb die Hälfte meiner Kindheit nicht da!"
"Du weißt genau, was der Grund dafür ist!"
"Wie könnte ich es nicht? Ich werde täglich damit konfrontiert. Ach Mom!" Jetzt war es an Sanna, aufzuseufzen. "Warum bin ich nicht mehr wie Du? Ich könnte gut und gerne auf meine Kräfte verzichten, wenn ich nur ein normales Leben führen könnte."
"Das tust Du doch! Du benutzt den Bus, das Flugzeug, treibst ganz normal Sport ... !"
"Nein, ich meine etwas anderes! Ich möchte einmal durch eine Stadt gehen, ohne dass ich hören muss, wie jemand um Hilfe schreit oder wie sich ein Ehepaar streitet ..." Sie verstummte. Schließlich sagte sie: "Mom, lassen wir das, ja? Ich will mich nicht am ersten Abend, den ich von zu Hause fort bin, mit Dir streiten!"
"Du hast recht! Soll ich Dir Dad also nicht schicken?"
"Doch, doch! Wenn er möchte, darf er natürlich mal vorbeifliegen. Sofern er zwischen zwei Katastrophen einmal Zeit findet." Ihre letzten Worte hatten einen sarkastischen Unterton.
Lois Lane tat so, als hätte sie ihn nicht gehört. "Ich wünsche Dir viel Spaß beim Renovieren. Wirst Du lange damit brauchen?"
"Nein - ich gebe zu, manchmal hat es auch seine Vorteile, Supermans Tochter zu sein!"
"Vielleicht solltest Du Dir das öfter vor Augen halten!"
"Ich werde es versuchen! Bye Mom!"
"Bye Sanna. Viel Erfolg!"
Sanna legte auf. Wenn sie sich beeilte, würde sie es noch schaffen, in ein Tapetengeschäft zu gehen. Anschließend würde sie sich die notwendigsten Möbel kaufen gehen. Ein Glück, dass sie bei Moms Zeitung schon Geld verdient hatte, so musste sie jetzt nicht sonderlich sparsam sein und konnte sich das nehmen, was ihr gefiel. Morgen, noch bevor sie in den «Daily Planet» ging, würde sie dann die Wohnung tapezieren und einziehen. Zufrieden lehnte sich Sanna in den Stuhl zurück - es war ein gutes Gefühl, das eigene Leben zu beginnen.

Um zehn nach neun stand Sanna wieder vor Jimmys Büro. Sie hatte etwas länger gebraucht, als sie gedacht hatte und sich deswegen verspätet. Doch Jimmy schien es nicht bemerkt zu haben. Sanna konnte hören, wie er mit jemanden ein lautes Streitgespräch führte. Beklommen klopfte sie an die Tür zum Büro.
Die Tür wurde mit einem Zug aufgerissen. Der junge Mann, mit dem sie gestern zusammengestoßen war, stand hochrot vor ihr. Sein Gesicht zeigte Entschlossenheit und Wut. Als er jedoch Sanna sah und sie wiedererkannte, glätteten sich seine Züge. "Ja, hoppla!" sagte er jovial. "Wen haben wir denn da? Wenn das nicht die Lady aus der Einflugschneise ist!"
"Max!" Jimmy stand hinter seinen Schreibtisch auf. "Lassen Sie die junge Dame in Ruhe und gehen Sie wieder an Ihre Arbeit!"
"Hallo Jimmy!" Sanna schob sich an den Mann, den Jimmy Max genannt hatte vorbei und trat ins Büro.
Max seufzte übertrieben auf. Sanna konnte hören, wie er etwas von "Sklaventreiber" murmelte, bevor er sich völlig verzog.
"Höre nicht auf ihn!" meinte Jimmy mit einer wegwerfenden Handbewegung. "Das ist Max McColin. Ein guter Reporter, aber ein Querdenker. Hat die seltsamsten Ideen." Er reichte ihr die Hand und drückte sie. "Willkommen Sanna. Hast Du eine Wohnung gefunden?"
"Ja, danke. Eine sehr schöne sogar."
"Das freut mich für Dich! - Komm, ich stelle Dich Deiner Partnerin vor." Er schob sie aus dem Büro und führte sie in den angrenzenden Raum. Es war ein großer Raum. Sanna war am Vortag schon durch ihn hindurchgegangen. Auf den ersten Blick glich er mehr einer Fabrikhalle, wenn er auch ein gewisses Ambiente verbreitete. Die einzelnen Schreibtische waren mit brusthohen Absperrungen versehen und verschafften so jedem Arbeitsplatz eine gewissen Privatsphäre. "Das ist unsere Denkhalle!" sagte Jimmy fröhlich, während er Sanna an den einzelnen Abteilungen vorbeiführte. "Hier entstehen unsere Ideen und unsere Stories. Von hier aus kommunizieren wir mit der Welt und erfahren so, was in der Welt los ist. Ich weiß nicht, wie hoch unsere Telefonrechnung ist, aber es muss eine Wahnsinnssumme sein."
"Aber das Internet ist doch jetzt der wichtigste Informationsträger!" Sanna sah auf einen der Computerbildschirme. Auf jedem Schreibtisch stand ein Computer. Die Zeiten der Schreibmaschine waren schon lange endgültig vorbei.
"Internet? - Natürlich! Trotzdem ist das Telefon unverzichtbar für uns." Er bog um eine Absperrung herum. "Wir sind hier! Justine? Ich habe Ihnen eine neue Partnerin mitgebracht!"
Die mit Justine angesprochen Frau erhob sich. Sanna sah sie erstaunt an. Sie war nicht viel älter als sie, kam Sanna aber irgendwie reifer vor. Ihr Haar hatte einen feuerroten Farbton und sie trug es sehr kurz. Es stand, wie bei einer Bürste, nach allen Seiten ab, was ihr einen jungenhaften Touch gab. Dazu trug sie einen bodenlangen Rock und einen weiten Schlabberpulli. Es hätte Sanna nicht gewundert, wenn ihre Füße strumpflos in Sandalen steckten.
Justine fuhr sich mit allen zehn Fingern durch die Haare. An ihren Handgelenken klimperten unzählig viele Armreifen. "Eine Partnerin, Jimmy? Das ist gut, ich stecke mitten in einer Recherche!"
"Da stecken Sie doch immer. Kommen Sie zurecht?"
"Ich hätte nichts gegen eine Hilfe."
"Na, die haben Sie jetzt!" Er wandte sich zu Sanna um. "Mache Dich mit ihr bekannt, Sanna. Ich muss nach Max sehen!"
Lächelnd sah Justine zu Sanna. "Jimmy würde es zwar niemals zugeben, aber Max ist unser bester Reporter hier. Ohne ihn wären wir manchmal ganz schön aufgeschmissen."
"Max? Er kommt mir eher wie ein Angeber vor!"
"Oh, Du hast ihn schon kennen gelernt? Gute Beobachtungsgabe - er ist ein Angeber! Aber ein sehr charmanter, muss ich zugeben."
"Er ist trotzdem nicht mein Typ!"
"Nein? Na, umso besser für Dich." Sie lachte.
Sanna lachte ebenfalls. Dann reichte sie ihr die Hand. "Ich bin übrigens Sanna Kent!"
"Kent?" Sie überlegte kurz. "Es gab hier schon einmal einen Reporter namens Kent. Sein Bild hängt bei Jimmy im Büro."
"Das ist mein Vater!"
"Nein, wirklich? Dann muss Lois Lane Deine Mutter sein. Du bist zu beneiden!"
"Wirklich? Warum?"
Justine klimperte mit ihren Armreifen. "Zwei so berühmte Reporter als Eltern zu haben, da müssen einem ja zum «Daily Planet» Tür und Tor offen stehen!"
"Es hat bestimmt einen Vorteil, das gebe ich zu. Aber ich will es aus eigener Kraft schaffen, ein guter Reporter zu werden."
"Ah! Du hast einen Schatten über Dir, stimmt`s?"
Sanna seufzte auf. "Einen größeren, als Du Dir vorstellen kannst!"
Sie wurden in diesem Moment von Max unterbrochen, der zu ihnen in ihre Abteilung kam. "Was habe ich gehört? Wir haben eine neue Mitarbeiterin?"
"Oh, hallo Max!" Justine hob grüßend die Hand. "Darf ich Dir Sanna vorstellen? Sie ist meine neue Partnerin."
"Deine Partnerin? Du willst Ihr doch nicht mit Deiner sogenannten Story Flausen ins Ohr setzen?"
Wütend hob Justine ihre Hand, um Max einen imaginären Boxhieb zu versetzen. "Es sind keine Flausen, merk Dir das!"
"Na, das werden wir ja sehen! Ich verstehe nicht, warum Dich Jimmy so lange daran rumbasteln lässt!" Er wandte sich an Sanna. "Justine meint nämlich, unser schönes Metropolis verwandelt sich bald in Sodom und Gomorrah." Lachend zwinkerte er Sanna zu.
Sanna sah ihn nachdenklich an. Sie wusste nicht, was Justine an ihm fand. Sicher, er sah sehr gut aus. Er war groß, größer als ihr Vater und hatte dunkelblondes, kurzes Haar. Sein Gesicht war ebenmäßig und er trug einen Dreitagebart. Dabei hatte er etwas Schelmisches an sich - als würde er gerade über einen Streich nachdenken. Außerdem verströmte er eine große Portion Selbstbewusstsein - er war sich der Wirkung auf das weibliche Geschlecht durchaus bewusst. Doch Sanna waren ruhigere Männer lieber. Ihren Erfahrungen nach konnten sie einen Gegenpol zu ihrer eigenen Energie bilden.
"Warum gerade Sodom und Gomorrah?" fragte sie neugierig..
"Weil ausgerechnet vor ihrer Haustür eine Prostituierte zusammengebrochen war. Sie war zwar bis unter die Halskrause mit Drogen vollgestopft, aber Justine ..."
"Hör auf, Max!" Justine schlug ihm jetzt einen Stapel Papier auf den Kopf. "Das erzähle ich ihr selbst!"
"Na prima - damit sie auch auf so seltsame Ideen kommt wie Du."
"Was willst Du eigentlich hier?" fragte ihn Justine unwirsch. "Wollte Jimmy Dir nicht den Hintern heiß machen?"
"Das hat er schon! Deswegen habe ich auch Zeit für ein Mittagessen. Ich wollte Sanna fragen, ob sie nicht mitkommen wollte." Er sah sie fragend an. "Sozusagen ein Willkommensessen."
Sanna schüttelte den Kopf. "Nein, danke! Ich habe mittags noch was zu erledigen."
Prustend ließ sich Justine auf ihren Stuhl fallen. "Pech gehabt, Max!" sagte sie lachend. "Sie ist immun gegen Dich!"
Er wurde rot. "Wenn sie etwas vorhat, hat sie etwas vor. Morgen ist schließlich auch noch ein Tag!"
Justine begann zu grinsen. "Frag doch mich!"
"Nein, Dich habe ich einmal zu oft gefragt!"
"Selbst schuld. Du wusstest genau, dass ich ja sagen würde!"
"Es war der größte Fehler meines Lebens!"
"Meiner auch, falls Dich das tröstet!"
"Ja, ja!" Er hob abwehrend die Hand. "Darüber streite ich nicht mehr mit Dir! - Wie geht es eigentlich Sue?"
"Sie ist im Kindergarten. Ich wollte sie um vier Uhr abholen!"
"Um vier Uhr schon? - Dann beeilst Du Dich besser mit Deiner Story. Vielleicht schaffst Du es, bis heute Nachmittag Metropolis Halbwelt zu säubern." Mit einem spöttischen Auflachen ging er fort.
Sanna sah sie fragend an. "Fehler?"
"Ach!" Sie verdrehte unwillig die Augen. "Er ist mein Exmann und der Vater meiner Tochter."
"Du hast eine Tochter?"
"Und was für eine Süße. Ganz der Papa."
"Von Max? Ward Ihr wirklich verheiratet?"
"Verheiratet?" Justine blickte sie sinnend an. "Es war bestimmt die kürzeste Ehe in ganz Metropolis. Sie dauerte nicht einmal einen Monat. Denn Max ist kein Mann zum Heiraten, dass habe ich ganz schnell feststellen müssen. Das Beste daran war, dass wir genug Zeit miteinander verbracht haben, um Sue zu zeugen. Max ist nichts anderes als ein charmanterGigolo. Du kannst nie sicher sein, dass er nicht nebenher irgendeine Flamme laufen hat! Halt also besser Dein Herz fest, bis Du einen anständigen Mann triffst!"
"Ich glaube nicht, dass ich in Gefahr geraten werde."
"Eine weise Entscheidung. Am gebrochenen Herzen ist schon so mancher gestorben!" Sie stand auf. "Ich werde Dich jetzt mit unserem "M.f.a" bekannt machen!"
"Was ist ein M.f.a.?"
"Das steht für Mädchen für alles. Unser Bürobote. Er heißt Dave Potter. Aber wir nennen ihn alle nur Dave."
Die beiden Frauen gingen an den verschiedenen Abteilungen vorbei. Jimmy, der von seinem Büro heraus zu ihnen hinüberblickte, musste unwillkürlich grinsen. Ein verschiedeneres Paar konnte man sich nicht vorstellen: Justine, mit ihren kurzen Stoppelschnitt und dem Hippielook und daneben Sanna, im Kostüm und lange, über den Rücken hinabfallende Haare. Auf den ersten Blick mochten sie vielleicht nicht zusammenpassen, doch ein untrüglicher Instinkt sagte ihm, dass die Frauen sich wunderbar ergänzen würden. Und sein Instinkt hatte ihn noch nie enttäuscht, seit er zum Chefredakteur aufgestiegen war.

Dave Potter gefiel Sanna. Er war ein schüchterner und höflicher Junge und durfte so um die siebzehn Jahre alt sein. Er hatte wie Justine rotes, strubbeliges Haar und eine Stupsnase mit vielen Sommersprossen. Laut Justine war er zudem sehr intelligent sowie ein Genie im Computerbereich.
"Wenn Du irgend etwas brauchst, musst Du es nur sagen!" meinte Justine und klopfte Dave auf die Schulter. "Er findet alles!"
"Zum Beispiel?"
"Alte Artikel, Listen, Geburtsurkunden, Berufszugehörigkeit ... Such Dir was aus!"
Sanna lächelte dem Jungen zu. "Fundierte Grundarbeit, was?"
"Ich mache es gern!" sagte er, leicht errötend.
"Es bleibt ihm auch nichts anderes übrig!" Justine gab ihm einen freundschaftlichen Stoß. "Jimmy würde ihm sonst den Marsch blasen!"
"Das kann ich mir vorstellen." Nachdenklich sah Sanna zu Jimmys Büro. "Er macht mir nicht den Eindruck eines geduldigen Menschen."
"Das kommt nur davon, weil er als Bürobote selbst rumgescheucht wurde." Dave senkte verschwörerisch seine Stimme. "Das hat er selbst erzählt."
Justine klatschte in die Hände, so dass ihre Armreifen wild klimperten. "Genug palavert. Wir haben schon fast Mittag, ohne dass wir etwas geleistet haben. Fürs Rumstehen werden wir nicht bezahlt!"
"Wie weit bist Du denn mit Deiner Arbeit?" fragte Dave, Justines Worte überhörend.
"Noch nicht sehr weit. Irgendwie bin ich steckengeblieben!"
"Zeig mir doch Dein Material", schlug Sanna vor. "Schließlich bin ich jetzt dazu da um Dir zu helfen."


Die nächsten Stunden verbrachten die Frauen damit, Justines Material zu sichten. Es bestand aus Stapeln von Papier und vielen einzelnen, kurzen Notizen. Es war Sanna schleierhaft, wie Justine damit zurechtkam und erst, nachdem sie jeden der Zettel aufgenommen, gelesen und sortiert hatte, bekam sie langsam eine Ahnung vom dem, an was Justine gerade arbeitete. Jetzt verstand sie auch Max Belustigung: es war wirklich etwas phantastisch.
"Verstehe ich das recht?" sagte Sanna schließlich einige Stunden später, auf den Berg von Notizen blickend. "Du beschuldigst den Staatsanwalt von Metropolis, der Kopf eines organisierten Prostituiertenrings zu sein? Und zwar nur, weil diese Frau in der Nähe Deines Hauses zusammengebrochen war und sie Dir zugerufen hat, Du sollst in das Haus neben dem Gerichtsgebäude gehen?"
"Sie hat es mir nicht nur zugerufen. Sie hat mich richtig angefleht! Es war eindeutig, dass sie zu mir gehen wollte und kurz davor abgefangen wurde."
"Wieso war Max der Meinung, dass sie mit Drogen abgefüllt war?"
"Ich habe ihm von der Geschichte erzählt. Und ich habe ihm auch gesagt, was ich gesehen habe: Diese Frau war eindeutig zu!"
"O.K." Sanna hob die Hand. "Ich verstehe - aber warum ist sie dann zu Dir nach Hause gekommen und nicht in den "«Daily Planet»?"
"Vielleicht war es ihr zu riskant. Ein Besuch im berühmtesten Redaktionsgebäude der Stadt ist ziemlich offensichtlich."
Sanna nahm einen anderen Zettel und studierte ihn. "Hier steht, dass sie einen osteuropäischen Akzent hatte."
"Ja. Polnisch, russisch - irgendwas. In meinen Ohren klingen die alle gleich."
"Hast Du sie noch einmal getroffen?"
"Nein. Ich bin zwar am nächsten Tag in dieses gewisse Haus gegangen, aber ich wurde von einem Gorilla hinter der Eingangstür ganz schnell wieder hinauskomplimentiert."
"Aber wie kommst Du jetzt auf den Staatsanwalt?"
"Ihm gehört das Gebäude!"
"Aber ein Staatsanwalt ... !"
"Klingt alles ziemlich blöde, oder?"
"Na ja. Ein bisschen schon. Andererseits gibt es die seltsamsten Sachen."
"Das stimmt. Nehmen wir zum Beispiel den Helden der Nation. Superman. Jetzt rettet er uns schon über dreißig Jahre und man weiß immer noch nicht, wo er seine einsamen Abende verbringt."
Sanna warf ihr einen misstrauischen Blick zu. "Wie kommst Du ausgerechnet auf Superman?"
"Ich habe es läuten hören, dass er über die Stadt geflogen ist."
"Er ist hier? Bist Du Dir sicher?"
"Bin ich! Dave hat es vorhin gesagt, und wenn Dave es sagt, stimmt es auch." Lachend schüttelte Justin Sannas Arm. "Warum bist Du so nervös? Hast Du eine Schwäche für unseren Nationalhelden?"
"Ich? Bestimmt nicht!" Sanna schob die Blätter vor ihr zusammen. "Justine, sei mir nicht böse, aber ich muss jetzt gehen. Machen wir morgen weiter?"
"Natürlich." Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. "Es ist sowieso bald vier Uhr. Ich muss Sue abholen."
" Deine Tochter?"
"Ja. Weißt Du was? Besuch mich doch mal. Ich stelle sie Dir dann vor!"
"Gern. Ich mag Kinder!"
"Wer nicht? Bis morgen Sanna! Bye!"

Sanna winkte ihr zum Abschied zu. Dann ging sie schnell aus dem Redaktionsgebäude und lief zur U-Bahn. Jetzt, wo sie wusste, welchen Weg sie nehmen musste, war sie doppelt so schnell wie das letzte Mal. Auch der Weg zu ihrem Haus war jetzt kein Problem mehr für sie.
Ein gewisses Glücksgefühl überkam sie, als sie die Treppen zu ihrer Wohnung hochstieg. Sanna fand, dass sie auch allen Grund dazu hatte: Ihr erster Arbeitstag war gut gelaufen, sie hatte eine Partnerin, mit der sie sich auf Anhieb verstand, und es erwartete sie eine frischrenovierte Wohnung mit ihren eigenen Möbeln. Fehlte nur noch ein gutes Essen. Zufrieden schloss sie die Türe zu ihrer Wohnung auf. Doch als sie den Schlüssel in seinem Schloss herumdrehte, spürte sie plötzlich eine leichte Berührung auf ihrem Hals. Erstaunt fasste sie an die bewusste Stelle - und fand ein kleines, nasses Papierstück. In diesem Moment hörte sie hinter sich ein leises Kichern. Schnell drehte Sanna sich um. Auf der Treppe zum Dach saßen zwei Jungen. Der eine von ihnen hatte ein leeres Röhrchen in der Hand, während der andere kleine Papierkugeln hielt. Die Kinder waren Zwillinge.
Sanna trat einen Schritt auf sie zu. "Wer seid Ihr denn?" fragte sie neugierig.
Die Jungen standen auf. "Wir sind Ben und Tom."
Der zweite Junge nickte zur Bestätigung. "Und wir wohnen im Parterre."
"Ben und Tom?" Sanna reichte ihnen die Hand. "Ich heiße Sanna Kent. Ich wohne seit gestern hier."
"Das wissen wir!" sagte einer von den Jungen. "Du bist ziemlich schnell eingezogen!"
Sanna erschrak. "Meint Ihr?" Sie versuchte ihrer Stimme ihre Beunruhigung nicht anmerken zu lassen.
"Du hast wohl die ganze Nacht gearbeitet?"
"Ja, das habe ich tatsächlich!" Erleichtert über die Erklärung nickte Sanna mit dem Kopf. "Deswegen bin ich jetzt müde, versteht Ihr das?"
"Klar, doch! Wer die ganze Nacht arbeitet, ist natürlich müde. Sollen wir leise sein?"
Lächelnd sah Sanna auf die Jungen. Sie sprachen immer abwechselnd. Erst Ben, dann Tom. Oder umgekehrt, sie wusste es nicht. "Wie alt seid ihr denn?"
"Beinahe acht."
"Beinahe acht? Sagt mir, wenn Ihr Geburtstag habt. Ich backe Euch dann einen Kuchen!"
"Wirklich? Du kannst Kuchen backen?"
"Ich bin Weltmeisterin darin!"
"Mann, das ist ja toll. Dürfen wir dabei zusehen?"
"Auf keinen Fall. Sonst brennt er an."
"Schade!" Der eine Junge fasst den anderen an der Hand. "Komm Ben, wir gehen. Die Frau ist müde!"
Sanna sah den Jungen zu, wie sie die Treppe hinuntergingen. "Nette Jungs!" dachte sie. "Und nicht dumm. Sie haben doch tatsächlich bemerkt, dass ich heute früh sehr schnell war." Immer noch lächelnd öffnete sie Tür zu ihrer Wohnung.
Es war ihr Glück, dass Mrs. Milers ungern Treppen stieg. Wäre sie so neugierig wie die Zwillinge, so hätte sie sich bestimmt über das neue Aussehen des Appartements gewundert. Denn statt der pinkfarbenen Tapete hatte Sanna eine zarte, blaue angeklebt. Die Möbel waren alle stilvoll aus dunklen Holz. Unter dem Fenster stand eine weiße Sitzgarnitur mit einem kleinen Marmortisch. Grünpflanzen vervollständigten das Ensemble. Nur die Küchenzeile hatte sie so belassen, wie sie war. Die Vorbesitzerin mochte den Geschmack einer Barbiepuppe gehabt haben, aber sie hatte genug Verstand besessen, eine weiße Küche zu kaufen.
Das erste, was Sanna tat, als sie ihre Wohnungstür hinter sich geschlossen hatte, war das Fenster zu öffnen. Wenn Superman wirklich in Metropolis war, würde er es sich bestimmt nicht nehmen lassen, bei seiner Tochter vorbeizuschauen.

Es war schon dunkel, als Sanna den Luftzug vom Fenster spürte. "Hi, Dad!" sagte sie, ohne sich umzudrehen.
"Hallo Liebes!" sagte ihr Vater hinter ihr. "Was kochst Du?"
Sanna drehte sich zu ihm um. Sie mochte ihre Schwierigkeiten mit ihm haben, aber sie musste auch zugeben, dass sie jedes Mal ein gewisser Stolz erfüllte, wenn sie ihn in seinem Kostüm sah. "Spaghetti mit Pilzen. Isst Du mit?"
"Gern." Ihr Vater verwandelte sich in Clark Kent. "Hast Du die Wohnung renoviert?"
"Heute morgen. Sieh Dich ruhig um!"
Beifällig ging Clark Kent durch die Wohnung. Sie gefiel ihm. Den guten Geschmack hatte Sanna von ihrer Mutter geerbt, trotzdem konnte man überall Sannas eigene Note erkennen.
Seine Tochter hatte in der Zwischenzeit den Tisch gedeckt und das Essen aufgetragen. Sie war eine gute Köchin, sie konnte jetzt schon ohne weiteres einem Vergleich mit ihrer Großmutter standhalten. Lächelnd sah Clark auf seine Tochter. "Wie war Dein erster Tag?" fragte er freundlich.
"Sehr gut!" Sie begann zu erzählen. Als sie ihm jedoch von Justines Verdacht erzählte, runzelte er nachdenklich die Stirn.
"Ihr müsst sehr vorsichtig mit Euren Behauptungen sein. Bringt die Story erst, wenn Ihr eindeutige Beweise habt. Ich will nicht, dass meine Tochter wegen übler Nachrede hinter Gitter landet!"
"Natürlich Dad! So viel gesunden Menschenverstand darfst Du mir schon zutrauen!"
"Sanna. Das tue ich auch. Ich will nur nicht ..."
Er verstummte und begann zu lauschen. Schließlich legte er bedauernd das Besteck fort. "Es tut mir leid, Sanna. Ich muss gehen!"
"Ich weiß. Ich habe es auch gehört. Geh ruhig!"
"Wir sprechen danach weiter. Ich bin gleich wieder hier."
Sanna seufzte auf. "Wenn Du meinst. Ich bin da, falls Du mich suchst."
Resigniert sah sie ihrem Vater nach, wie er wieder durch das Fenster verschwand. Sie glaubte nicht, dass er wiederkam. So wie es sich angehört hatte, war irgendwo eine Bombe hochgegangen - er würde bestimmt die ganze Nacht damit zu tun haben. Arme Mom. Sie würde wieder einmal alleine aufwachen.

Am nächsten Vormittag wurde sie von Jimmy angesprochen. "Sanna, könntest Du bitte einmal zu mir kommen?"
Unwillig sah Sanna auf. Sie war gerade dabei gewesen, zusammen mit Justine ihre Informationen in den Computer einzugeben. Jimmys Unterbrechung kam ihr sehr ungelegen.
Er bemerkte ihren Blick und zwinkerte ihr zu. "Du hast Besuch. Dein Vater will Dich sprechen!"
"Oh!" Schnell stand sie auf und folgte ihrem Chef. "Er ist hier?"
"Ja. So ein Zufall, nicht wahr?"
"Ja, wirklich!"
"Er ist in meinem Büro. Viel Spaß!"
Sanna nickte und öffnete die Tür zum Büro des Chefredakteurs. Clark stand vor der Bilderwand und sah sie sich an. Als sie die Tür ins Schloss fallen ließ, drehte er sich um. Sein Gesicht zeigte so etwas wie Bedauern.
"Wir haben gestern nicht weitersprechen können. Entschuldige!"
"Schon gut. Wie ist es gelaufen?"
"Eine Autobombe. Man wollte eine Bank überfallen."
"Ich habe es mir gedacht. Es hat sich schon so angehört."
"Darüber wollte ich mit Dir sprechen!" Er schwieg kurz, als wüsste er nicht, wie er beginnen sollte. Dann sagte er: "Ich verstehe nicht, wie Du so gelassen dabei bleiben kannst. Du hast es gehört, trotzdem isst Du seelenruhig weiter. Obwohl Du die Möglichkeit hast, den Menschen zu helfen, weigerst Du Dich, es zu tun! Selbst, wenn Hunderte von Unschuldigen von einer Katastrophe bedroht werden, schaust Du fort - ja, tust gerade so, als würde es Dich nicht einmal angehen." Clark machte eine Pause. Dann sagte er: "Sanna! Wie kannst Du das nur mit Deinem Gewissen vereinbaren?!"
"Dad, bist Du nur hergekommen, um wieder einmal mit mir darüber zu streiten?"
"Ich will mich nicht mit Dir streiten. Aber ich werde Dir solange damit in den Ohren liegen, bist Du mir eine befriedigende Antwort für Deine Weigerung gibst!"
"Nein, Dad. Du wirst Dich erst zufrieden geben, wenn ich endlich an Deiner Seite mitfliege." Sie holte tief Luft. "Aber darauf kannst Du lange warten! Ich werde es niemals tun. Niemals!"

"Warum, Sanna?"
"Es reicht, wenn einer Mom zu Hause läßt, oder?"
"Deine Mutter stand immer hinter den Aktionen von Superman!"
"Ja, das hat sie. Aber Du hast nie gesehen, wie traurig sie dabei war, wenn wir wieder einmal Weihnachten alleine verbracht hatten. Dad - sie hat mich quasi alleine aufgezogen. Andere Väter waren wenigstens an dem Geburtstag ihres Kindes da - die Geburtstage, an denen Du teilgenommen hast, kann ich an einer Hand abzählen!"
"Das kann doch nicht der Grund sein, Deine Bestimmung abzulehnen!"
"Er ist einer von vielen. Weißt Du, was ich oft gedacht habe? Dass Du nie eine Familie hättest gründen dürfen. Es hat uns allen mehr geschadet, als genützt. Mom ist eher Witwe als verheiratet!"
"Harte Worte, Sanna!"
"Aber sie sind wahr!" Sie wandte sich ab und sah aus dem Fenster. "Außerdem will ich ein normales Leben führen - soweit das überhaupt mit einem Supergehör und Röntgenblick geht. Und ich will nicht, dass die Leute mit dem Finger auf mich zeigen und sagen: Seht mal, da fliegt Supermans Tochter! Ist sie nicht süß?"
"Hast Du Angst vor einem Vergleich?"
"Wer hätte nicht Angst, mit Dir verglichen zu werden?"
Ihr Vater schwieg. Er hatte sich immer als guten Vater gesehen. Doch in Sannas Worten steckte auch ein Körnchen Wahrheit. Es war nie leicht für ihn gewesen, seine Familie mit den Aktivitäten von Superman unter einen Hut zu bekommen. Oft hatte er es selbst bedauert. Aber Lois wusste, auf was sie sich einließ, als sie mit ihm vor den Traualtar gestanden hatte. Er hob resigniert die Schultern. Er konnte seine Tochter nicht zwingen. So sehr er es sich wünschte, dass sie in seine Fußstapfen treten würde.
"Ist das Dein letztes Wort?" fragte er deshalb traurig.
Sannas Herz krampfte sich zusammen, als sie das unsägliche Bedauern in seinen Worten hörte. Doch ihr Entschluss stand fest. "Ja, Dad. Ich liebe Dich, aber ich will nicht "Superdaughter" werden.
"Dann muss ich es wohl akzeptieren." Rasch trat er auf sie zu und nahm sie in den Arm. "Ich wünsche Dir viel Glück mit Deiner Story."
"Danke." Sanna gab ihn einen Kuss auf die Wange. "Fliegst Du heute noch nach Hause?"
"Ja. Soll ich Deiner Mutter etwas ausrichten?"
"Sage ihr, dass ich sie heute noch anrufen werde!"
Clark nickte. Dann ging er zur Tür und öffnete sie. Bevor er hinausging, drehte er sich noch einmal zu ihr um. "Weißt Du, dass ich Dich ein bisschen beneide? Ich hatte hier im «Daily Planet» meine besten Jahre. Alles war noch neu und aufregend." Er zwinkerte vergnügt. "Besonders Deine Mutter!"
Lächelnd sah ihm Sanna hinterher. Ob sie jemals jemanden finden würde, der sie so bedingungslos liebte?

Immer noch lächelnd verließ sie das Büro und ging zurück zu ihrem Arbeitsplatz. Das Gespräch mit ihrem Vater war besser gelaufen, als sie gedacht hatte. Sie war froh darum. Ihre Erfahrungen hatten gezeigt, dass es nicht immer einfach war, einen Disput mit ihm zu führen. Und dieses Mal hatte es wirklich so ausgesehen, als wäre dieses Thema endlich abgehakt worden.
Justine saß nicht mehr am Schreibtisch. Statt dessen saß Max McColin auf ihrem Stuhl und las ihre Notizen am Bildschirm. Als er sie kommen hörte, drehte er sich grinsend um.
"Na, nettes Gespräch gehabt?"
"Ich wüsste nicht, was es Sie angeht."
"Nichts, ich weiß."
"Genauso wenig, wie Sie meine Notizen etwas angehen dürften!"
"Sanna, verachten Sie nie den Rat eines Profis! Hier zum Beispiel ..." Er zeigte auf eine Stelle am Bildschirm
Unwirsch unterbrach sie ihn. "Danke, aber ich bin selbst Profi genug."
"Ich werde Ihnen bestimmt nicht widersprechen. Vor allem dann nicht, weil ich Sie fragen wollte, ob sie heute mit mir essen wollen."
"Heute? Ich fürchte ..."
"Oh, nein Sanna. Geben Sie mir nicht schon wieder einen Korb."
Sie sah ihn leicht belustigt an. "Das sind sie nicht gewohnt, was?"
Max lächelte verhalten. "Nicht unbedingt. Was hat Ihnen Justine denn erzählt?"
"Nicht viel."
"Aber es reicht, dass Sie deswegen nicht mit mir essen wollen."
"Ich habe andere Gründe." Sanna verschränkte ihre Arme. "Würden Sie jetzt bitte von meinem Stuhl aufstehen?" sagte sie auffordernd.
Prompt stand Max auf. Einen Diener andeutend, bewegte er sich langsam rückwärts zum Mittelgang. Dort stieß er mit Justine zusammen.
Lachend gab sie ihm einen Stoß auf den Rücken. "Na, Max. Übst Du Dich in Bescheidenheit?"
Er antwortete nicht. Abrupt drehte er sich um und lief davon. Justine sah ihm mit hochgezogenen Augebrauen nach. "Was hat er denn?"
"Einen Fleck auf seiner Aura."
"Oho. Hast Du ihm den verpasst?"
"Ich fürchte, ja." Sanna griff nach ihrer Jacke. "Was meinst Du. Wie lange gibt uns Jimmy Zeit, um einen ersten Bericht fertig zu machen?"
"Ich habe eben noch drei Tage rausgehauen."
"Du hast mit ihm gesprochen?"
"Nachdem er damit fertig war, Dave zur Schnecke zu machen. Ich weiß nicht, warum er immer auf dem armen Jungen herumhacken muss."
"Das muss er wohl. Hör mal, Justine. Ich hatte heute Nacht eine Idee: wir gehen noch einmal zu diesem ... Etablissement und versuchen es zu zweit. Was hältst Du davon?"
"Ich glaube nicht, dass das etwas nützt, wenn wir zusammen dort auftauchen."
"Vielleicht sollten wir nicht unbedingt als Reporterin kommen. Wie wäre es mit der Nummer des Stromablesers?"
Justine schüttelte den Kopf. "Das ist zu offensichtlich. Vielleicht könnten wir ja als Vertreterinnen für Kondome auftreten!" Sie lachte.
"Guter Witz, wird aber nicht funktionieren." Plötzlich hellte sich Sannas Gesicht auf. "Justine - hast Du ein Gefühl für Innenarchitektur?"
"Ich glaube, jede Frau hat eine gewisse Spur davon."
"Gut. Wir versuchen ihnen weiszumachen, dass wir in Metropolis ein Büro für Innenarchitektur eröffnet haben und neue Kunden suchen. Ich habe gestern meine Wohnung neu eingerichtet und deswegen Unmengen von Prospekten mitgenommen. Vielleicht können wir auf diese Art und Weise einen kurzen Blick hineinwerfen."
Belustigt sah Justine Sanna an. "Du bist nicht so leicht abzuweisen, was?"
"Das habe ich von meiner Mutter geerbt."
"Praktisches Gen. Von meiner Mutter habe ich nur meine Haarfarbe."

Das Gerichtsgebäude stand mitten in der Innenstadt. Es strahlte schon von außen Würde und Integrität aus. Das Haus daneben war zwar etwas schmaler und nicht ganz so gut erhalten, aber deswegen nicht weniger prachtvoll. Plötzlich kam Sanna ihr Vorhaben unsinnig vor. Wer würde in diesem Gebäude ein Bordell vermuten. Noch dazu betrieben vom Staatsanwalt.
Justine klemmte sich die Mappe mit Sannas Prospekten fester unter den Arm. "Soll ich vorgehen?" fragte sie leise.
"Das braucht es nicht," gab Sanna zurück. "Ich gehe schon." Nach einem langen und tiefen Atemzug ging Sanna auf das Gebäude zu. Sie wollte die erste sein, die es treffen würde, falls ihnen irgend jemand in dem Haus feindlich gesinnt sein sollte.
Mit raschem Schritt ging Sanna die wenigen Treppen zur großen Eingangstüre hoch. Forsch klingelte sie an der großen Glocke. Schon nach kurzer Zeit wurde die Tür geöffnet. Ein Mann in einer Dienerlivree öffnete ihr. Sanna stockte. Sie hatte nicht unbedingt einen Butler erwartet, erst recht nicht einen, der die Ausmaße eines Sumoringers hatte.
"Ähm ..." Schnell fasste sie sich wieder. "Wir hätten gern die Hausherrin gesprochen."
Sie wurde mit einem finsteren Blick bedacht. "Was ist der Grund?"
"Das möchten wir selbst unterbreiten!"
"Tut mir leid, sie ist nicht zu sprechen!"
Schnell trat Justine vor. Betont herablassend sagte sie: "Sie wird mit uns sprechen wollen, sobald sie erfährt, um was es sich handelt!"
Sanna nickte. "Es ist wichtig!"
Der Türsteher wurde unsicher. Schließlich öffnete er die Tür ganz und ließ die beiden Frauen in die großes Eingangshalle hinein. Unfreundlich sagte er: "Warten Sie bitte! Ich werde Sie anmelden."
Als der Mann gegangen war, beugte sich Justine zu Sanna vor. "Was machen wir jetzt?"
"Du bleibst hier und sprichst mit der Hausherrin. Ich schaue mich inzwischen hier um!"
"Einverstanden." Justine nickte. "Beeil Dich!"
Rasch durchquerte Sanna die Halle und lief zu der großen Treppe, die der Halle gegenüber der Eingangstür lag. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass niemand im Begriff war, sie hinunterzusteigen, huschte sie die Stufen hinauf. Oben angekommen, sah sie sich um. Sie stand in einem langen Gang, der mit einem dunkelrotem Teppich belegt war. Vom Gang aus gingen mehrere Türen ab, so wie Sanna es von einem öffentlichen Gebäude her kannte. Vorsichtig öffnete Sanna eine der Türen. Für einen Moment war sie verwirrt, bis sie erkannte, dass sie in einem Salon stand. In der Mitte des geschmackvoll eingerichteten Raumes stand ein schwarzer Flügel. Um den Flügel herum waren mehrere Stühle herumdrapiert, als wollte man demnächst ein Konzert zum Besten geben.
Plötzlich wurde Sanna von hinten angesprochen: "Wer sind Sie und was wollen Sie hier?"
Erschrocken drehte sie sich um. Vor ihr stand eine Frau mittleren Alters. Ihr Gesicht sah jedoch verbraucht aus, was sie älter wirken lies. Über ihren dicken Bauch spannte sich eine weiße Rüschenschürze und auf ihrem Kopf saß ein adrettes Häubchen.
"Entschuldigen Sie bitte mein Eindringen," sagte Sanna höflich und schüttelte ihre Haare zurück. "Aber der Mann am Eingang musste kurz fort und da dachte ich ... !"
"Ach so!" Das Hausfräulein atmete auf. "Sie sind die Neue!"
"Äh - ja, das stimmt - ich bin die Neue!" Sanna lächelte. "Und Sie sind ... ?"
Das Hausfräulein lächelte beflissen zurück. "Ich heiße Claudia. Ich zeige ihnen am besten gleich alles. Wo ist ihr Gepäck?"
"Das kommt noch nach. Ich glaube, das Auto mit meinen Sachen ist im Stau steckengeblieben."
"Ja, das kommt vor. Kommen Sie bitte, Miss ... ?"
"Lyker, Francine Lyker."
"Seltsamer Name - Sie kommen wohl nicht aus dem Osten?"
"Doch, doch," beeilte sich Sanna zu sagen. "Aber mein Vater war Engländer. Er folgte meiner Mutter nur nach Russland."
"Das gibt es auch? Dass jemand freiwillig nach Russland will? Tja, wo die Liebe hinfällt ... !"
Während des Gespräches waren die Frauen auf den Gang getreten und Claudia hatte sie zu einer der Türen geführt. Jetzt stieß sie diese auf. "So!" Mit einer weitausholenden Geste zeigte sie Sanna das Schlafzimmer, in dessen Mitte ein breites Bett stand. "Das ist ab sofort ihr Refugium. Mrs. Canters, die Hausherrin, wird später noch kommen und mit Ihnen die Bedingungen und die Bezahlung regeln. Ruhen Sie sich erst noch einmal aus. Heute Abend ist hier nämlich die Hölle los. Staatsanwalt Carter feiert hier inoffiziell noch seinen Geburtstag nach."
"Entschuldigen Sie, Claudia", wagte Sanna einen kühnen Vorstoß, "aber wann werde ich mit meinen Dienst beginnen?"
Claudia sah sie erstaunt an und Sanna überlegte schon, ob Justine vielleicht mit ihren Vermutungen völlig falsch gelegen hatte, aber dann sagte die Hausdame: "Na, Sie sind lustig. Heute Abend natürlich. Wozu sind Sie sonst da? Wenn die Herren um acht Uhr eintreffen, haben Sie mit dem leichtesten Fummel, den Sie im Koffer haben, an der Treppe zu stehen. Was hätten Sie denn gedacht?"


Innerlich atmete Sanna erleichtert auf. "Ja, Sie haben recht, wozu bin ich sonst da?" Mit einem nervösen Lachen setzte sie sich auf das Bett. Im Fluge überdachte sie die Möglichkeiten, wie sie die Frau am besten los wurde, als ein helles Läuten vom Gang sie aufhorchen ließ. "Was ist das?" fragte sie misstrauisch.
"Mr. Peters will etwas von mir! Das ist unser Butler. Wahrscheinlich ist nur Ihr Gepäck gekommen."
"Oh!" Sanna schluckte. "Wahrscheinlich." Schnell stand sie auf. "Ich gehe schon. Am besten überprüfe ich selbst, ob alles dabei ist." Mit einem leichten Nicken schob sie sich an Claudia vorbei und ging zur Treppe. Am Ende der Treppe stand Mr. Peters und sah, beide Hände in die Hüfte gestützt, zu ihr nach oben. Von Justine dagegen war keine Spur zu sehen.
Fieberhaft suchte Sanna nach einem Ausweg. Ob sie einfach ganz frech an ihm vorbeigehen sollte? Und wo war Justine? Sie sah sich um. Auf dem Gang war nun auch Claudia. Mit einem leichten Achselzucken trat Sanna schließlich auf die erste Treppenstufe. "Wer nichts für eine Story wagt, hat sie auch nicht verdient!" hatte ihre Mutter ihr einmal erklärt. Leichtfüßig, als wäre es das Natürlichste auf der Welt, trippelte Sanna die Treppe hinunter. Als sie am Butler vorbeikam, tippte sie ihn leicht auf die Schulter. "Danke, Mr. Peters!" sagte sie, betont munter, "ich finde meinen Weg auch alleine hinaus!" Und bevor dieser etwas erwidern konnte, öffnete sie die Eingangstür und schlüpfte ins Freie.
Etwas abseits auf der Straße stand Justine. Als sie Sanna auf sich zukommen sah, seufzte sie erleichtert auf. "Mensch, Sanna!" rief sie und lief auf sie zu. "Bin ich froh, Dich zu sehen! Die alte Schachtel, zu der mich dieser grässliche Mensch geführt hatte, hat mein Schauspiel sofort durchschaut. Bevor ich überhaupt - "Wie wäre es mit einer neuen Tapete?" - sagen konnte, war ich wieder draußen. Jetzt warte ich schon eine Viertelstunde auf Dich, in der ich nicht wusste, ob ich mich freuen soll, dass Du immer noch drin bist oder ob es besser wäre, für Dein Leben zu beten."
Sanna lachte. "Freu Dich lieber. Ich habe einiges herausbekommen!"
"Wirklich? Prima. Was ist es?"
"Als erstes: Du hattest recht! Es ist eindeutig ein Bordell. Aber andererseits glaube ich nicht, dass Deine Informantin aus dieser Hütte kommt. Wer hier arbeitet, rastet nicht aus und will fliehen. Denn hier gibt es für den Staatsanwalt nur beste Ware. Eine Fixerin hat hier bestimmt keinen Zutritt."
"Ich verstehe. Trotzdem muss es einen Anhaltspunkt dafür geben. Warum hätte sie mich sonst hierher geschickt?"
"Ich weiß es nicht. Aber ich bin dafür, die Story morgen schon zu bringen! Denn heute Abend kommt der Staatsanwalt, um ein eine heiße Party zu feiern. Und ich sage Dir, ich werde mit einer Kamera dabei sein! Das lass ich mir nicht entgehen!"

Es war für Sanna nicht weiter schwer gewesen, Justine dazu zu bringen, sie alleine zum Haus neben dem Gerichtsgebäude gehen zu lassen. Justine selbst war am Ende auch froh, einen Abend mit ihrer kleinen Tochter Sue verbringen zu können, als im Dunkeln mit einer Kamera auf der Lauer zu liegen. Sie hatte Sanna nur das Versprechen abgenötigt, vorsichtig zu sein und keine unnötigen Risiken einzugehen. Als ob Sanna ein Risiko abhalten würde - aber das wusste Justine zu ihrem Glück nicht. So hatte sich Sanna bereits kurz nach sieben in einem Baum gegenüber des Hauses versteckt und hielt ihre Kamera bereit. Ihr Plan war es, die Männer zu fotografieren, die das Haus betraten und dann später weitere Bilder durch eines der Fenster zu schießen. Doch inzwischen war es kurz nach acht und kein einziger Mensch war durch die Tür hinein - oder hinausgegangen. Lediglich an dem Gerichtsgebäude herrschte reger Betrieb. Sanna vermutete eine Gerichtsverhandlung, was sie sich auch durch ihr feines Gehör bestätigte. Irgend jemand wurde wegen Diebstahls von mehreren Autos zu einer mehrmonatige Haftstrafe verurteilt.
Eine weitere Stunde verging, ohne dass Sanna auch nur ein einziges Bild machen konnte und sie überlegte bereits, ob die Party des Staatsanwaltes wegen ihres dreisten Eindringens heute Nachmittag abgesagt wurde. Doch auf einmal konnte sie aus dem Saal in der oberen Etage Musik wahrnehmen - jemand spielte auf dem Flügel. Rasch durchleuchtete Sanna mit ihrem Röntgenblick den Saal. Mit Erstaunen nahm sie wahr, dass sich an die zwanzig Menschen in dem Salon befanden.
Fluchend stieg Sanna vom Baum. Sie hätte früher darauf kommen sollen, dass es eine Verbindung zwischen dem Gerichtsgebäude und dem Haus nebenan geben musste. Wer von den Herren würde es auch wagen, in ein Haus zu gehen, das im schlimmsten Fall als ein Bordell auffliegen konnte?
Zu Sannas Erleichterung war es inzwischen dunkel geworden. Vorrausschauenderweise hatte sie sich schwarz angezogen, so dass sie niemand sah, als sie sich nun an der Hausmauer entlangschob. Doch um an die Bilder zu gelangen, die sie sich vorgestellt hatte, musste sie in die oberen Fenster hineinschauen können. Rasch sah Sanna sich um. Niemand war auf der Straße. Leise schwebte sie zum oberen Stockwerk und sah hinein. Neben den wenigen Herren, die alle ein Glas Champagner in den Händen hatten, waren auch Damen anwesend. Und alle hatten den vermutlichst leichtesten Fummel an, der in ihren Schränken zu finden war.
Sanna "wohnte" der Party bei, bis sich jeder in eines der Zimmer verzogen hatte. Erst da schwebte sie wieder auf die Erde. Sie hatte alles was sie wollte. Intimitäten anderer Leute zu fotografieren, war nicht ihre Sache. Es reichte ihr beweisen zu können, dass der Staatsanwalt aus Schuhen von halbnackten Damen trank, die nachweislich nicht mit ihm verheiratet waren. Sie hatte außerdem das unwahrscheinliche Glück gehabt, mit ihrer Kamera festhalten zu können, wie die Dame des Hauses ein dickes Bündel Geldscheine entgegennahm. Sie bevorzugte anscheinend Bargeld. Sanna konnte das verstehen. Banktransaktionen hinterließen immer eine Spur, und in den heutigen Zeiten konnte man sich nicht mehr sicher sein, dass nicht ein gewiefter Hacker im Dienste der Zeitungen sich Zugang zu den Bankcomputern verschaffen und unangenehme Wahrheiten ans Licht bringen würden.

Schon am nächsten Vormittag stand sie, zusammen mit Justine, vor Jimmys Schreibtisch. Gespannt sahen sie ihm dabei zu, wie er zuerst Justines Bericht und dann ihre Bilder überflog. Als er damit fertig war, schüttelte er fassungslos den Kopf: "Ich weiß nicht, worüber ich mich mehr wundern soll." sagte er schließlich. "Über unseren Staatsanwalt, über die Frechheit, direkt neben dem Gerichtsgebäude der Stadt ein Bordell einzurichten oder über die Art der Bilder." Er wandte sich an Sanna. "Wie hast Du die Bilder gemacht? Hattest Du eine Leiter dabei? - Erzähle mir nicht, dass man selbst mit einem Teleobjektiv so detailnahe Bilder schießen kann!"
Sanna lächelte. "Berufsgeheimnis!"
Ungeduldig trat Justine von einem Bein auf das andere. "Was ist jetzt, Chef? Kommt die Story raus?"
"Teils. Es wird nur das gedruckt, was nachweisbar ist. Das heißt: "Staatsanwalt feiert heiße Party im Bordell." Von mir aus können wir auch bringen, dass er Frauen aus anderen Ländern bevorzugt. Nicht akzeptabel dagegen finde ich die Behauptung, er wäre der Initiator eines Zuhälterrings. Das ist doch wohl etwas weit her geholt."
Justine kaute auf ihrer Unterlippe. "Ja", sagte sie schließlich zögernd. "Das gebe ich zu. Aber irgendwie müssen die Frauen doch herkommen."
"Justine! Haben Sie schon einmal den Gedanken gefasst, dass die dort freiwillig arbeiten?"
"Das trifft aber nicht auf die Frau zu, die zu mir wollte."
"Hm." Er warf ihr einen nachdenklichen Blick zu. "Sind Sie ihr denn noch einmal begegnet?"
"Nein!"
Mit einer theatralischen Geste warf Jimmy die Arme hoch. "Was stehen Sie dann noch hier? Suchen Sie sie! Oder muss ich Ihnen erst beibringen, wie man eine Recherche führt?"
"Nein!" antwortete Justine knapp, fasste Sanna am Arm und zog sie mit sich aus dem Büro.
Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, ließ Justine Sannas Arm los und atmete erleichtert auf. "Gott sei Dank! Ich hatte schon Bedenken, er würde unsere Story abwürgen!"
"Warum sollte er? Die Beweise waren doch eindeutig!"
"Da kennst Du James Olsen noch nicht gut genug. Er ist immer darauf bedacht, das Niveau des «Daily Planet» nicht herabfallen zu lassen."
"Und was ist jetzt mit dieser Frau? Wie willst Du sie finden?"
"Wir gehen zu Marcel Lebeck. Er wird uns bestimmt helfen."
"Wer ist das? Einer Deiner Informanten?"
"Wie man es nimmt. Er ist bei der Polizei und hat sein Revier bei mir um die Ecke."

Justine wohnte in einem der vielen Vororte von Metropolis. Hier hatten die Häuser einen kleinen Vorgarten und einen Gehsteig, auf dem Kinderfahrräder standen. Neugierig sah Sanna sich um. In dieser Gegend hätte sie Justine nicht unbedingt vermutet.
Justine bemerkte ihr Erstaunen. "Ich bin hier geboren worden. Stell Dir vor: Ich bin so etwas wie eine höhere Tochter. Natürlich hat sich mein Stand durch die Geburt eines unehelichen Kindes rapide verschlechtert. Deswegen wohne ich wahrscheinlich auch noch bei meinen Eltern: Da ist der völlige Abstieg noch etwas aufzuhalten." Mit einem schiefen Grinsen zeigte sie, während sie ihr altes Auto durch die engen Strassen steuerte, auf ein kleines, geducktes Backsteingehäuse. "Dort bin ich in die Schule gegangen! Es ist auch heute noch ein Schulgebäude und Sue wird eines Tages jeden Morgen hineingehen. Ich hoffe nur für sie, dass sie es mit mehr Freude tun wird als ich damals."
"Und wo ist das Polizeigebäude?" fragte Sanna wissbegierig. Die Gegend gefiel ihr.
Ihre Partnerin fuhr in eine Einfahrt. "Hier ist es. Halte Dich dicht hinter mir! Nicht, dass Dich hier jemand wegen Herumlungerns anzeigt!" Sie lachte.
"Wirklich?" Sanna musste ebenfalls lachen. "Ich dachte, so etwas Kleinbürgerliches gibt es nur in Smallville."
"Dieses Viertel ist Smallville - nur etwas größer." Gemeinsam gingen sie auf das Gebäude zu. Auch die Polizeistation war aus Backsteinen erbaut. In Sannas Augen sah es nur nicht so gemütlich aus, wie die Schule vor wenigen Minuten.
Mit Schwung öffnete Justine die breite Tür und man konnte sehen, dass sie schon viele Male hier gewesen sein musste, denn sie ging grüßend durch die Gänge, wobei sie viele, die ihnen begegneten, mit Namen ansprach. Vor einer milchigen Glastür stoppte sie. Nach einem kurzen Klopfen öffnete sie die Tür und trat ein.
Auf einem Schreibtisch saß ein Mann und telefonierte. Als er die beiden Frauen hereintreten sah, legte er den Hörer auf und drehte sich zu ihnen um. "Justine!" rief er erfreut. Was treibt Dich zu mir?"
Justine lachte und umarmte den Polizisten. "Marcel, darf ich Dir meine neue Partnerin vorstellen?" Sie zeigte auf Sanna. "Das ist Sanna Kent. Sanna - mein Sandkastenverlobter, Marcel Lebeck."
"Sehr erfreut." Sanna reichte ihm ihre Hand. Dann musterte sie ihn kurz. Er war in Zivil - also war er kein gewöhnlicher Polizist, der nur Streife fuhr. Sanna vermutete, dass er irgendwelche Ermittlungen führte. Und sie schätzte sein Alter auf um die dreißig. Schwarze kurze Haare, eine Adlernase und einen leicht stechenden Blick aus dunklen Augen verrieten seine südländische Herkunft. Sie lächelte. Marcel gefiel ihr.
"Dein Sandkastenverlobter, Justine? - Wie soll ich das verstehen?"
Marcel antwortet statt ihrer. "Sie meint, wir kennen uns schon aus der Zeit, als ich ihr noch Dreck in ihre roten Zöpfe gestreut habe und sie mir dafür mein Holzschwert zerbrochen hat." In seiner Stimme schwebte ein angenehmes Timbre mit.
"So ein Erlebnis prägt natürlich für ein ganzes Leben!" vervollständigte Justine seine Worte. "Deswegen ist er auch der einzige Polizist, zu dem ich Vertrauen habe." Sie klopfte ihm auf die Schulter. "Aus diesem Grund bin ich übrigens hier! Ich suche jemanden!"
Marcel seufzte. "Warum habe ich nur gedacht, Du besuchst mich nur, um mir eine Freude zu machen?"

Nach zwei Stunden waren sie wieder unterwegs zum «Daily Planet». Justine zeigte dabei eine sehr zufriedene Miene. Ihr Freund Marcel hatte ihnen sehr geholfen. Er hatte nach ihrer Personenbeschreibung ein Bild anfertigen lassen und hatte es ihnen mitgegeben. Außerdem versprach er ihr, persönlich die Augen nach dieser Frau offen zu halten. Auf Justines Andeutungen hin, der Staatsanwalt wäre in etwas verwickelt, was nicht ganz sauber wäre, reagierte er allerdings gelassen. Lachend hatte er ihre Vermutungen abgestritten und gemeint, der Staatsanwalt sei der integerste Mann, den er kenne.
Weniger gelassen ging es dafür dann im «Daily Planet» zu. Als sie dort eintrafen war buchstäblich die Hölle los. An die fünfzig Menschen hatten sich dort versammelt und diskutierten aufgeregt. Justine musste gewaltsam nach Dave greifen, um den Grund dafür zu erfahren.
"Was ist denn hier los?" fragte sie ihn, während sie ihm am Ärmel festhielt.
"Der Staatsanwalt ist ermordet worden", gab er zur Antwort. "Jemand hat ihm eine Bombe unters Auto geschmuggelt."
"Der Staatsanwalt?" wiederholte sie entsetzt. "Aber wieso?"
"Eine gute Frage, Justine. Millionen Menschen stellen sie mit Dir!"
"Werde nicht sarkastisch." Sie wandte sich an Sanna. "Das ist eine Katastrophe."
Sanna antwortete nicht. Statt dessen ging sie zu einem der Fernseher, die im Raum aufgestellt waren. Alle zeigten das gleiche Programm: Eine Vorort-Reportage über den Anschlag. Mit einem Stirnrunzeln drehte sie sich wieder zu Justine um. "Ob das mit unserer Story zusammenhängt?"
"Das glaube ich nicht! Wie auch? Sie kam ja noch nicht raus."
"Vielleicht hast Du doch recht mit Deinem Verdacht und der Staatsanwalt steckte viel tiefer in der Sache, als wir alle vermuteten."
"Das tröstet mich nicht im geringsten. So wie ich Jimmy kenne, streicht er meinen Artikel aus der morgigen Ausgabe raus." Sie ließ sich auf den nächstbesten Stuhl fallen. "Alles für die Katz!"
"Das sehe ich anders. Können wir der Sache nicht noch etwas nachgehen?"
"Wenn Jimmy uns lässt!"
"Wir bräuchten etwas, was Deinen Verdacht erhärtet", murmelte Sanna. "Etwas, was uns weiterführt."
Mit einem spöttischem Grinsen steuerte Max auf sie zu. "Wie geht es Dir, Justine? Schwimmen Dir die Felle davon?"
Streitlustig richtete Justine sich auf. "Nicht im geringsten! Im Gegenteil. Wir haben unsere Story anscheinend gerade noch rechtzeitig fertig geschrieben."
"Das wird Dir nicht viel nützen. Dein Hauptverdächtiger ist tot und Jimmy wird die Sache mit der Party unter den Tisch fallen lassen!"
Justine warf ihm einen finsteren Blick zu. Bevor sie jedoch etwas erwidern konnte, trat Jimmy zu ihnen. Er legte Justine und Sanna die Hand auf die Schulter. "Justine?" sagte er ernst. "Ich habe Sie lange genug an der Milieugeschichte herumbasteln lassen. Haben sie irgendwelche Anhaltspunkte, wo die Frau nun ist?"
"Noch nicht Chef, aber ..."
"Gut. Wenn das so ist, übernehmen Sie ab sofort die Sache mit dem Anschlag. Gehen Sie zu den zuständigen Leuten und haken Sie dort mal nach. Sanna nehmen Sie mit!"
"Das können Sie nicht machen!" Justine war bei seinen Worten eine Spur blasser geworden. "Mir liegt sehr viel an meiner Sache."
Max trat einen Schritt vor. "Und mit liegt viel an der Story mit dem Staatsanwalt. Lassen Sie mich zum Tatort gehen."
"Nein, Max. Sie gehen wieder zurück zu der Autoschieberbande. Finden Sie endlich heraus, was uns die Polizei verschweigt."
"Chef ... !" Max und Justine riefen es gleichzeitig.
"Keine Wiederrede! Noch verteile ich die Arbeit! - Dave?"
Der schmale Junge sprang zu ihnen. "Ja, Mr. Olsen?"
"Du unterstützt die Damen. Koche ihnen einen Kaffee zur Ermunterung. Beide sehen aus, als könnten sie einen gebrauchen."
"Ja, Mr. Olsen."
"Prima, dann haben wir ja alles geklärt." Jimmy nickte ihnen fröhlich zu. Dann, bevor er die Tür zu seinem Büro schloss, drehte er sich noch einmal zu ihnen um: "Ach ja - Justine, Sanna! Sie werden doch bestimmt verstehen, dass wir ihre Partystory nicht zu diesem Zeitpunkt bringen können, nicht wahr?"
Für vier, fünf Sekunden herrschte Stille zwischen den beiden. Schließlich sagte Sanna, sichtlich amüsiert: "Ist er immer so?"
Max, Justine und Dave verdrehten als Antwort die Augen. Anschließend fragte Dave: "Sanna, wie magst Du Deinen Kaffee? Schwarz, mit Milch oder mit Zucker?"

Die Sonne stand senkrecht über dem Globus des Redaktionsgebäudes, als Sanna und Justine aus der breiten Glastür traten. Der Schatten des Globus warf ein bizarres Bild auf dem Gehweg, der Sanna unwillkürlich an ein verwundetes Tier erinnerte. Das brachte sie dann auf einen Gedanken, der ihr bis jetzt noch gar nicht gekommen war. Rasch wandte sie sich deshalb an Justine: "Wo genau ist die Bombe hochgegangen?"
Justine warf ihr einen erstaunten Blick zu. "Am Ende der Stadt. Ganz entgegengesetzt zu der Seite, wo wir vorhin waren. Warum?"
"Ach deswegen ... !" Sanna verstummte. Sie hatte sich schon gewundert, warum sie die Explosion nicht gehört hatte. Aber selbst die Reichweite ihres Gehörs konnte nicht ganz Metropolis überspannen. "Es ist nichts. Ich habe nur so gefragt." Für einen Augenblick war Sanna unsicher, doch dann stieg sie zu Justine in das Auto. Sie fragte sich, was Clark Kent in so einer Situation gemacht hätte.

Mit ihrem Röntgenblick durchleuchtete Sanna eine halbe Stunde später das, was vom Auto übriggeblieben war. Es war nicht viel. Selbst sie musste erst ein wenig suchen, bis sie das gefunden hatte, was sie suchte: Die Reste der Bombe.
"Ein Zeitzünder", murmelte sie. "Der kann überall angebracht worden sein." Sanna ging um das Auto herum. Von dort war dann zu erkennen, dass unter dem Beifahrersitz ein Geheimversteck eingelassen worden war. Eine metallener Aktenkoffer lag darin und in ihm mehrere Unterlagen. Sie wollte die Papiere gerade näher heranzoomen, als sie von Justine unterbrochen wurde.
"Worauf starrst Du?" fragte sie amüsiert. "Glaubst Du, das Auto kann Dir noch irgendetwas erzählen?"
Lächelnd blickte Sanna auf ihre Partnerin. Wie oft ihr Vater sich wohl solche Sprüche hatte anhören müssen? "Hast Du die Bilder?"
Justine nickte. "Ja. Sowie das Übliche und sogar ein bisschen mehr. Die Polizei war richtig gesprächig. Sie sagte, dass kurz, bevor die Bombe hochging, ein Anruf im Gerichtsgebäude einging und - halt Dich fest - es wurde angekündigt, dass man den Staatsanwalt wegen unkooperativem Verhalten beseitigen wolle."
"Wegen unkooperativem Verhalten? Wem gegenüber?"
"Weiß ich nicht. Aber so sei der Wortlaut gewesen."
"Nicht sonderlich erschöpfend die Auskunft, oder?" Sanna sah zweifelnd auf die Trümmer. Die Leiche des Staatsanwaltes war schon vor ihrer Ankunft weggebracht worden und das Auto selbst stand nur noch bis zum Abschluss der Spurensicherung hier. Plötzlich kam ihr eine Idee: "Weißt Du, wohin sie das Auto bringen werden?"
"Ins Industrieviertel am nördlichen Teil von Metropolis, so viel ich weiß. Die Polizei hat in der Gegend eine spezielle Garage, extra für solche Fälle, wie diese. Dort wird es auseinandergenommen - obwohl ich meine, dass nicht mehr viel zum auseinandernehmen da ist!"
"Ich finde, der Anruf, der bei der Polizei eingegangen ist, müsste Jimmy genügen, uns die Sache wieder in die Hand zu geben", lenkte Sanna wieder zum ursprünglichen Thema zurück. "Meinst Du, wir finden vor der Polizei heraus, wer hinter dem Attentat steckt?"
"Ich bin sicher, meine verhinderte Informantin könnte uns einen Hinweis geben. Haben wir sie, dann haben wir auch die Drahtzieher." Sie seufzte. "Ich hoffe, Marcel kann uns weiterhelfen."

In der folgenden Nacht suchte sie die Werkstatt, von der Justine gesprochen hatte, auf. Das Tor stellte für sie keine Schwierigkeit dar. Mit einem kurzen Ruck riss sie das einfache Vorhängeschloss aus den Bügeln und warf es zur Seite - es konnte ihr egal sein, was die zuständigen Leute am nächsten Morgen darüber denken würden. Leise schob sie anschließend das Tor zur Seite. Im Inneren der Werkstatt herrschte Dunkelheit. Doch Sanna brauchte keinen Lichtschalter. Sie würde auch im Inneren eines Walfisches noch gut sehen können.
Das Auto stand in der Mitte des Raumes. So weit Sanna es erkennen konnte, waren die Trümmer, seit sie diese zum ersten Mal gesehen hatte, nicht verändert worden. Erleichtert ging Sanna zu den Teilen und durchleuchtete sie. Eine gewisse Befürchtung, zu spät zu kommen, hatte sie nicht unterdrücken können. Dass noch nicht daran gearbeitet worden war, verschaffte ihr den Vorsprung, den sie sich erhofft hatte.
Mühelos schob Sanna die Teile des Autos zur Seite, die über dem Geheimversteck lagen. Dann griff sie sich die Kiste. Eigentlich hatte sie die Absicht gehabt, die Kiste zu öffnen, die Unterlagen anzusehen und dann das ganze wieder zurückzulegen. Aber als Sanna den kleinen Metallkoffer in den Händen hielt, überlegte sie es sich anders. Sie würde ihn mitnehmen. Ein untrügliches Gefühl sagte ihr, dass es besser für sie alle wäre, wenn niemand anders Einsicht darin nehmen konnte. Und ihr Gefühl hatte sie noch nie betrogen. Dafür war sie viel zu sehr Tochter von Lois Lane.
Mit dem Koffer unter den Arm ging sie zurück zu ihrer Wohnung. Auf dem Fußboden in ihrem Wohnzimmer schüttete sie dann den Inhalt auf den Boden aus. Heraus fiel so etwas wie eine Liste. Neugierig nahm Sanna sie in die Hand. Auf den Bögen standen, ordentlich notiert, Namen. Namen von Frauen. Hinter jedem Namen war eine Zahl notiert. Am Ende der Zahl ein Geldbetrag, angegeben in Schweizer Franken.
Zuerst wusste Sanna nichts mit der Liste anzufangen, doch als sie an Justines Verdacht bezüglich des Staatsanwaltes dachte, begann sie, die Liste sie zu verstehen. Angenommen, der Staatsanwalt war wirklich der Kopf eines Zuhälterringes, so konnte diese Liste die Namen der Frauen plus ihren Wert belegen. Was die Zahl in der Mitte dagegen bedeuten sollte, war ihr jedoch unverständlich. Rasch durchsuchte Sanna die Papierbögen nach weiteren Informationen, fand aber nichts, was ihren Verdacht bestätigen oder wenigstens erweitern konnte.
Mit einem Schulterzucken legte sie die Unterlagen in den Koffer zurück. Sie würde mit Justine morgen beraten, was weiter zu tun sei. Vielleicht hatte sie ja eine zündende Idee.

Vor dem Eingang des «Daily Planet» wurde sie von Max abgefangen. Zumindest kam es Sanna so vor, denn sie hatte schon von weitem gesehen, wie er vor dem Gebäude auf und ab ging. Als sie dann die Tür öffnen wollte, sprang er herbei und trat neben sie.
"Haben Sie und Justine schon herausgefunden, wer die Bombe gelegt hatte?" fragte er interessiert und betrat mit ihr gemeinsam das Foyer.
"Das ist Sache der Polizei. Wir haben nur die Aufgabe, darüber zu berichten."
"Aber Sanna!" Max sah sie gespielt entsetzt an. "Erzählen Sie mir nicht, dass sie sich mit Happen zufrieden geben, die einem die Polizei vorwirft!"
Unvermittelt blieb sie stehen. "Warum nicht?"
"Weil mir Jimmy anfangs oft genug in den Ohren gelegen hat, ich müsste so werden wie ihre Eltern!" Er grinste schief. "Auch ich habe hier als Botenjunge angefangen."
Mit einem Auflachen ging Sanna weiter. "Ihre Vermutungen sind richtig! Ich gebe mich nicht damit zufrieden."
Max begann ebenfalls zu lachen. "Das ist die richtige Einstellung. Nur so wird man ein richtiger Reporter!"
Sie betraten den Aufzug. Während sie nach oben fuhren, fragte Max: "Gehen Sie gerne ins Kino?"
"Das kommt auf den Film an!"
"James Bond?"
"Nein, danke. Mein Bedarf an Helden ist von Haus aus schon gedeckt!"
Er warf ihr einen fragenden Blick zu. "Wie soll ich das verstehen?"
Sanna biss sich auf die Lippe. Jetzt hatte sie sich verplappert. "Superman ist ein enger Freund der Familie", sagte sie schnell.
"Wirklich? Sehen Sie ihn öfter?"
Sie lächelte. "Jetzt nicht mehr." Mit einem Kopfnicken trennte sie sich nach dem Aufzug von Max und ging in ihr Arbeitsabteil. Justine war schon da - mit einem Kind.
"Hallo Justine!" Sanna setzte sich an ihren Schreibtisch. Dem Kind zwinkerte sie zu.
"Oh, hallo Sanna." Zu dem Kind gewandt, sagte sie. "Sue, das ist Sanna. Ich habe Dir doch von ihr erzählt, weiß Du noch?"
Sue nickte. Sanna schätzte das Mädchen auf etwa vier Jahre, wobei sich eine gewisse Ähnlichkeit mit Max nicht abstreiten ließ.
Justine streichelte Sue über den Kopf. "Hast Du Max gesehen?"
"Ja, er ist mit mir reingekommen." Sie zeigte in Richtung des Aufzugs.
"Prima! Komm Sue. Wir gehen zu Deinem Dad!"
Nach einigen Minuten kam Justine zurück. Ohne Sue. Sanna blickte sie erstaunt an.
"Hast Du sie etwa bei Max gelassen?"
"Natürlich. Weißt Du Sanna, Max würde es zwar um keinen Preis der Welt zugeben, aber er liebt seine Tochter über alles. Er holt sie jedes freie Wochenende ab und verbringt seine Zeit mit ihr."
"Max?"
Justine verdrehte träumerisch die Augen. "Er ist ein wundervoller Vater. Du hättest ihn mal sehen sollen, als er sie zum erstenmal im Arm hielt. Mit mir hat er damals zwar kaum ein Wort gewechselt, aber von Sue war er vom ersten Augenblick begeistert!"
Kopfschüttelnd sah Sanna auf Justine. "Ihr seid eine seltsame Familie."
"Ich weiß. Aber die Hauptsache ist, dass Sue ihren Vater kennt und er sie liebt, oder?"
Sanna nickte nachdenklich. Ihre Gedanken gingen zurück in ihre Kindheit. Clark Kent war auch ein wunderbarer Vater gewesen - wenn er bei ihnen gewesen war. Doch dies war eher seltener der Fall gewesen, weswegen die Bindung zu ihm nicht ganz so intensiv wie der zu Lois war, selbst wenn sie vieles gemeinsam hatten.
Ihr Gedankengang wurde von Justine wieder unterbrochen. "Was ist das für ein Koffer, den Du dabei hast?" fragte sie neugierig.
Schweigend legte Sanna den Aktenkoffer auf den Schreibtisch und öffnete ihn. Justine nahm eines der Blätter heraus und überflog es mit hochgezogenen Augenbrauen.
"Was ist das?"
"Eine Liste!"
"Das sehe ich. Woher hast Du sie?"
"Sie gehörte dem Staatsanwalt."
"Und wie...?"
"Ich habe sie mir heute Nacht aus dem Autowrack geholt."
"Du hast was?"
"Ich habe gestern gesehen, dass sich noch der Koffer im Auto befindet. Und ich dachte mir, dass es vielleicht interessant sein könnte, zu wissen, was darinnen ist!"
"Aber ist das nicht Diebstahl?"
"Nur im weitesten Sinne, behaupte ich mal."
Justine ließ sich auf den Stuhl hinter ihr fallen. "Ich bin platt!" sagte sie fassungslos. "Was soll ich dazu noch sagen?"
"Nichts! Hilf mir lieber herauszufinden, was die Liste bedeutet!" Auffordernd reichte sie ihr noch einige Blätter.
Als Jimmy etwa zwanzig Minuten später an den beiden Frauen vorbeikam, schlich er sich leise weiter. Er kam zwar mit der Absicht her, den Bericht vom Attentat einzuholen, aber als er sah, wie Sanna sich begeistert Notizen machte und Justine auf die Tastatur ihres Computers einhackte, änderte er seine Meinung. Seine langjährige Erfahrung in diesem Gebäude hatte ihn gelehrt, dass Frauen äußerst gereizt reagierten, wenn man sie beim Arbeiten störte. Und er wollte nicht riskieren, dass ihm eine dumme Bemerkung oder Schlimmeres an den Kopf geworfen wurde.

Gegen Mittag legte Sanna frustriert ihren Bleistift fort. "Weißt Du, was ich denke?" sagte sie nachdenklich. "Ich denke, dass das nur ein Teil des Ganzen ist. Jemand muss noch die Ergänzung dazu haben."
"Wir haben doch schon einiges herausgefunden!" Justine tippte auf Sannas Notizen. "Diese Zahlen in der Mitte, das ist der Schlüssel. Wir wissen, dass sie weder Telefon - noch Kontonummern sind. Es sind auch keine Postadressen und keine Internetanschlüsse." In ihrer Stimme schwang plötzlich Sarkasmus mit. "Wir müssen nur noch sonstige Eventualitäten abchecken wie Passwörter, Chiffrenummern, Zahlen - Buchstabenkombinationen und dann haben wir es!" Resigniert legte sie ihre Hände vor die Augen.
"Lass uns einmal andersherum denken. Wie finden wir die Frauen auf der Liste und - würden sie uns weiterhelfen können?"
Justine seufzte auf. "Es wäre ja auch zu einfach gewesen, wenn die Namen im Telefonbuch von Metropolis stünden."
"Es wenigstens zu versuchen, spricht für Deinen Optimismus."
"Apropos Optimismus. Ich gehe jetzt zu Jimmy und erbitte eine Wiederaufnahme unserer Story. Nach den neuesten Fakten dürfte er es uns nicht mehr verweigern, die Recherchen wieder aufzunehmen!" Sie stand auf und trat auf den Gang. Dort stieß sie fast mit einer, von Dave begleiteten, Frau zusammen.
"Justine?" sagte Dave, während er auf die Frau zeigte. "Da wollte jemand zu Dir!"
"Ja?" Fragend sah Justine zu der Unbekannten. Sie trug, obwohl sie im Haus war, eine dunkle Sonnenbrille, einen tief ins Gesicht gezogenen Sonnenhut und war sichtlich nervös.
"Sind Sie Justine Wilson?"
Justine bot ihr einen Stuhl an. "Die bin ich, was kann ich für Sie tun?"
"Ich bin Olga Tscykona. Ich wollte schon einmal zu ihnen - vor einer Woche." Mit zitternden Fingern nahm sie ihre Sonnenbrille ab.
Justine konnte kaum einen erschreckten Aufschrei unterdrücken, und auch Sanna zog hörbar die Luft ein: Das eine Auge war grün und blau angeschwollen und über die Stirn zog sich ein breiter, noch kaum verheilter Riss.
"Das haben sie mir letzte Woche verpasst, als sie gemerkt haben, das ich geflüchtet bin. Wenn die dort herausbekommen, dass ich wieder fort bin, erschlagen sie mich vermutlich!"
"Sie sind die Frau, die mir zugerufen hat, ich solle in das Haus des Staatsanwaltes gehen!" rief Justine aus.
"Sie haben mich verstanden?" Aus Olga Tscykonas Stimme schwang Erleichterung. "Ich war damals so mit Beruhigungsmittel vollgepumpt worden, dass ich mir nicht mehr sicher war, ob ich überhaupt etwas gesagt habe."
Sanna legte der Frau ihre Hand auf den Arm. "Es interessiert Sie bestimmt, dass wir eine heiße Spur haben. Nur unser Hauptverdächtige - der Staatsanwalt - ist gestern ..."
Olga Tscykona nickte. "Ich habe es im Fernsehen gesehen. Er ist tot, nicht wahr?"
"Ja!"
"Der Staatsanwalt kann uns jetzt egal sein!" warf Justine ein. "Aber sie müssen uns helfen. Wo waren Sie die letzten Tage und wer sind diese Leute, die sie so zugerichtet haben?" Sie zeigte auf das Auge.
"Das waren Jones und Grimes. Unsere Aufseher. Aber die sind nicht wichtig. Wichtig ist vielmehr, dass eine neue Lieferung erwartet wird. Und so wie ich das verstanden habe, sind die alle zwischen vierzehn und sechzehn. Fast noch Kinder!"
"Lieferung?" fragte Justine verwirrt. "Ich verstehe nicht ganz ..."
"Aber ich!" Sanna beugte sich zu Olga Tscykona vor. "Neue Frauen für das Bordell, nicht wahr? Woher kommen sie?"
"Von überall her. Die wenigsten sind Amerikanerinnen. Viele sind wie ich aus Weißrussland und den anderen baltischen Staaten. Wir sind über Schlepperwege in die USA gekommen. Daheim habe ich eine Menge Geld bezahlt, um nach Amerika kommen zu können. Angeblich wartete hier ein Mann auf mich, der unbedingt heiraten wollte." Sie lachte bitter auf. "Mich erwarteten mehr Männer, als ich mir je hätte ausmalen können!"
"Wer ist der Drahtzieher dieser Aktionen?"
"Das weiß ich nicht. Ich selbst kenne nur den Staatsanwalt, meine Chefin und einige wenige Aufpasser. Aber als ich letzten Monat in ein anderes Haus gebracht wurde, habe ich während der Fahrt mit anhören können, dass eine neue Lieferung ansteht. Jones hat noch Witze über das Alter der Mädchen gemacht."
"Oh, mein Gott!" sagte Justine entsetzt. "Was sind das nur für Schweine?"
"Aber warum gehen Sie nicht zur Polizei?" fragte Sanna. "Sie finden dort bestimmt ein offenes Ohr."
"Das kann ich nicht!" Olga Tscykona blickte auf den Boden. "Ich bin doch illegal hier. Wenn die Polizei herausfindet, dass ich hier im Land bin, schickt sie mich entweder zurück oder steckt mich ins Gefängnis. Bitte!" Sie sah Sanna flehend ins Gesicht. "Sie dürfen mich nicht der Polizei ausliefern. Ich will in den USA bleiben. Aber ich will endlich frei sein. - Und ich will leben. Ich bin unter Lebensgefahr hier. Wenn Jones oder Grimes erfahren, dass ich wieder geflohen bin ..."
"Niemand wird es erfahren!" Justine streichelte ihre Schulter. "Ich verbürge mich dafür. Aber Sie müssen uns auch helfen!" Sie griff nach der Liste, die immer noch auf dem Schreibtisch lag und gab sie ihr. "Wissen Sie, was das hier ist?"

Sie musste Olga Tscykona nur für einige Augenblicke die Liste unter die Augen halten, um eine Antwort zu bekommen. "Das ist eine Liste der Frauen, die wie ich in das Land geschleust wurden," sagte sie und zeigte auf einen der Namen. "Das hier ist meine Mitbewohnerin, Anne Gumpke. Sie ist aus der ehemaligen DDR und schon ziemlich lange hier. Sehen Sie einmal nach, irgendwo muss mein Name sein."
"Wissen Sie auch, was die Zahlen bedeuten?"
Sie schüttelte den Kopf. "Nein. Aber vielleicht bedeuten die letzten Zahlen unseren Kaufbetrag. Wir sind nämlich von den Schleppern noch an die Bordells verkauft worden."
Sanna pfiff durch die Zähne. "Ein lukratives Geschäft! Erst bekommt man Geld von den Frauen und dann noch von den Bordellbesitzern. So kann man auch reich werden!"
"Es ist auch gewinnbringend für die Bordellbesitzer!" warf Olga Tscykona ein. "Sie müssen für uns zwar zahlen, bekommen aber den Betrag von unseren Freiern vielfach zurück. Wir selbst erhalten nichts außer Kost und Logis. Und wir können rein gar nichts dagegen machen, denn ohne einen Pass können wir weder in unsere Heimat zurück, noch wäre es möglich, in den Staaten zu bleiben - wir haben nicht einmal eine Krankenversicherungskarte."
"Als ich aber gestern im Nachbarhaus des Gerichtsgebäudes war, bin ich richtig freundlich empfangen worden."
Olga nickte. "Aus Erzählungen anderer Frauen heraus weiß ich, dass dort nur Frauen eingesetzt werden, die sich auf dem Weg dorthin verdient gemacht haben. Man bekommt sogar eine Bezahlung - deshalb wollen viele dorthin. Aber bis zu Mrs. Carters schaffen es nur wenige."
"Was machen sie mit den Frauen, die zu alt für diese Art von Job werden?"
"Sie verschwinden. Und ich will lieber nicht wissen, wohin."
"Olga, Sie sind uns eine wertvolle Hilfe gewesen", sagte Sanna leise. "Aber ich lasse nicht zu, dass Sie dort hin zurück gehen. Wir brauchen Sie noch, und außerdem ist es dort viel zu gefährlich für sie!"
"Ich habe keine andere Möglichkeit. Man würde mich überall hier in den Staaten finden. Es gibt nämlich noch ein Handikap!" Sie zeigte auf ihren Hals. "Ich habe dort einen Chip sitzen, der es mir unmöglich macht, zu fliehen!"
"Kann man ihn nicht herausoperieren?"
"Schwerlich. Sobald er mit Luft in Berührung kommt, explodiert er!"
Eine kurze Überprüfung mit ihrem Röntgenblick bestätigte Olgas Aussage. Nachdenklich biss sich Sanna auf die Unterlippe. Zum erstenmal in ihrem Leben bereute sie es, ihre Kräfte nicht offen einsetzen zu können. Hier konnte nur einer helfen - Superman.
"Ich habe eine Idee." Schnell griff Sanna nach dem Hörer des Telefons und wählte die Nummer ihres Zuhauses. Gleich darauf hatte sie ihre Mutter am anderen Ende der Leitung.
"Mom?" sagte sie hastig. "Weißt Du zufällig, wo Superman ist?"
Justines Augen weiteten sich vor Überraschung. Sie hatte zwar gewusst, dass die Kents enge Freunde von Superman waren, aber sie hätte es niemals für möglich gehalten, dass sie sozusagen den heißen Draht zu ihm hatten. Atemlos hörte sie zu, wie Sanna in den Hörer sprach:
"Wir könnten seine Hilfe hier sehr gut gebrauchen und zwar ziemlich schnell!" Sanna schwieg anschließend. Ihre Mutter sprach anscheinend recht lange. Schließlich sagte sie noch: "Danke Mom, es ist wirklich wichtig. Schicke ihn gleich zu mir, ja? Und grüße Dad!" Mit einem leisen Lächeln legte sie auf.
"Superman?" fragte Olga ungläubig. "Meinen Sie, er könnte mir helfen?"
Sanna nickte. "Er ist der Einzige." Als sie Olgas Gesichtsausdruck sah, beugte sie sich vor, nahm ihre Hände und drückte sie. "Vertrauen Sie mir! Glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, dass er völlig integer ist. Ich weiß das, denn ich kenne ihn von klein auf."
"Aber wo wollen wir ihn treffen? Hier?" Mit ihrer Hand zeigte Justine auf ihre nächste Umgebung.
"Nein, in meiner Wohnung. Wir müssen nur dorthin fahren. Justine, können wir Dein Auto haben?"
Energisch stand sie auf. "Wo denkst Du hin? Ich gehe natürlich mit!"
"Gut. So kann einer die Straße im Auge behalten. Es könnte ja sein, dass Olgas Verschwinden schon bemerkt wurde." Sie fasste die zunehmend unsicher wirkende Olga unter dem Arm und zog sie zum Aufzug. Justine folgte ihr. Doch gerade, als sich die Aufzugtür hinter ihnen zu schließen begann, sprang Jimmy zu ihnen hinein.
"Justine? Sanna?" fragte er atemlos. "Wo ist der Bericht?"
"Oh ..." Justine warf Sanna einen hilflosen Blick zu.
"Wir bringen ihn mit, sobald wir wieder da sind", versuchte Sanna ihr beizuspringen.
"Und darf man fragen wohin Ihr geht?"
"Wir haben ein Date mit Superman", lachte Justine fröhlich.
Erstaunt sah Jimmy hinter den drei Frauen her, als sie den Aufzug verließen. Wieso hatten sie ein Date mit Superman? Und seit wann war er wieder in der Stadt? Mit einem Kopfschütteln drückte Jimmy wieder den Aufzugsknopf. Wie hatte Perry White das damals nur ausgehalten, als dieser Mann ständig in der Stadt war. Und wie schaffte es Superman immer noch, allen Frauen den Kopf zu verdrehen?


Mit einem Stoßseufzer der Erleichterung ließ sich Justine auf das Sofa in Sannas Wohnung fallen. "Gott sei Dank!", seufzte sie auf. "Ich hatte schon Angst, von wild um sich schießenden Männern verfolgt zu werden.
"Justine, Du siehst zu viel fern!" Sanna ging zum Fenster und öffnete es. Als sie Olgas erstaunten Blick sah, sagte sie: "Ich habe Superman noch nie an der Tür klingeln sehen! Er fliegt immer durch das Fenster."
Mit einem zittrigen Lächeln setzte Olga sich Justine gegenüber. Die Hände hatte sie dabei im Schoß gefaltet. Justine kam sie vor wie ein Schaf, das zur Schlachtbank geführt werden sollte.
"Wovor haben Sie Angst, Olga?" fragte Justine und lächelte ihr aufmunternd zu. Von Superman ließe ich mich jederzeit operieren. Oder mögen Sie den Mann nicht?"
"Ich hätte bestimmt nichts dagegen, wenn er als mein Kunde kommen würde", meinte sie, unsicher lächelnd. "Aber ich trage eine Bombe mit mir herum und ich weiß nicht, ob selbst Superman schnell genug ist, sie rechtzeitig hinauszubringen."
"Wollen Sie es überhaupt, Olga?" fragte Sanna und trat zu ihr. "Ich war von meiner Idee so begeistert, dass ich überhaupt nicht daran gedacht habe, sie zu fragen, ob es Ihnen überhaupt recht ist!"
"Nein, nein", beschwichtigte Olga sie. "Es ist mir recht. Es ist schließlich meine einzige Chance, nicht wahr?" Sie lachte trocken.
In diesem Moment bauschten sich die Vorhänge auf und Superman flog durch das Fenster. Justine stieß einen kleinen Schrei aus und selbst Sanna erschrak für einen Moment. Ihr Vater hatte sich wirklich beeilt. So schnell war er noch nie hereingeplatzt. Doch sie fing sich schnell wieder. "Superman!" rief sie erleichtert. "Wie gut, dass Du Zeit hattest!"
Amüsiert hob Superman eine Augenbraue. "Deine Mutter meinte, Dir sei etwas passiert, Sanna?"
Sanna lachte. "Typisch, Mom. Nein, mir ist nichts passiert. Aber ich brauche Deine Hilfe!" Schnell erklärte sie die Lage.
"Ein Mikrochip?" fragte er anschließend erstaunt. "Wozu?"
"Das ist eine andere Geschichte!" Sanna winkte ab. "Wie ist es, kannst Du uns helfen?"
"Ja, wenn Du mir sagst, in was Du Dich wieder hineingeritten hast."
"Später. Erst muss der Chip raus!"
Seufzend gab Superman auf, mehr aus seiner Tochter herauszuholen. Manchmal war sie genauso unvernünftig wie ihre Mutter. Langsam ging er auf Olga zu und fasste an ihren Hals. Er konnte den Chip unter ihrer Haut sehen und spüren. "Es wird etwas weh tun", sagte er leise. "Ich muss die Haut aufschneiden."
"Es ist gut!" Olga schloss die Augen. Je eher sie es hinter sich hatte, umso besser. Gleich darauf spürte sie ein Brennen am Hals und sie merkte, wie Blut an ihrem Hals herunterlief. Schnell öffnete sie die Augen. Superman war fort. Dafür konnte man hoch über ihren Köpfen einen Donnerschlag hören. Der Chip war explodiert.
"Mann!" Begeistert klatschte Justine in ihre Hände. "Ist der schnell!"
"Hier Olga." Sanna reichte ihr einen Packen Taschentücher. "Drücken Sie gut darauf, damit es das Bluten aufhört."
Dankbar nahm Olga das Päckchen entgegen und drückte es auf ihren Hals. Plötzlich begann sie zu weinen. Die Anspannung der letzten Stunden war gewichen und die Tränen hatten nun freie Bahn.
"Es ist vorbei", sagte Sanna, während sie Olga in den Arm nahm. "Sie sind in Sicherheit."
"Das sehe ich nicht so!" Justine stand auf und ging zu ihnen. "Solange sie in Metropolis bleibt, ist sie in Gefahr. Sie muss aus der Stadt raus!"
"Und ich weiß auch schon wohin!" Sie wandte sich an Superman, der gerade zum Fenster hereinflog. "Superman - Du musst sie mitnehmen."
"Nach Smallville?" fragte er argwöhnisch. "Und was sagt Deine Mutter dazu?"
"Sie wird es verstehen. Ich werde mit ihr telefonieren!"
"Das wird nicht nötig sein." Er lächelte Olga zu. "Wenn ich mit ihr rede, sagt sie nicht nein."
"Das ist wahr!" Sanna nahm Olgas Hand und drückte sie. "Sind Sie einverstanden? Bei meinen Eltern sind sie sicher und zusätzlich weiß ich, wo ich Sie finden werde, wenn wir noch Fragen haben!"
Schweigend nickte Olga. Die beiden Reporterinnen hatten recht. Jones und Grimes würden sie hier in Metropolis garantiert finden. Auch ohne diesen Chip. Es war wirklich besser, die Stadt ganz zu verlassen.
"Gut!" Sie trat zurück. "Es ist besser, Du bringst Olga persönlich hin. Der Flughafen wird der erste Ort sein, wo man sie suchen wird."
Superman seufzte. "Wie Du meinst, Sanna. Ich komme aber heute Abend noch einmal bei Dir vorbei! Du schuldest mir den Rest der Geschichte." Vorsichtig nahm er Olga in die Arme. Dann flog er mit ihr zum Fenster hinaus.
Es war Justine, die das Fenster hinter ihnen schloss. Anschließend drehte sie sich nachdenklich zu Sanna um. "Superman hat einen ziemlichen Einfluss auf Deine Familie, nicht wahr?" sagte sie. "Und wie er mit Dir geredet hat. Als wärst Du seine Tochter und nicht die von Clark Kent."
"Superman kennt mich von Kind auf. Er hat mich quasi schon auf seinen Knien geschaukelt. Wahrscheinlich kommt sein väterlicher Ton davon!" Mit einem knappen Lächeln hakte sie sich bei Justine ein. "Komm, wir müssen zurück zur Redaktion. Ich habe Jimmy noch einen Bericht versprochen!"

Mit dem Bericht über das Attentat in der Hand, ging Sanna zwei Stunden später in das Büro des Chefredakteurs. Nachdem sie eingetreten war, bemerkte sie jedoch, dass er nicht alleine war. Ein Polizist stand neben seinem Schreibtisch und unterhielt sich mit ihm. Bei ihrem Eintreten drehte er sich um. Es war Marcel Lebeck. Als er Sanna wiedererkannte, lächelte er leicht.
"Miss Kent, nicht wahr?" sagte er und reichte ihr die Hand. "Wo ist Justine? Ich muss ihr etwas sagen."
Jimmy stand auf. "Du kennst bereits unseren Neuzugang?" fragte er erstaunt. Und zu Sanna gewandt, meinte er: "Du bist der reinste Überflieger, Sanna. Wie kommt es, dass Du unseren Hauspolizisten schon kennst?"
Immer noch lächelnd ließ Marcel Lebeck Sannas Hand los. "Justine war heute Vormittag bei mir. Sie hat Miss Kent freundlicherweise mitgenommen."
Neugierig betrachtete Sanna Marcel. "Seit wann haben Sie den Titel eines Hauspolizisten?"
Er lachte. "Den Titel habe ich von Dave bekommen. Ich bin so oft im «Daily Planet», dass ich schon fast dazugehöre."
"Das ist er tatsächlich!" bestätigte Jimmy seine Antwort. "Wir können auf ihn genauso wenig verzichten. Marcel ist unser Ansprechpartner für die Polizei. Wenn wir Probleme mit ihnen haben - oder umgekehrt - dann holt uns Marcel die Kohlen aus dem Feuer."
"Praktisch." Sanna legte ihm den Bericht auf den Schreibtisch. "Ach übrigens - die Story!"
Erfreut nahm Jimmy den Bericht entgegen. "Das ging aber schnell. Das ist gut zu wissen, falls wir mal einen Expressbericht brauchen."
"Ich mache dafür jetzt Feierabend." Zu Marcel sagte sie: "Justine ist auch schon fort. Sie wollte Sue abholen. Max hat sie wohl zu seiner Mutter gebracht."
"Oh." Marcel schaute enttäuscht. "Kann ich es dann Ihnen sagen? Sie arbeiten ja wohl auch an der Sache."
"Natürlich. Wollen Sie mich begleiten? Ich habe noch nichts gegessen."
Marcel nickte und nahm ihren Arm. "Ich kenne da ein nettes kleines Café. Kommen Sie, ich lade Sie heute ein."
Gemeinsam verließen sie das Büro und gingen zum Aufzug. Jimmy sah ihnen hinterher, nicht wissend, ob er sich ärgern sollte, weil er nicht genau wusste, welche Sache Marcel meinte oder ob er sich für Sanna freuen sollte, weil sie einen so netten Mann kennen gelernt hatte.

Das Lokal, dass Marcel gemeint hatte, lag mitten im Zentrum in der Nähe des Parks. Jetzt am späten Nachmittag, wo die Sonne das Pflaster immer noch erwärmte, aber nicht mehr so stark herunterbrannte, war der Park voll mit Familien und Spaziergänger. So schallte von den Anlagen ein wirres Sprachgewirr zu dem Tisch, an dem Sanna und Marcel saßen. Marcel sah sie besorgt an.
"Ist es Ihnen hier zu laut?" fragte er und sah sich kurz um. "Wir könnten auch woanders hingehen!"
Kopfschüttelnd verneinte Sanna. "Nein, es macht mir nichts aus. Wenn ich es mir aussuchen kann, dann wähle ich lieber Kindergeschrei als Autohupen."
"Sie haben recht. Bleiben wir also." Marcel lächelte. "Jimmy hat mir gesagt, dass Sie die Tochter von Lois Lane und Clark Kent sind?"
"Ja. Kennen Sie sie?"
"Vom Hörensagen. Wenn man so wie ich öfters in den «Daily Planet» hineinschaut, kommt man nicht umhin, von Ihren Eltern zu hören. Stört es sie?"
"Nicht mehr. Ich habe mich daran gewöhnt." Sie wechselte das Thema. "Sie sagten vorhin, Sie wollten etwas zu unserer Story beitragen?"
"Ja." Marcel nahm einen kleinen Block heraus. "Ich habe mich umgehört. Aber niemand kennt diese Frau. Weder ist sie im Einwohnermeldeamt registriert, noch bei einer Ausländerbehörde. Sie scheint überhaupt nicht zu existieren!"
"Wir haben sie gefunden!"
"Sie haben ... !"
"Heute Vormittag kam sie zu uns in die Redaktion. Ziemlich verzweifelt, muss ich hinzufügen."
"Wo ist sie?"
"In Sicherheit!"
"Was hat sie Ihnen erzählt?"
Sanna schwieg. Sie hatte ihr Wort gegeben, dass sie nichts an die Polizei weitergab. Und Marcel mochte zwar ein enger Freund von Justine sein, aber sie selbst kannte ihn noch nicht gut genug, um zu wissen, wie vertrauenswürdig er war.
Marcel schien ihre Gedanken zu erraten. Behutsam legte er seine Hand auf die ihrige. "Sie können mir ruhig vertrauen. Glauben Sie mir, Justine würde es mir mit Bestimmtheit sagen!"
"Möglich. Aber ich habe ihr mein Wort gegeben. Es tut mir leid, ich kann Ihnen keine Informationen geben."
Für einen kurzen Augenblick zog ein Schatten des Ärgers über Marcels Gesicht. Doch dieser Augenblick verflog so schnell wieder, wie er gekommen war. "Nun, wenn das so ist", sagte er und zog seine Hand fort. "Dann werde ich es akzeptieren." Er grinste. "Wechseln wir lieber das Thema: Wie gefällt Ihnen Metropolis?"
Erleichtert atmete Sanna auf. Sie hatte schon befürchtet, Marcel würde auf eine Antwort bestehen. So begann sie von Metropolis zu erzählen und wie sehr es ihr gefiel. Ihr Gegenüber hörte ihr amüsiert zu. Er hatte die Erfahrung gemacht, dass es zwei Typen von Menschen hier in Metropolis gibt. Die einen waren entsetzt von dem Trubel der Stadt und kamen nur einmal in ihrem Leben hierher - dann nie wieder. Der andere Teil war gerade eben von diesem Trubel begeistert und integrierte sich darin. Sanna gehörte eindeutig zur letzten Kategorie.

Es war bereits dunkel, als Marcel Sanna nach Hause brachte. Sie hatten sich beide so angeregt unterhalten, dass es ihnen nicht aufgefallen war, dass es über ihrem Gespräch Abend geworden war. Marcel bestand darauf, Sanna trotz ihres Protestes nach Hause zu bringen.
"Das muss nicht sein!" sagte sie ihm immer wieder. "Ich kann sehr gut auf mich alleine aufpassen!"
"Das sagen alle Frauen", wiedersprach Marcel. "Aber am nächsten Tag kann ich sie dann aus der Kanalisation ziehen."
"Nicht mich!"
"Nein Sanna. Sträube Dich nicht. Ich bringe Dich heim!" Vertraulich nahm er ihren Arm und führte sie auf die Straße. "Außerdem weiß ich dann, wo Du wohnst."
Sie lachte. "Das hätte ich Dir auch so sagen können!"
"Sicher. Aber das ist lange nicht so romantisch, wie wenn ich Dich im Mondschein heim begleite!"
Da gab Sanna auf. Und im Grunde genommen fand sie es sehr nett, nach Hause begleitet zu werden. Das letzte mal, als ihr dies passiert war, ging sie noch auf die Highschool und trug einen geblümten Rock. Beide Attribute waren schon länger passé.
Vor der Treppe zu ihrem Haus blieb Sanna schließlich stehen. Fast tat es ihr leid, schon angekommen zu sein. Auch Marcel blickte enttäuscht. "Sind wir schon da?" fragte er und sah an der Häuserfront hoch. "Wo wohnst Du?"
"Unter dem Dach."
"Hast Du etwas Besuch?" Er zeigte nach oben. "Da brennt Licht!"
"Licht?" Sanna folgte seinem Blick. Tatsächlich war ihre Wohnung hell erleuchtet. "Aber wieso?"
"Ich gehe besser mit!" Entschlossen trat Marcel auf die Treppe. "Nicht, dass Du am Ende Einbrechern gegenüberstehst!"
"Einbrecher machen kein Licht an!" wiedersprach Sanna. "Ich glaube eher, dass das mein Vater ist. Er wollte heute noch einmal vorbei kommen!"
"Dein Vater? Ist er schon länger in der Stadt?"
"Er schaut öfters mal vorbei." Sie wandte sich wieder an Marcel. "Wirklich, Du musst nicht mit raufkommen. Es ist nichts!"
Er sah sie zweifelnd an. "Wirklich? Bist Du Dir sicher?"
"Ja!"
Sannas entschlossener Ton überzeugte ihn. Beruhigt nahm er ihre Hände und drückte sie. "Dann bleibt mir nichts anderes übrig, als Dir für den schönen Abend zu danken, Sanna. Es war sehr nett."
Sie nickte lächelnd. "Ja. Wir sollten das mal bei Gelegenheit wiederholen!"
"Das ist ein Versprechen." Marcel wurde wieder ernst. "Ich wollte zwar nicht darauf zurückkommen", sagte er leise. "aber ich finde, Du und Justine, Ihr solltet besser die Finger von der Story lassen. Ihr wisst nicht, in was für ein Wespennest Ihr da herumstochert."
"In unserem Job ist man entweder immun gegen Wespenstiche, oder man hat seinen Beruf verfehlt. Nein Marcel, ich kenne Justine zwar erst seit ein paar Tagen, aber ich glaube nicht, dass sie der Typ ist, der von einer Story los lässt, sobald sie sich einmal daran festgebissen hat. Und ich trage viel zu viel Reporterblut in mir, um nicht genauso zu fühlen."
Er ließ sie los. "Dann passt wenigstens auf Euch auf. Gute Nacht, Sanna!"
"Gute Nacht, Marcel. Danke fürs Heimbringen!"
"Jederzeit wieder." Winkend verabschiedete er sich von ihr und ging die Straße zur U-Bahn hinunter.
Sanna sah ihm nach, bis ihn die Dunkelheit verschluckt hatte. Dann öffnete sie zögernd ihre Haustür. Sie hoffte, dass dieser schöne Abend jetzt nicht am Ende von unliebsamen Fragen verdorben wurde. Ihr Vater konnte sehr inquisitorisch werden.
Als Sanna in ihre Wohnung eintrat, erwartete sie jedoch eine Überraschung. Nicht Clark Kent saß auf dem Sofa und sah Fernsehen, sondern Max.
"Max?" Sanna rang nach Luft. "Was machen Sie hier? Und wie sind Sie hier reingekommen?"
"Oh, hallo Sanna!" Schnell knipste Max den Fernseher aus. "Wie schön, dass Sie da sind!"
Fassungslos starrte Sanna auf ihren Besucher. "Raus mit der Sprache! Was haben Sie vor?"
"Welche Frage soll ich denn nun als erstes beantworten?" gespielt verzweifelt warf er die Arme auseinander.
"Das ist mir egal! Hauptsache, Sie verschwinden sofort wieder!"
"Oh, nein!" Er sprang auf. "Jetzt habe ich so lange auf Sie gewartet ... wo warst Du überhaupt?" Sein Ton wurde plötzlich sehr vertraulich.
"Ich war ..." Sie stoppte abrupt. "Das geht Sie überhaupt nichts an! Raus hier!"
"Aber Sanna. Ich bin extra hier, weil man Dich sonst überhaupt nicht alleine zu Gesicht bekommt. Bis jetzt hast Du mir immer einen Korb gegeben."
"Sie werden auch weiterhin einen bekommen. Und wenn Sie nicht augenblicklich meine Wohnung verlassen, werfe ich Sie eigenhändig aus dem Fenster hinaus."
Er lachte. "Das tust Du nicht!"
"Fordern Sie mich lieber nicht heraus!" Sie war jetzt wirklich wütend. Was bildete sich dieser Mann eigentlich ein? Drohend trat sie einen Schritt auf ihn zu.
Nun wurde Max doch etwas unsicher. Der Gedanke stieg in ihm auf, dass er Sanna falsch eingeschätzt hatte und er zu weit gegangen war. Er wollte gerade etwas Beruhigendes sagen, als er erschrocken zusammenfuhr. Jemand klopfte gegen das Fenster.
Sanna stieß einen unterdrückten Fluch aus. Gerade jetzt musste ihr Vater kommen. Schnell sah sie zu Max. Ob er etwas bemerkt hatte?
Doch Max war bereits am Fenster. Neugierig öffnete er es. Als Superman anschließend hindurchflog sprang er mit einem leisen Schrei zurück. Erstaunt sah er auf Sanna, die es nicht verhindern konnte, ein schuldbewusstes Gesicht zu machen. Jetzt glaubte Max zu verstehen.
"Ach so", sagte er mit einer Mischung aus Betroffenheit und Amüsement. "Ich verhindere anscheinend ein Schäferstündchen. Ich bitte vielmals um Entschuldigung, ich wusste nicht, dass Sie so einen illustren Freund haben!" Mit einer knappen Verbeugung in Richtung Superman eilte er an Sanna vorbei und zur Tür hinaus.

Immer noch wütend blickte Sanna ihm nach. Sie fragte sich, was jetzt wohl in Max Kopf vorging. Er würde doch nicht wirklich im Ernst glauben, sie hätte etwas mit Superman?
Clark Kent setzte dagegen in aller Ruhe seine Brille auf. "Wer war der junge Mann?" fragte er amüsiert. "Kennst Du ihn schon länger?"
"Dad!" rief Sanna mit einem verzweifelten Unterton. "Wozu hast Du Deinen Röntgenblick? Kannst Du ihn nicht einsetzen, bevor Du bei mir anklopfst?"
"Das würde ich, wenn ich es erwarten würde, um diese Uhrzeit noch männlichen Besuch bei Dir anzutreffen!"
"Wieso solltest Du nicht? Ich bin dreiundzwanzig!" Erregt wandte sie sich ab. "Jetzt denkt Max, dass ... !" Sie brach ab.
"Lass ihn denken, Sanna. Ich muss mit Dir reden!" Clark setzte sich und schlug die Beine übereinander. "Diese Olga - wer ist sie?"
"Eine wichtige Informantin. Du weißt schon - für die besagte Story, von der ich Dir erzählt habe."
"Sie ist illegal hier!"
"Na und? - Dafür bist Du, wenn man es genau nimmt, ein Alien ohne Impfpass. Wo ist da der Unterschied?"
Ungeduldig unterbrach er sie. "Sanna, rede kein dummes Zeug! Du weißt genau, was ich meine!"
"Ja, ich weiß es. Aber ich will es nicht hören. Hörst Du?" Sie wandte sich ab. "Seit ich denken kann, quatschst Du mir die Ohren voll, von wegen der Verantwortung, die wir zu tragen hätten. Oder dass wir als gutes Beispiel vorangehen müssten und all den ganzen Mist. Du hast es mir so oft auf die Nase gebunden, dass mir schlecht davon wird, wenn ich nur daran denke. Aber es ist mein Leben! Ich gestalte es und nicht Deine Prinzipien!" Ihre Stirn in die Hand gelegt, verstummte sie.
Clark sah sie mit einer Mischung aus Verärgerung und Enttäuschung an. Nicht genug, dass sie seine Aufgabe nicht teilen wollte - sie betrachtete sogar seine moralischen Grundgedanken abschätzig. Er hatte nicht geahnt, das sie ihn derart ablehnte.
Für einige Minuten herrschte Schweigen. Schließlich sagte er leise: "Ich habe Dir Zeit Deines Lebens nur klarzumachen versucht, dass Du etwas Besonderes bist. Du hast Fähigkeiten, die außer uns beiden kein Mensch hat. Es gibt soviel Leid auf dieser Welt und nur Du und ich haben die Möglichkeit, es etwas zu lindern. Wir geben den Menschen Hoffnung, Sanna. Meine Haltung dem Gesetz gegenüber sagt ihnen, dass niemand, nicht einmal ich, das Recht hat, die Gesetze zu übertreten." Clark trat zum Fenster und sah hinaus. Die Lichter von Metropolis lagen unter ihm ausgebreitet wie ein Sternenteppich. "Es gab in meinem Leben einmal eine Zeit," sprach er weiter, "da musste auch ich überlegen, wo ich stehen wollte und welchen Weg ich einschlage. Ich müsste mir mein Geld nicht als Reporter verdienen, Tochter. Kein Tresor könnte mir widerstehen und keine Polizei würde mich jemals finden. Aber ich habe mich anders entschieden und es niemals bereut. Denn dafür habe ich eine Familie gewonnen: Eine wundervolle Frau und eine einzigartige Tochter."
"Dad!"
Clark drehte sich wieder um. Vor ihm stand Sanna und blickte ihn traurig an. "Du hast mich nicht verstanden!" sagte sie ernst. "Ich akzeptiere, dass Du Superman bist. Aber Du musst es auch verstehen, dass es nicht leicht für mich ist, anders zu sein. Ich bin auch nicht bereit, eine Vorbildfunktion einzunehmen. Ich habe schon genug damit zu tun, normal zu erscheinen!"
"Ich verstehe das. Wirklich! Doch Du musst auch mich verstehen. Ich brauche Zeit, um es restlos zu akzeptieren, dass Du anders denkst als ich!" Er lächelte und breitete die Arme aus. "Ich unterscheide mich da von keinem anderen Vater auf diesem Planeten."
Mit einem Seufzen ließ sich Sanna in den Arm nehmen. Als Kind hatte sie es immer geliebt, so von ihm gehalten zu werden. Sie wusste dann, die ganze Welt könnte über ihr zusammenbrechen, ihr Vater wäre imstande gewesen, sie zu beschirmen. Nur leider funktionierte dieses Prinzip jetzt nicht mehr. Die Welt war stärker geworden.
"Du bist nicht alleine!" flüsterte ihr Clark ins Ohr. "Du hast mich und Deine Mutter. Und für uns bist Du die normalste Person auf der Welt!"
"Ich weiß. Trotzdem wünsche ich mir manchmal, es wären mehr, die dieser Meinung sind."
Ihren Worten folgte ein Schrei. Eine Frau hatte ihn irgendwo auf der Straße ausgestoßen. Widerwillig löste sie sich von ihrem Vater. "Du musst gehen!" sagte sie bestimmt. "So wie sie schreit, passiert gerade etwas Schlimmes." Sekunden später konnte sie gerade noch sehen, wie Superman in den Nachthimmel flog. Sie fühlte einen Klos in ihrem Hals. Sie fragte sich, warum gerade die innigsten Momente jedes Mal so abrupt unterbrochen wurden. Es grenzte fast an ein Wunder, dass ihre Eltern überhaupt Zeit gehabt hatten, sie zu zeugen.

Als Sanna am nächsten Morgen aufwachte, regnete es. Müde drehte sie sich in ihrem Bett herum und sah dem Regen zu, wie er langsam die Fensterscheiben hinunterlief. Zum erstenmal, seit sie in Metropolis war, wünschte sie sich, zu Hause in Smallville zu sein. Irgendwie kam ihr in der Erinnerung der Regen dort nicht so grau und trübsinnig vor.
Nach einigen Minuten stand sie trotzdem mit einem Seufzen auf. Es würde ihr nichts nützen, deprimiert im Bett zu liegen. Das machte ihr das Leben nicht leichter, und in der Redaktion wartete Justine auf sie. Schnell zog Sanna sich an und machte sich ihr Frühstück. Wie immer schaltete sie dabei das Radio an - es hörte sich dann in ihrer Wohnung nicht ganz so leer an.
Der Radiosprecher las gerade mit sonorer Stimme die Nachrichten vor. Plötzlich erstarrte sie und drehte das Radio lauter. Der Sprecher hatte gerade davon gesprochen, dass ein Lieferwagen eine Böschung hinuntergefahren und in einem Fluss gefallen sei. Er wäre sofort gesunken und obwohl Superman zehn Minuten später zur Stelle gewesen sei, konnte nur noch der Tod der zwei Fahrer festgestellt werden. Die eigentliche Tragödie daran aber war, dass sich im Lieferwagen sieben Mädchen im Alter zwischen vierzehn und sechzehn Jahren aufgehalten hatten, die ebenfalls dabei ertrunken waren und deren Identität noch nicht festgestellt werden konnte.
Erschüttert legte Sanna die Hand über die Augen. Olga hatte recht gehabt - Sanna war sich sicher, dass es sich bei den Mädchen um die neue "Lieferung" gehandelt hatte. Justine und sie, sie waren zu spät gekommen.

Justine war nicht in der Redaktion. Nur ein Zettel zeugte davon, dass sie schon einmal am Schreibtisch gewesen war, denn über dem Bildschirm ihres Computers hing eine Nachricht. Sanna zog ihn ab und las ihn: "Bin bei Marcel."
Ratlos legte sie ihn ab. Was wollte Justine noch bei Marcel? Er konnte ihnen doch nicht mehr weiterhelfen. Kopfschüttelnd griff sie zu der neuesten Ausgabe des «Daily Planet» und überflog ihn. Ihr Artikel von der Autobombe war darin. Nach einigem Suchen fand sie außerdem einen kurzen Bericht über den Unfall, von dem sie in den Morgennachrichten gehört hatte. Für eine ausführliche Berichterstattung war die Zeit anscheinend zu kurz gewesen. Doch sie würde das nachholen: entschlossen stand Sanna auf. Jimmy musste ihr freie Hand geben.
Auf dem Weg zu seinem Büro begegnete ihr Max. Im Vorbeigehen griff er nach ihrem Arm und hielt sie fest. "Na?" fragte er höhnisch. "Einen super Abend gehabt?"
"Ich wüsste nicht, was Sie das angeht!" erwiderte sie und versuchte seinen Arm abzuschütteln. "Außerdem ist er nicht das, für was Sie ihn halten!"
"Ach ja?" Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem schiefen Grinsen. "Das kannst Du Deiner Großmutter erzählen! Was sollte ein Mann zu dieser Nachtzeit sonst bei Dir suchen? Dir ein Nachtlied singen?"
"Passen Sie auf, was Sie sagen, Max!" Sanna sah ihn drohend an.
"Wissen Deine Eltern, wer Dich Abends ins Bett bringst? Oder denken Sie immer noch, er ist nur ein guter Freund der Familie?"
Wütend griff Sanna nach Max Hand und riss sie von ihrem Arm fort. "Anscheinend willst Du es nicht anders", zischte sie und riss ihn herum. Mit einer schnellen Drehbewegung ihres Körpers warf sie ihn zu Boden.
Erstaunt und erschrocken blickte Max sie vom Boden aus an. Rasch kniete Sanna sich über ihn. Nur hörbar für sie und ihn sagte sie leise: "Ein für allemal Max - mit mir springst Du nicht so um wie mit Deinen Freundinnen! Und wage es nicht noch einmal so über meine Eltern oder Superman zu reden. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?"
Max stieß einen unterdrückten Fluch aus. Dann sagte er beschwichtigend: "Ich habe doch nur Spaß gemacht. Geh runter von mir, Sanna. Du wiegst so viel wie ein Nilpferd!"
Sie stand auf und reichte Max die Hand. Mühelos zog sie ihn nach oben. Bevor sie sich jedoch von ihm abwandte, klopfte sie ihm leicht den Staub von seinem Anzug. Lächelnd flüsterte sie ihm zu: "Lege Dich besser nicht mit mir an! Wie Du gemerkt haben solltest, habe ich von Supermans Anwesenheit profitiert."
Er erwiderte nichts. Stattdessen drehte er sich brüsk um und ging davon. Mit einem Schulterzucken nahm Sanna ihren Weg wieder auf. Sie fühlte sie sich nicht dafür zuständig, Max gekränkten Stolz wieder aufzurichten.
Jimmy saß in seinem Büro und schien sie bereits zu erwarten, denn er blickte zufrieden auf, als sie sich vor seinen Schreibtisch stellte. "Sanna!" sagte er und stand auf. "Ich habe hier etwas für Dich! Hast Du die Nachrichten heute früh gehört?"
"Meinen Sie den Unfall mir den Mädchen?"
"Welchen Unfall? Nein, ich meine diesen Popstar. Der, der nach Metropolis kommen soll!"
"Ich mache mir nichts aus Popstars, Jimmy. Aus dem Teeniealter bin ich schon eine Zeitlang raus."
"Das macht nichts. Du gehst trotzdem hin. Heute Mittag ist ein Empfang im Rathaus. Du bist bereits zu einem Exklusivinterview angemeldet."
"Kann das nicht jemand anders machen? Ich würde gern mehr über den Autounfall erfahren. Es gibt Verbindungen zu der Story an der Justine und ich arbeiten."
"Nein Sanna. Du arbeitest nicht mehr daran. Hast Du das schon vergessen? Wir haben nicht genug Mitarbeiter, um jeder Ahnung hinterherzulaufen. Was wir brauchen, sind handfeste Fakten, mit denen sich eine Story schreiben lässt."
"Aber wir haben handfeste Details!"
Jimmy sah sie schweigend an. Schließlich seufzte er und sagte: "Dann lege sie auf den Tisch! Damit auch der Chefredakteur dieser Zeitung endlich einmal weiß, warum ihr Frauen so wild auf die Sache seid!"
"Das ist ganz einfach!" Sanna setzte sich auf einen der freien Stühle. "Denn diese Geschichte trifft uns Frauen ganz besonders. Hier handelt es sich um moderne Sklaverei und Menschenhandel im einem." Zügig begann Sanna die Fakten, die Justine und sie bereits gesammelt hatten, ihm vorzulegen.
Mit einem angespannten Gesichtsausdruck hörte Jimmy ihr zu. Als sie geendet hatte, schüttelte er den Kopf. "Das klingt mir eher nach einer Sache für die Polizei als für die Presse!" sagte er und blickte sie ernst an. "Du weißt nicht, mit wem Du Dich da einlässt, Sanna. Diese Menschen sind zu allem fähig. Und ich will nicht, dass Du oder Justine Euer Leben riskiert, nur damit diese Story geschrieben wird. Es war schon leichtsinnig, Deine Eltern da mit hineinzuziehen, indem Du Olga zu ihnen gebracht hast."
"Ich weiß, dass das gefährlich werden kann! Aber wir wissen noch nicht, ob der Staatsanwalt der einzige Beamte war, der darin verwickelt ist. Und deswegen können wir nicht so einfach damit zur Polizei gehen."
"Was ist mit Marcel Lebeck? Er ist doch ein enger Freund von Justine. Er kann doch ermitteln!"
"Das tut er auch. Tatsächlich ist Justine gerade bei ihm. Aber ich will mir auch nicht die Fäden gänzlich aus der Hand nehmen lassen!"
"Das verstehe ich. Kein guter Reporter will das. Aber ich bleibe bei meiner Meinung: es ist gefährlich!"
Sanna überlegte kurz. Schließlich sagte sie: "Was wäre, wenn Superman in meiner Nähe bleiben würde? Dann könnte er mir - oder Justine - zur Seite springen, wenn es nötig werden würde."
"Superman?" Jimmy begann zu lachen. "Er hat bestimmt anderes zu tun, als den Babysitter für zwei übermütige junge Damen zu spielen!"
Sie wurde rot. Ihr Chef hatte natürlich recht. Aber wie konnte sie ihn dazu bringen, sie nicht von dieser Story abzuziehen? Zumal sie die beste Aussicht auf Erfolg haben dürfte. Mit ihren Fähigkeiten konnte sie schließlich jeder Gefahr trotzen. Doch Jimmy nahm ihr die Überlegungen ab. Er beugte sich über seinen Schreibtisch zu ihr vor und sagte amüsiert: "Sanna, wir machen einen Deal: Wenn Du Superman dazu überreden kannst, auf Dich aufzupassen, dann dürfen Du und Justine weiter daran arbeiten. Abgemacht?"
"Verlangen Sie ihn ständig bei uns zu sehen?"
"Nein. Mir reicht sein Wort!"
Sanna stand auf. "Gut. Ich werde das arrangieren."
"Sanna?"
Sie drehte sich zu ihm um. "Ja?"
"Aber erst gehst Du zu dem Rockmenschen!"
"Sie bekommen das Interview noch heute Nachmittag!"
Vor Jimmys Büro sah sie auf ihre Armbanduhr. Bis zur Mittagsstunde waren es noch zwei Stunden. Bis dahin konnte sie entweder versuchen, Justine ausfindig zu machen oder sie ging zu dem Unfallort, um nach Hinweisen zu forschen. Sanna entschied sich für das letztere.


Das Unfallauto war schon fortgebracht worden, doch Sanna bereitete es keinerlei Schwierigkeiten, es wieder ausfindig zu machen. Als sie schließlich zu dem Ort gelangte, waren bereits mehrere Polizisten damit beschäftigt, die Sitze herauszureißen um, so erzählten sie es zumindest Sanna, nach Drogenverstecken zu suchen. Ein kurzer Blick auf den Lieferwagen genügte Sanna jedoch, um die Vergeblichkeit dieses Unternehmen zu erkennen. Sie behielt allerdings diese Erkenntnis für sich.
"Wie ist das, darf ich Ihnen einige Frage zu dem Unfallhergang stellen?" fragte sie stattdessen und lächelte einen der Polizisten freundlich an.
Er lächelte herablassend zurück. "Nur zu, Lady. Wir haben zwar schon alles an Ihren Verein weitergegeben, aber wenn es Sie glücklich macht... !"
"Danke. Als erstes: Wo sind die Leichen?"
"Die Leichen? Warum wollen Sie das wissen? Haben Sie eine makabre Veranlagung?"
"Nicht das ich wüsste. Also - in welchem Leichenschauhaus sind sie?"
Der Polizist nannte ihr einen Namen. Sanna nickte und schrieb den Namen auf. Sie würde sich noch vergewissern, ob sich ihre Vermutungen dort bestätigen ließen. Dann begann sie weitere Fragen zu stellen: Woher das Auto gekommen war, wem es gehörte, wie der Unfall geschah und dergleichen. Die Polizisten beantworteten jede ihre Fragen ,wobei keinem die Art der Fragen zu verwundern schien. Am Ende steckte Sanna zufrieden den Block wieder ein. "Ich danke Ihnen meine Herren. Sie haben mir sehr geholfen. Deswegen will ich Ihnen auch helfen." Sie nickte mit ihrem Kopf zu dem Auto. "In diesem Schrotthaufen werden Sie garantiert keine Drogen finden. Glauben Sie mir - ich habe einen Blick für so etwas." Mit einem knappen Gruß wandte sie sich ab und ließ die verdutzten Männer hinter sich.

Justine traf sie erst wieder, als sie das Interview mit dem Rockstar in ihren Computer tippte. Das Gespräch mit diesem Menschen war für Sanna interessanter gewesen, als sie es zuerst vermutet hätte. Er hatte es sogar geschafft, ihre Gedanken zu dem Unfall völlig in den Hintergrund zu drängen. Auch jetzt, wo sie das Interview für Jimmy aufschrieb, war sie immer noch so völlig davon eingenommen, dass sie richtiggehend erschrak, als Justine ihre Tasche neben ihr auf den Tisch schleuderte und sich anschließend darauf niederließ.
"Hey!" sagte Justine und lachte sie an. "Was hast Du mit Jimmy gemacht? Er hat mir eben angedeutet, dass wir freie Hand für unsere Story hätten!"
Sanna unterbrach ihre Tätigkeit und sah auf. "Ich habe ihm lediglich die Fakten erzählt. Außerdem habe ich einen Babysitter für uns engagiert."
"Einen Babysitter? Doch wohl nicht Max!"
"Nein!" Sanna lachte ebenfalls. "Superman!" Sie erzählte kurz das Gespräch mit Jimmy.
Justine wiegte nachdenklich mit dem Kopf. "Ich weiß nicht..." sagte sie langsam. "Ich glaube nicht, dass wir einen Babysitter brauchen - selbst wenn er gut aussieht und ein rotes Cape trägt."
"Ich auch nicht. Aber wenn wir Superman dazu bringen könnten, Jimmy zu erzählen, er würde bei uns ab und an vorbeischauen ... ! Nur so, für Jimmy."
"Kann Superman überhaupt lügen?"
"Es wäre keine Lüge, wenn er wirklich mal vorbeischaut, oder? Es muss ja nicht jeden Tag sein!"
"Einverstanden. Wenn Jimmy uns nur lässt ..." Justine wechselte ihren Sitzplatz und zog sich einen Stuhl heran. "Ich war bei Marcel," sagte sie, plötzlich das Thema wechselnd. "Er hat mir von gestern erzählt."
Sanna nickte. "Ich hoffe, es stört Dich nicht?"
"Nein - im Gegenteil. Es kann uns nur vom Nutzen sein. Ich habe nämlich seit einiger Zeit das Gefühl, dass er zu mir nicht mehr ganz offen ist. Vielleicht ist er es bei Dir!"
"Wie kommst Du darauf?"
"Ich weiß es nicht, es ist nur so ein Gefühl."
"Was wolltest Du eigentlich von ihm? Wir haben doch Olga schon gefunden."
"Ich wollte von ihm eine Liste aller bekannten Schlepperwege. Vielleicht kommen wir so weiter."
"Kann er sie Dir denn geben?"
"Er versucht es zumindest. Heute Abend will er sie mir dann vorbeibringen. Wollen wir sie gemeinsam durchgehen?"
"Das wäre das Beste. Dann kann ich Dir auch meine Gedanken mitteilen. Wann?"
Justine nannte ihr eine Uhrzeit. Anschließend erhob sie sich wieder. "Jimmy hat mir noch eine Demonstration vor dem Rathaus aufgebrummt. Er meinte, solange wir nur der Story hinterher hetzten, könnten wir auch kleine Sachen nebenher machen." Sie seufzte. "Als ob eine Demonstration eine kleine Sache wäre. Ich weiß noch nicht einmal, für oder gegen was sie dort demonstrieren."
"Schließ Dich an, wenn es sich um höhere Gehälter für Journalisten handelt."
"Das tue ich. Bis heute Abend dann!"
Sanna wandte sich wieder ihrem Interview zu. Nachdem sie es eine halbe Stunde später Jimmy gegeben hatte, richtete sie ihre Gedanken wieder dem Unfall am Morgen zu - und dem Leichenschauhaus.

Erschüttert stand Sanna etwas später vor den sechs Mädchenleichen. Jetzt, im Tod sahen sie noch kindlicher aus, als sie es wahrscheinlich im Leben schon getan hatten. In Sanna stieg heiße Wut hoch, wenn sie an die Menschen dachte, die diese Mädchen, die gerade erst ihre Kinderzeit hinter sich gelassen hatten, in die Prostitution zwingen wollten. Mit einem Knoten im Hals begann Sanna die Körper der Mädchen zu durchleuchten. Alle trugen den Chip, wie Olga ihn hatte, unter der dünnen Haut ihres Halses. Somit bestätigte das ihre Vermutungen. Mehr noch: Jetzt hatten sie einen Anhaltspunkt. Zusammen mit Justines Liste von den Schlepperwegen konnten sie versuchen, den Weg dieser Mädchen zurückzuverfolgen. Die Polizei konnte ruhig weiterhin an ein Drogendelikt glauben, sie würde nur ihrem Vater eine Nachricht bezüglich des Chips zukommen lassen. Er musste den Kindern die Bomben entfernen und unschädlich machen. Bei einer eventuellen Obduktion würden sie sonst das ganze Haus in die Luft sprengen. Aber den Rest der Geschichte behielt sie für sich - bis die Polizei auf den richtigen Weg kam, hatten sie und Justine schon einen großen Vorsprung.
Sanna gab dem Wärter ein Zeichen, dass sie fertig sei. Dann ging sie mit einem Aufatmen wieder auf die Straße. Sie war froh, jetzt zu Justine und Sue gehen zu können. Die beiden würden es bestimmt fertig bringen, die soeben gesehenen Bilder aus ihrem inneren Auge zu tilgen.
Als sie kurze Zeit später in Justines Wohnviertel ankam, senkte sich bereits die Sonne über Metropolis. Aus den Gärten der Wohnhäuser erklang Kindergeschrei und Hundegebell. Unwillkürlich fühlte Sanna sich nach Smallville zurückversetzt. Fast konnte sie hören, wie ihre Mutter mit dem Salatbesteck oder auf der Tastatur ihres Computers klapperte und dabei auf die Rückkehr ihres Mannes wartete. Wie so oft in ihrem Leben. Sanna fragte sich, ob man die Stunden zählen konnte, die Lois Lane mit Warten verbracht hatte. Selbst wenn man ihren eigenen, ausgefüllten Tagesablauf abzählte, würde die Zahl astronomisch hoch sein.
Das Taxi, das Sanna hergefahren hatte, hielt vor einem kleinen und sauberen Haus an. Neugierig sah sie aus dem Fenster. Auf dem Gehsteig stand ein kleines Fahrrad und hinter dem Gartenzaun lag ein Ball. Im Garten dagegen war ein älterer Mann damit beschäftigt, Rosen zu schneiden und eine ältere Frau, Blumenrabatten zu gießen.
Sanna zahlte und stieg aus. Als die Frau sie kommen hörte, stellte sie die Gießkanne zur Seite und kam näher. Mit einem freundlichen Lächeln hieß sie Sanna willkommen.
"Sie sind Sanna Kent, nicht wahr?" Sie öffnete das Tor. "Justine hat schon von Ihnen erzählt, kommen Sie ruhig herein!"
Mit einem gemurmelten Dankeswort trat Sanna in den Garten. Die Frau streckte ihr die Hand entgegen. "Ich bin Justines Mutter. Mrs. Wilson."
"Danke, Mrs. Wilson. Wo ist Justine?"
"Im Haus. Sie badet gerade Sue." Mrs. Wilson lachte auf. "Sue kam vorhin über und über mit Dreck beschmiert heim. Sie war heute Nachmittag bei den Nachbarsjungen und dort heben sie gerade einen Swimmingpool aus. Wahrscheinlich haben die Kinder schon erste Trockenübungen im Staub versucht!" Sie durchquerte den Vorgarten und führte Sanna zum Haus. Im Haus war es kühl und angenehm. Ein Duft nach Zitrone lag in der Luft und verbreitete eine Ahnung von Sauberkeit. Schon nach kurzer Zeit konnte Sanna auch Kinderkreischen und Wassergeplätscher hören. Sie waren in Justines Bereich gekommen, der mit einer Tür von dem ihrer Eltern abgetrennt war. Sanna bedankte sich bei Mrs. Wilson, die sich sogleich zurückzog
Aus dem Bad hörte sie Justine ihren Namen rufen: "Sanna? Bist Du das?"
Statt eine Antwort zu geben, ging Sanna in das Badezimmer. Auf dem Toilettendeckel saß Justine. Ihr gegenüber stand die Badewanne, die halb mit Wasser und Schaum gefüllt war. In ihr saß Sue. Auf ihren Wangen waren noch Spuren von Dreck.
"Hallo Sanna, bist Du immer so pünktlich?" fragte Justine belustigt.
"Ich bemühe mich! Was gibt es zum Abendessen?"
"Suche es Dir aus. Pizza oder Chinesisch. Beides gibt es um die Ecke."
Sue lachte auf und ließ ihre Hände auf das Wasser klatschen. "Pizza!" kreischte sie vergnügt. "Ich will Pizza!"
Lächelnd sah Sanna zu dem Kind! "Ich will Pizza!" sagte sie zu Justine.
Mit einem Seufzen stand Justine auf. "Sue! Ich habe Sanna gefragt!" Sie nahm ein Handtuch. "Komm, mein Schatz, genug gebadet!"
Das Kind verschränkte die Arme vor den Körper. "Ich will nicht!" sagte es entschieden. "Sanna soll mich abtrocknen."
"Kein Problem!" Sanna nahm Justine das Handtuch ab und trat an die Badewanne. "Bestell Du schon einmal die Pizza, wir machen das hier schon - nicht wahr Sue?"

Es wurde ein sehr vergnügliches Abendessen. Vergnüglich vor allem für Sanna und Sue. Sue erzählte den ganzen Abend von ihrem Nachmittag bei den Nachbarsjungen. Ihre dortigen Erlebnisse sprudelte in einer so drolligen Art aus ihr heraus, dass Sanna sich das Lachen kaum verkneifen konnte. Justine dagegen versuchte den Redeschwall ihrer Tochter zu bremsen. "Sue, Liebes!", sagte sie beschwichtigend, "Du redest Sanna noch ein Ohr ab. Hebe Dir noch etwas Gesprächsthema für das nächste Mal auf!"
"Lass nur, Justine." Mit einer Hand streichelte Sanna über Sues Wange. "Sie ist wunderbar in ihrem Überschwang. Man sollte es noch genießen, solange er so unverfälscht ist!"
"Es stört Dich also nicht?"
"Im Gegenteil." Sie wandte sich an Sue. "Was meinst Du Sue. Sollen wir Deine Mutter den Abwasch machen lassen, während ich Dir eine Gute-Nacht-Geschichte vorlese?"
Begeistert sprang Sue auf. "Ja! Eine Geschichte!" Sie nahm Sanna an die Hand und führte sie in ein kleines, helles Zimmer. Auf dem Boden lag ein bonbonfarbener Teppich mit weißen Wolken. Überall waren Spielsachen und Kuscheltiere verteilt. Sue stieg über ihre Spielsachen und ging zu einem Regal an der Wand. Von dort kam sie dann mit einem Buch in der Hand zu Sanna zurück. "Ich will das hier!" sagte sie und reichte es ihr.
Sanna sah auf den Umschlag. "Schneewittchen und die sieben Zwerge" stand darauf. "Magst Du das Märchen?" fragte sie Sue.
Sue nickte ernsthaft. "Ja! Wenn ich groß bin, will ich auch einen Prinzen heiraten!" Dann überlegte sie kurz. "Oder meinen Dad!"
"Du willst Deinen Dad heiraten? Ich fürchte, das geht nicht!"
"Warum nicht? Mama sagt, dass er noch keine Frau hat."
"Nun, weil ..." Sanna überlegte, wie viel ein Kind in Sues Alter schon über Verwandtschaftsverhältnisse wusste. "... weil Dein Papa bis dahin ein fürchterlich alter Mann ist."
"Wirklich? Aber das macht nichts. Mein Opa ist auch schon alt und hat noch eine Frau."
Angesichts dieser Logik beendetete Sanna lieber das Thema. "Ich lese Dir jetzt vor!" Sie setzte sich auf Sues Bett und klopfte einladend neben sich. "Komm, Prinzessin!"
Sue kicherte und sprang neben sie. An Sanna gekuschelt lauschte sie begierig, als Sanna begann, das Märchen vorzulesen.
Zwanzig Minuten später sah Justine in das Kinderzimmer. Bei dem Anblick, der sich ihr bot, musste sie lachen: Sanna und Sue saßen beide auf dem Bett. Sue hatte sich an Sannas Brust geschmiegt und war eingeschlafen, während Sanna eifrig aus Sues Märchenbuch vorlas. Sie hatte anscheinend noch nicht bemerkt, dass ihre Zuhörerin bereits schlief.
"Sie schläft, Sanna!" sagte Justine leise. "Du kannst aufhören."
"Oh, wirklich? Ich bin von den Märchen so begeistert, dass ich es gar nicht bemerkt habe."
Justine nahm ihr das Buch aus der Hand. "Ich lege sie schon einmal in das Bett. Gehe Du ruhig ins Wohnzimmer."
Leise stand Sanna auf und ging in den angrenzenden Raum. Der Raum, den Justine als Wohnzimmer bezeichnet hatte, war auch ihr Schlafzimmer. Hinter einem Regal, das gleichzeitig als Raumabtrennung diente, stand ein französisches Bett und ein kleiner Schreibtisch. Der Platz vor dem Regal wurde dagegen ganz von einem Sofa, zwei Sesseln und einem niedrigem Tisch eingenommen. Neben dem Sofa stand ein weiteres Tischchen mit einer Lampe darauf. Staunend blieb Sanna vor der Lampe stehen. So eine wie diese hatte sie noch nie gesehen. Die Lampe hatte die Form eines in die Länge gezogenen Pilzes. Das rote und blaue Glas, aus dem sie bestand, wurde von goldenen Fäden durchzogen. Fasziniert setzte Sanna sich vor die Lampe und besah sie sich. Nach einigen Minuten bekam sie dann das Gefühl, dass die Farben des Glases sich änderten. Der rötliche Teil der Lampe wurde heller, wärmer, während die bläulichen Stellen dunkler wurden.
In diesem Moment trat Justine zu ihr. Sanna sah auf. "Du hast eine tolle Lampe! Woher hast Du sie?"
"Von Max. Er hat sie mir zu Sues Geburt geschenkt!"
"Von Max? Ich hätte nicht gedacht, dass er so romantisch ist!"
Lachend ließ sich Justine in einen der Sessel fallen. "Max? Max ist bestimmt nicht romantisch - zumindest war er es nie bei mir. Er hat sich nur auf diese Art und Weise dafür bei mir bedankt, dass er Vater geworden ist!"
"Aber hat er sich nicht beschwert?"
"Das ist nur Tarnung. Er kann es nur nicht zugeben, dass er mir sogar dankbar dafür ist."
"Warum denn das?"
"Es schmälert seiner Ansicht nach die Chancen, eine Frau zu verführen."
Sanna schüttelte den Kopf. "Da sieht man es mal wieder. Im Grunde genommen haben Männer keine Ahnung von dem, was sich eine Frau wünscht!"
"Nun, ja Sanna. Seien wir ehrlich - es ist aber auch nicht leicht!"
"Auch wieder wahr!" Sie beugte sich zu Justine vor. "Wir haben uns aber heute Abend nicht getroffen, um uns über Männer zu unterhalten, oder?"
"Nein, natürlich nicht." Justine stand wieder auf und ging zu ihrem Schreibtisch hinter dem Regal. Mit einer Diskette in der Hand kam sie zurück. "Marcel kam wie versprochen noch vorbei. Er sagte, dass auf dieser Diskette das darauf sei, was ich mir gewünscht habe!" Sie reichte Sanna die Diskette.
"Hast Du sie Dir schon angesehen?"
"Nein. Ich wollte damit warten, bis Sue im Bett ist. Sie mag es nicht, wenn ich arbeite, solange sie noch nicht im Bett ist."
"Welches Kind mag das schon? Aber jetzt schläft sie. Wo steht Dein Computer?"
"Hier!" Justine stand auf und griff unter ihr Bett. In ihrer Hand hielt sie einen Laptop.
Sanna lehnte sich zurück und wartete darauf, dass Justine den Computer aufstellte. Während sie ihr dabei zusah, hörte sie plötzlich, wie jemand im Garten über den Kiesweg lief. Neugierig sah Sanna mit ihrem Röntgenblick durch die Mauern des Hauses. Genau ihr gegenüber stand ein Mann und blickte zu etwas hoch. "Sag mal, Justine", fragte sie schnell. "Erwartest Du heute Abend noch Besuch?"
"Nein - warum?"
Genau in diesem Augenblick zerbarst ein Fenster. Ein kleines Paket von der Größe einer Schuhschachtel flog durch die Scheiben und landete auf dem Teppich. Aus dem Paket war ein leichtes Ticken zu hören.
Wie erstarrt blickten die Frauen auf das Paket. In derselben Sekunde explodierte die Wohnung um Sanna herum. Sanna sah, wie Justine neben ihr zerrissen wurde. Dann flogen Sanna Möbel, Glasscheiben und Mauerteile um die Ohren. Mit einem Schrei des Entsetzen rannte sie zum Kinderzimmer. Doch es war bereits zu spät. Sue, die eben noch friedlich an ihrer Brust geschlafen hatte, lebte nicht mehr.
 
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