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Wozu Wissenschaft?

von Suiluj
Kurzbeschreibung
GeschichteAllgemein / P6 / Gen
25.02.2007
25.02.2007
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811
 
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In den letzten Jahren sind die Naturwissenschaften mit ihrem Wissensanspruch fraglich geworden. Die Theoriebeladenheit jeder Beobachtung und die Unterdeterminiertheit jeder Theorie, der unter dem Einfluss der Quantenmechanik bröckelnde Determinismus und die Erkenntnis, dass mehr Wissen nicht gleichzeitig auch bessere Menschen bedeutet, haben zu dieser Fragestellung geführt. Wieso noch in die Wissenschaft vertrauen, wenn sie uns nicht bessern kann, wenn sie uns nur sehen lässt, was sie vorgibt und es keine allgemeinen Naturgesetze gibt, sondern höchstens statistische?

Heute hat die Wissenschaft die Rolle der Religion als Bewahrerin der Wahrheit übernommen. Im Mittelalter stellte die Kirche das Wissen für die Bevölkerung zur Verfügung und verwaltete es; Glauben und Wissen waren dasselbe. Heute wird das Wissen von der Wissenschaft bereit gestellt, aber es hat sich nichts wirklich geändert: Wer nicht zur Wissenden Klasse gehört, muss daran glauben, was sie ihm sagt; er selbst kann es nicht überprüfen. Und heute wie damals gelten Aussagen der Wissenden Klasse als unumstösslich, zumindest für aussen Stehende. Intern kann es durchaus zu interessanten Diskussionen kommen, aber sie sind zu komplex und spitzfindig, um von den nicht Wissenden überhaupt verstanden zu werden.

Dass ich selbst dabei bin, ins Herz dieser Wissenden Klasse von heute vorzudringen, ändert nichts daran, dass ich mich diesen Fragen stellen muss. Sie sind sogar nur noch dringender geworden dadurch, denn ich habe viel Verantwortung übernommen. Kann ich mit gutem Gewissen Wissen schaffen, an das viele glauben werden, ohne zu wissen, was sie da eigentlich glauben? Kann ich Wissen bereit stellen, das uns neue Instrumente der Weltbeherrschung in die Hand gibt und das Diktatoren zur Auslöschung der Menschheit verwenden könnten, ohne dafür verantwortlich zu sein, was geschieht? Auch wenn ich die Bombe möglich gemacht habe, ich habe sie ja nicht gezündet – oder? Um mir sicher zu sein, muss ich die Fragen, die sich hier stellen, beantworten. Wieso Wissenschaft, und wozu, wenn ihre Folgen so schrecklich sein können?

Immer, wenn ich etwas beobachte, benenne ich das, was ich beobachte. Ich bilde mir Begriffe von den beobachteten Vorgänge und belege sie gleichzeitig mit mir schon bekannten Begriffen. Hätte ich keinen Begriff für etwas, nicht einmal zur Umschreibung, ich könnte es nicht beobachten. Antimaterie wurde erst sichtbar, als man ihre Existenz berechnet hatte. Das heisst nicht, dass sie nicht vorher schon existierte, wie manche Konstruktivisten schliessen, sondern, dass uns fehlende Begriffe einschränken in dem, was wir wissen können. Aber da wir ja nie wissen können, ob wir für alles Entscheidende überhaupt schon Begriffe gefunden haben, wie können wir dann bei unserem  Wissensstand von Wissen reden?

Auch gibt es für nichts eine eindeutige Theorie, die das Phänomen als einzige erklären könnte. Nichts hindert mich daran, zu sagen, dass Zeus die Blitze schleudert (einmal abgesehen davon, dass ich vermutlich sozial geächtet würde). Allein durch Beobachtung zumindest lässt sich nicht entscheiden, ob ich die Götter verantwortlich machen muss für Naturkatastrophen oder ob Elektro- Fluid- und Thermodynamik, Biologie und Chemie recht haben.

Was spricht dann noch für die Wissenschaften, wenn sie scheinbar so wenig abgestützt sind? Was könnte ihnen trotzdem die Berechtigung geben, weiterhin unser Wissen zu verwalten?

Es gibt trotz allem einen Unterschied zwischen der Zeus- und der Ladungstheorie des Blitzes (wenn ich sie einmal so nennen darf). Mit der Zeustheorie lässt sich im Nachhinein alles erklären, aber es lassen sich keine genauen Vorhersagen treffen. Bei der Ladungstheorie ist das gerade umgekehrt: Es ist möglich, dass ihr Aussagen widersprechen, und daher könnte man sie mit vergangenen Ereignissen widerlegen. Gleichzeitig liefert sie Vorhersagen, wie sich die Situation bei bestimmten meteorologischen Voraussetzungen entwickeln wird. Glaube ich an Zeus, so wird mir die Idee eines Blitzableiters absurd vorkommen; mit der Ladungstheorie kann ich mein Haus aber einigermassen wirksam schützen. Das heisst nicht, dass die Ladungstheorie stimmt; aber dieses gerade vorgestellte Kriterium der Überprüfbarkeit gibt uns ein Mittel in die Hand, trotz allem zu entscheiden, was wir Wissenschaft nennen wollen und weshalb wir ihm trotz allem vertrauen können – bis zu einem gewissen Grad.

Wissenschaft ist bei dieser Auffassung eine Sammlung überprüfbarer Aussagen. Dabei geht es nicht darum, ein völlig widerspruchsfreies System zu erstellen, sondern eines, das uns verschiedene Interpretationsmöglichkeiten gibt, die sich wieder überprüfen lassen. Diejenige Theorie, die die besten Vorhersagen liefert und uns die meisten Möglichkeiten in die Hand gibt ist dann diejenige, die wir für den Moment für wahr halten – bis wir eine bessere finden, die mehr erklärt.

Ihre Legitimation hat die Wissenschaft dann auch nicht darin, dass sie wirklich wahre Aussagen liefert (auch wenn das Streben der Wissenschaft immer eines nach Wahrheit ist), sondern darin, dass sie unseren heutigen hohen Lebensstandard ermöglicht. Es steht ausser Frage, dass sie uns auch Probleme geschaffen hat, aber auch diese Probleme lassen sich wieder nur von der Naturwissenschaft lösen. Zumindest macht sie genaue Handlungsvorschriften, wie wir beispielsweise den Klimawandel abschwächen können, und hilft uns damit vermutlich mehr als die Verehrung irgendeines Gottes und die Bitte, er möge das Klima doch wieder so werden lassen wie früher.
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