Das Versprechen
von flower
Kurzbeschreibung
Lebensfreude - Lebensmüdigkeit
GeschichteAllgemein / P12 / Gen
26.01.2007
26.01.2007
1
1.116
26.01.2007
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Das Versprechen I
Der junge Mann sah nicht, wie der Ring an seiner rechten Hand im Mondlicht glänzte und glitzerte. Er nahm kaum etwas wahr, was um ihn herum geschah. Nicht die dunkle Nacht, die ihn einhüllte, nicht den Lärm der Autos, die vorbeirasten, nicht die Musik, die von Zeit zu Zeit aus der Stadt herüberwehte. Er stand da, ohne sich zu bewegen, schaute nach unten, ohne etwas zu sehen.
Der breite Weg für Fussgänger und Radfahrer auf der einen Seite der Brücke lag verlassen da. Nur der junge Mann war dort. Autos fuhren von Zeit zu Zeit vorbei. Der Mann lehnte sich an das metallene Geländer. Nur wenige Zentimeter trennten ihn vom Rand der Brücke, trennten ihn vom Abgrund. Hinter dem Geländer war ein kleiner, fussbreiter Vorsprung.
Der Mond verschwand hinter einer Wolkendecke. Der junge Mann stand im Dunkeln; die Lichtkegel der Autos erreichten ihn nicht. Der Wind säuselte leise, brachte kühle Luft aus dem Norden. Der Mann war sommerlich gekleidet, trug ein schwarzes T-Shirt, Jeans und sportliche blaue Schuhe. Er fror nicht. Er stand nur da, starr ans Geländer gelehnt.
Ein Lastwagen donnerte vorbei. Die Brücke erzitterte. Der junge Mann streckte die Arme, lockerte die Beine. Er schaute sich um, vergewisserte sich, dass er allein war. Vorsichtig begann er über das sperrige, mannshohe Geländer zu klettern. Es war gefährlich. Er wollte nicht ausgleiten. Er wollte springen.
Er platzierte die Füsse auf dem kleinen Vorsprung. Erleichtert richtete er sich auf, atmete tief ein und drehte sich um. Mit beiden Händen griff er hinter sich, umklammerte das kalte Geländer. Wieder stand er still, schaute nach oben, zum Himmel, lauschte in sich hinein.
Abrupt spannten sich seine Muskeln und die Hände lösten sich vom Geländer. Wie in Trance hob er die Arme.
Wieder glitzerte der Ring. Durch einen Spalt in den Wolken hatte sich das Mondlicht einen Weg nach unten auf die Brücke gebahnt. Diesmal bemerkte der junge Mann das Aufleuchten. Seine linke Hand ergriff wieder das Geländer.
Ein Freund hatte ihm den Ring gegeben. Letzten Samstag. Sie hatten Poker gespielt und zu viel getrunken. Der Freund hatte verloren und ihm den Ring als Pfand mitgegeben. Am nächsten Tag hatte er angerufen und ihn gebeten, dem Ring Sorge zu tragen. Er sei sehr wertvoll, nein, nicht sehr viel wert, aber er bedeute ihm sehr viel. Der junge Mann hatte ihm versprochen, den Ring bald zurückzugeben. Dieses Versprechen würde er nun brechen. Der Ring würde mit ihm in die Tiefe fallen, im kalten Wasser versinken und für immer verloren gehen. Er hatte nicht mehr an den Ring gedacht. Er klammerte sich ans Geländer, dachte nach.
Der junge Mann drehte sich um und kletterte zurück auf die andere Seite. Nach einer kurzen Busfahrt stand er vor der Wohnungstür seines Freundes. Er klingelte ihn aus dem Schlaf und gab ihm den Ring zurück. Doch diesen interessierte nur, was den andern mitten in der Nacht zu ihm geführt hatte. Sie sprachen lange miteinander. Meine Zeit ist vorbei, sagte der junge Mann. Du hast das ganze Leben noch vor dir, sagte sein Freund.
Vierzehn Tage später erschien eine Todesanzeige. Ein Auto-Unfall. Diesmal hatte ihn der Ring nicht mehr gerettet.
Das Versprechen II
Die alte Frau betrachtete den Ring an ihrer linken Hand, der im Licht glänzte und glitzerte. Sie nahm die Umgebung in sich auf, die strahlende Sonne, die sie blendete, die Stille der Natur, die sie umgab, die leise Musik, die von Zeit zu Zeit aus dem Dorf herüberwehte.
Ein Wolkenschleier schob sich vor die Sonne, konnte ihre leuchtende Kraft jedoch nicht brechen. Die Schatten der Bäume erreichten die alte Frau nicht. Sie war frühlingshaft gekleidet, trug eine weisse Bluse, einen langen Rock und leichte Schuhe. Sie sass auf einer Holzbank, summte eine alte Melodie vor sich hin und wippte im Takt hin und her.
Ein Schmetterling flatterte vorbei. Die alte Frau sah ihm nach. Wie dieser Schmetterling möchte ich sein, dachte sie.
Wie in Trance erhob sie sich, ging einige Schritte und begann auf der Wiese zu tanzen. Nicht mehr so übermütig wie früher, aber immer noch leichtfüssig und elegant. Sie erinnerte sich an die alten Lieder, an die Tanzfeste auf der knarrenden Bühne.
In einiger Entfernung zwängte sich ein Auto den engen Kiesweg hinauf. Der Fahrer bemerkte die tanzende Frau und stoppte das Auto. Aus der Distanz sah sie aus wie ein junges Mädchen. Fasziniert schaute er ihr zu. Sie tanzte unbekümmert und unschuldig. Sicher ein glückliches Mädchen, frisch verliebt, dachte der Mann neidisch. Ich wünschte, ich wäre wie sie, hätte Zeit zum Tanzen und müsste nicht den ganzen Tag von einem Termin zum nächsten hetzen. Er wünschte sich, einfach in den Tag hineinleben zu können, verfluchte seine Arbeit und fuhr weiter.
Ausser Atem setzte sich die alte Frau auf die Holzbank. Sie lehnte sich zurück, schloss die Augen und genoss die warmen Sonnenstrahlen auf ihrer Haut. Dann stand sie auf, band ihr graues Haar zusammen, das sich beim Tanzen gelöst hatte. Sie bückte sich und entfernte einige Grashalme, die sich im langen Rock verfangen hatten.
Wieder glitzerte der Ring. Die Frau betrachtete ihn. Sie sollte nach Hause gehen, zu ihrem Mann. Sie dachte an ihr Versprechen vor dem Altar, ihn bis ans Lebensende zu begleiten.
Die Leichtfüssigkeit, mit der sie eben noch getanzt hatte, war wie weggeblasen. Sie ging zurück zum Haus, öffnete die knarrende Tür und trat in die kühle, dunkle Stille hinein. Sie setzte Wasser auf und ging ins Schlafzimmer. Ihr Mann erwachte, als sie sich neben ihn aufs Bett setzte.
„Wie geht es dir?“, fragte sie.
„Wie immer“, antwortete der Mann.
„Soll ich das Fenster öffnen?“, fragte sie weiter. „Das Wetter ist heute sehr schön.“
„Wie du meinst“, entgegnete der Mann.
Die Frau öffnete das Fenster, doch der frische Windzug konnte den Geruch von alter, abgestandener Luft nicht verdrängen.
„Wie wär’s mit einem kurzen Spaziergang nach dem Mittagessen? Nicht allzu weit, bis zum kleinen Laden und wieder zurück“, fragte sie.
„Nein“, antwortete er. „Heute habe ich keine Kraft.“
„Ich bringe dir einen Tee“, sagte sie.
„Danke“, murmelte der Mann leise, „danke für alles.“
Einige Zeit später erhielt die alte Frau eine Einladung, einer ihrer Enkel heiratete. Sie ging allein zur Hochzeitsfeier, ihr Mann hatte sein Zimmer seit Wochen nicht mehr verlassen. Sein Lebenswille flackerte nur noch schwach.
Sie genoss die andächtige Stimmung in der Kirche und das Zusammensein mit den Verwandten. Später am Abend tanzte sie, fühlte sich jung und frei, auch wenn sie immer wieder eine längere Pause einlegen musste, um sich zu erholen. Ihr Enkel fragte sie, woher sie all diese Energie nehme, sie sei ja weiss Gott nicht mehr die Jüngste. Die alte Frau lachte, nahm ihn bei der Hand und zog ihn auf die Tanzfläche.
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Der junge Mann sah nicht, wie der Ring an seiner rechten Hand im Mondlicht glänzte und glitzerte. Er nahm kaum etwas wahr, was um ihn herum geschah. Nicht die dunkle Nacht, die ihn einhüllte, nicht den Lärm der Autos, die vorbeirasten, nicht die Musik, die von Zeit zu Zeit aus der Stadt herüberwehte. Er stand da, ohne sich zu bewegen, schaute nach unten, ohne etwas zu sehen.
Der breite Weg für Fussgänger und Radfahrer auf der einen Seite der Brücke lag verlassen da. Nur der junge Mann war dort. Autos fuhren von Zeit zu Zeit vorbei. Der Mann lehnte sich an das metallene Geländer. Nur wenige Zentimeter trennten ihn vom Rand der Brücke, trennten ihn vom Abgrund. Hinter dem Geländer war ein kleiner, fussbreiter Vorsprung.
Der Mond verschwand hinter einer Wolkendecke. Der junge Mann stand im Dunkeln; die Lichtkegel der Autos erreichten ihn nicht. Der Wind säuselte leise, brachte kühle Luft aus dem Norden. Der Mann war sommerlich gekleidet, trug ein schwarzes T-Shirt, Jeans und sportliche blaue Schuhe. Er fror nicht. Er stand nur da, starr ans Geländer gelehnt.
Ein Lastwagen donnerte vorbei. Die Brücke erzitterte. Der junge Mann streckte die Arme, lockerte die Beine. Er schaute sich um, vergewisserte sich, dass er allein war. Vorsichtig begann er über das sperrige, mannshohe Geländer zu klettern. Es war gefährlich. Er wollte nicht ausgleiten. Er wollte springen.
Er platzierte die Füsse auf dem kleinen Vorsprung. Erleichtert richtete er sich auf, atmete tief ein und drehte sich um. Mit beiden Händen griff er hinter sich, umklammerte das kalte Geländer. Wieder stand er still, schaute nach oben, zum Himmel, lauschte in sich hinein.
Abrupt spannten sich seine Muskeln und die Hände lösten sich vom Geländer. Wie in Trance hob er die Arme.
Wieder glitzerte der Ring. Durch einen Spalt in den Wolken hatte sich das Mondlicht einen Weg nach unten auf die Brücke gebahnt. Diesmal bemerkte der junge Mann das Aufleuchten. Seine linke Hand ergriff wieder das Geländer.
Ein Freund hatte ihm den Ring gegeben. Letzten Samstag. Sie hatten Poker gespielt und zu viel getrunken. Der Freund hatte verloren und ihm den Ring als Pfand mitgegeben. Am nächsten Tag hatte er angerufen und ihn gebeten, dem Ring Sorge zu tragen. Er sei sehr wertvoll, nein, nicht sehr viel wert, aber er bedeute ihm sehr viel. Der junge Mann hatte ihm versprochen, den Ring bald zurückzugeben. Dieses Versprechen würde er nun brechen. Der Ring würde mit ihm in die Tiefe fallen, im kalten Wasser versinken und für immer verloren gehen. Er hatte nicht mehr an den Ring gedacht. Er klammerte sich ans Geländer, dachte nach.
Der junge Mann drehte sich um und kletterte zurück auf die andere Seite. Nach einer kurzen Busfahrt stand er vor der Wohnungstür seines Freundes. Er klingelte ihn aus dem Schlaf und gab ihm den Ring zurück. Doch diesen interessierte nur, was den andern mitten in der Nacht zu ihm geführt hatte. Sie sprachen lange miteinander. Meine Zeit ist vorbei, sagte der junge Mann. Du hast das ganze Leben noch vor dir, sagte sein Freund.
Vierzehn Tage später erschien eine Todesanzeige. Ein Auto-Unfall. Diesmal hatte ihn der Ring nicht mehr gerettet.
Das Versprechen II
Die alte Frau betrachtete den Ring an ihrer linken Hand, der im Licht glänzte und glitzerte. Sie nahm die Umgebung in sich auf, die strahlende Sonne, die sie blendete, die Stille der Natur, die sie umgab, die leise Musik, die von Zeit zu Zeit aus dem Dorf herüberwehte.
Ein Wolkenschleier schob sich vor die Sonne, konnte ihre leuchtende Kraft jedoch nicht brechen. Die Schatten der Bäume erreichten die alte Frau nicht. Sie war frühlingshaft gekleidet, trug eine weisse Bluse, einen langen Rock und leichte Schuhe. Sie sass auf einer Holzbank, summte eine alte Melodie vor sich hin und wippte im Takt hin und her.
Ein Schmetterling flatterte vorbei. Die alte Frau sah ihm nach. Wie dieser Schmetterling möchte ich sein, dachte sie.
Wie in Trance erhob sie sich, ging einige Schritte und begann auf der Wiese zu tanzen. Nicht mehr so übermütig wie früher, aber immer noch leichtfüssig und elegant. Sie erinnerte sich an die alten Lieder, an die Tanzfeste auf der knarrenden Bühne.
In einiger Entfernung zwängte sich ein Auto den engen Kiesweg hinauf. Der Fahrer bemerkte die tanzende Frau und stoppte das Auto. Aus der Distanz sah sie aus wie ein junges Mädchen. Fasziniert schaute er ihr zu. Sie tanzte unbekümmert und unschuldig. Sicher ein glückliches Mädchen, frisch verliebt, dachte der Mann neidisch. Ich wünschte, ich wäre wie sie, hätte Zeit zum Tanzen und müsste nicht den ganzen Tag von einem Termin zum nächsten hetzen. Er wünschte sich, einfach in den Tag hineinleben zu können, verfluchte seine Arbeit und fuhr weiter.
Ausser Atem setzte sich die alte Frau auf die Holzbank. Sie lehnte sich zurück, schloss die Augen und genoss die warmen Sonnenstrahlen auf ihrer Haut. Dann stand sie auf, band ihr graues Haar zusammen, das sich beim Tanzen gelöst hatte. Sie bückte sich und entfernte einige Grashalme, die sich im langen Rock verfangen hatten.
Wieder glitzerte der Ring. Die Frau betrachtete ihn. Sie sollte nach Hause gehen, zu ihrem Mann. Sie dachte an ihr Versprechen vor dem Altar, ihn bis ans Lebensende zu begleiten.
Die Leichtfüssigkeit, mit der sie eben noch getanzt hatte, war wie weggeblasen. Sie ging zurück zum Haus, öffnete die knarrende Tür und trat in die kühle, dunkle Stille hinein. Sie setzte Wasser auf und ging ins Schlafzimmer. Ihr Mann erwachte, als sie sich neben ihn aufs Bett setzte.
„Wie geht es dir?“, fragte sie.
„Wie immer“, antwortete der Mann.
„Soll ich das Fenster öffnen?“, fragte sie weiter. „Das Wetter ist heute sehr schön.“
„Wie du meinst“, entgegnete der Mann.
Die Frau öffnete das Fenster, doch der frische Windzug konnte den Geruch von alter, abgestandener Luft nicht verdrängen.
„Wie wär’s mit einem kurzen Spaziergang nach dem Mittagessen? Nicht allzu weit, bis zum kleinen Laden und wieder zurück“, fragte sie.
„Nein“, antwortete er. „Heute habe ich keine Kraft.“
„Ich bringe dir einen Tee“, sagte sie.
„Danke“, murmelte der Mann leise, „danke für alles.“
Einige Zeit später erhielt die alte Frau eine Einladung, einer ihrer Enkel heiratete. Sie ging allein zur Hochzeitsfeier, ihr Mann hatte sein Zimmer seit Wochen nicht mehr verlassen. Sein Lebenswille flackerte nur noch schwach.
Sie genoss die andächtige Stimmung in der Kirche und das Zusammensein mit den Verwandten. Später am Abend tanzte sie, fühlte sich jung und frei, auch wenn sie immer wieder eine längere Pause einlegen musste, um sich zu erholen. Ihr Enkel fragte sie, woher sie all diese Energie nehme, sie sei ja weiss Gott nicht mehr die Jüngste. Die alte Frau lachte, nahm ihn bei der Hand und zog ihn auf die Tanzfläche.
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