Terminator Band 3 - Grausame Realität
von andilone
Kurzbeschreibung
Ein Jahr nach dem Angriff von Skynets Cyborgs, der zwei von ihnen das Leben kostete, sieht sich die Gruppe im Safehouse mit ihrem schlimmsten Albtraum konfrontiert: nicht gegen Terminatoren müssen sie nun kämpfen, sondern gegen plündernde und gut bewaffnete Menschen. Als diese indirekt auch noch Skynet auf seinem Vormarsch nach Europa auf ihren Standort aufmerksam machen, eskaliert die Lage in einer gewaltigen Schlacht. Der Rückzug des Widerstandes und ihr anschliessender Guerillakampf gegen die Maschinen zieht sich über Jahrzehnte hin, bis sie sich am Ziel und Skynet vernichtet glauben. Doch besonders tragische Umstände machen eine erneute Zeitreise aus dem Jahr 2032 in unsere Gegenwart nötig, um nicht im Nachhinein alles zu verlieren, was sich die Resistance hart erkämpft hat...
GeschichteAbenteuer / P18 / Gen
Terminator T-1000
Terminator T-850
Terminator T-X
22.12.2006
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Freiburg im Breisgau, Deutschland 27. Oktober 2001
Lange hatte das schöne Wetter nicht gehalten. Heute war es kühl und regnerisch gewesen, doch mit Einsetzen der Dunkelheit hatte der Regen nachgelassen, sodass man auch ohne Schirm oder Kapuze durch die Straßen der Stadt gehen konnte.
So waren Caroline und Ana Simon und Abbey gefolgt, die ziemlich lange zusammen in einer kleinen, aber feinen Pizzeria gespeist hatten, dem Casa Dante, das brandneu war und dummerweise auch noch genau gegenüber dem Schauplatz ihrer letzten Begegnung mit Karin und Maja lag.
Was natürlich bei Ana unwillkommene Erinnerungen wachrief und ihr einen Kloß im Magen bescherte, den sie die ganze Zeit über nicht loswerden konnte. Wer konnte das schon so leicht wegstecken, der eigenen Mutter zu begegnen, in einem Alter, das fast ihrem eigenen entsprach?
Sie standen auf dem leer geräumten Platz neben der Gartenstrasse und taten so, als würden sie sich ganz zwanglos leise unterhalten wie zwei Freundinnen, die sich zufällig hier begegnet waren. Dabei spähten sie durch die großflächige Glasfront und observierten ihre Zielpersonen.
„Kannst du erkennen, was sie reden?“ wollte Ana neugierig wissen.
„Nur das, was Simon sagt, Abbey ist mir abgewandt. Zum Glück, würde ich sagen, denn sie hätte längst bemerkt, dass wir sie beobachten. Simon hatte in seinen jungen Jahren kein sehr ausgeprägtes Gespür für solche Dinge.“
Ana überlegte einen Moment. „Aber dennoch weißt du, was Abbey sagt, nicht wahr?“
Caroline seufzte. „Du bist gut, Ana, sehr gut. Den analytischen Scharfsinn hast du bestimmt von deiner Mutter geerbt. Ja, ich gebe zu, ich kann mich noch an jedes Wort erinnern, das ich damals mit Simon gewechselt habe, da keine dieser Daten jemals verloren gegangen ist. Aber es würde dich nicht interessieren; wir waren damals in einer Phase, in der unsere Beziehung durch die unausgesprochenen Dinge bereits ziemlich belastet war.“
„Hm, trotzdem unterhält er sich offenbar gut mit dir“, stellte sie fest.
„Er war es von uns allen am meisten, der sich an unsere Bindung geklammert hat. Er hat mich damals sehr geliebt, musst du wissen, auch noch, als er bereits wusste, dass etwas mit uns, mit Daniel und mir, nicht stimmte. Er wollte diese Liebe nicht den besonderen Umständen zum Opfer fallen lassen, glaube ich. Und er hatte nie wieder eine Freundin nach mir, bis er Silke begegnet ist.“ Caroline sah sich um. „Wenn ich damals gewußt hätte, dass zwei Kämpfer aus der Zukunft draußen stehen und uns beobachten… aber niemand von uns hat etwas bemerkt, bis es zu spät war. Die Rebellen waren echt gut; wir hatten keine Ahnung von dem, was uns da drohte.
Annie hingegen hat sich schon beinahe plump verhalten bei ihrer bisherigen Observation. Mir will nicht in den Sinn, dass sie sich so ungeschickt anstellt.“
„Umso besser für uns, oder?“ Ana sah auf. „Da, sie bezahlen. Wohin?“
Caroline entschied sofort: „In Richtung Dreisam. Ich glaube nicht, dass sie jetzt noch einen romantischen Spaziergang am Fluß machen werden. Nein, ich weiß es sogar. Sie werden heimgehen.“
„Wieso müssen wir Abbey eigentlich beobachten? Du weißt schließlich bereits im Voraus, wo sie gewesen ist und was sie getan hat“, beschwerte sich Ana unwillig, als sie schnell über eines der kleinen Bächlein schritten und sich vom Eingang des Lokals entfernten.
„Du vergisst wohl, weshalb wir da sind. Unser Ziel ist es, Annie aufzuspüren. Eines der Ziele der Rebellen ist Abbey, weshalb sie sie früher oder später beobachten werden. Und da Annie der Rebellen habhaft werden will…“
„Ja, schon gut, ich hab’s allmählich kapiert. Wohin gehen sie also?“ Sie beobachtete, wie die beiden Arm in Arm, aber nicht gerade wie frisch verliebt wirkend, um die Straßenecke am anderen Ende bogen.
Caroline musste nicht lange in ihren Speichern suchen. „Sie werden die gesamte Kaiser-Joseph-Straße entlang unter den Arkaden hindurch schlendern und dann in die Weberstraße zur WG gehen, wo sie…“
Als sie innehielt, merkte Ana auf. „Was ist?“
„Wir müssen uns beeilen, das könnte knapp werden, wenn wir dranbleiben wollen.“ Rasch schritten sie die nur dürftig erhellte Straße entlang zurück in Richtung Innenstadt. Als sie das Martinstor durchquert hatten, sahen sie sie von weitem inmitten der vielen Leute, die heute Nacht ausgingen und ihren Spaß haben wollten.
Sie bogen bei der Rathausgasse ein und nahmen die Parallelstrasse zur großen Freiburger Einkaufsmeile, sodass sie am anderen Ende der Weberstraße ankamen, als die beiden gerade vor ihrer Haustür standen und sich einen flüchtigen Kuss auf die Wange gaben. Dann schloss Abbey die Tür auf und ging ins Haus, während Simon stehen blieb und wartete.
„Und was jetzt?“
Ein dumpfes Grollen nahm ihr die Antwort vorweg. Schnell zog Caroline Ana in einen dunklen Hauseingang, als Karin nur zwei Meter entfernt mit Daniels altem Calibra Sportcoupé an ihnen vorbei fuhr und an der Ecke hielt, wo Simon zustieg.
Als sie losfuhren und gleich darauf an einer roten Ampel standen, derselben, die in drei Jahren in kurzem Abstand zweimal von Alex während ihrer Rettung in Freiburg überfahren werden würde, trat Caroline in Aktion. Sie trat schnell zum nächsten Auto, einem schwarzen 3er BMW, und fuhr ihren Zeigefinger zu einem spitzen metallischen Dorn aus, worauf mit einem unaufdringlichen blauen Leuchten eine winzige Menge ihrer verbliebenen Nanobots über die Türschloßmechanik von der gesamten Bordelektronik Besitz ergriffen. Die Türen entriegelten sich und der Motor sprang von ganz alleine an, noch während die verdutzte Ana zur Beifahrertür hin geschoben wurde.
„Schnell jetzt, sonst verpassen wir sie.“ Caroline fuhr an, doch die Ampel hatte sie gerade auf den Friedrichring entlassen und sprang just wieder auf Rot. Der T-X nahm kurz die Lage auf und bog trotz rotem Signal ebenfalls ganz gemütlich auf die zweispurige Innenstadt-Umfahrung ein. Ana verkniff sich jeden Kommentar.
„Wohin geht es?“ fragte sie stattdessen, als sie beim Siegesdenkmal auf die Zähringer Straße einspurten, um ihre ahnungslosen Verfolgten nicht zu verlieren.
„Ich habe da so eine Ahnung.“ Caroline überlegte, was bei ihr hieß, die Aufzeichnungen darüber abzurufen, was Karin und Simon damals zu Abbey gesagt hatten, wohin sie gehen wollten. „Und das heißt, es könnte Probleme geben. Ich rufe schnell Nick an und gebe ihm Bescheid, dass wir unterwegs sind.“
Als sie der Hauptstraße in Richtung Norden folgten, bewegte sie tonlos die Lippen im stummen Gespräch mit Nick oder Karin, als sie sie in Bereitschaft versetzte. Ana war überzeugt davon, dass sie auch ohne diese menschliche Geste ausgekommen wäre, doch nach fast acht Jahrzehnten war sie so menschlich geworden wie eine Maschine es nur werden kann.
Nur einmal wies sie auf die Seite: „An dieser Stelle habe ich mich damals – das heißt 2004 – von Alex einfangen lassen. Ach, das waren noch Zeiten.“
Am nördlichen Ende des Industriegebietes Nord bestätigte sich Carolines Ahnung, als sie die junge Karin auf ein weitläufiges Parkplatzgelände einbiegen sah, das sich vor der hiesigen Filiale einer bekannten Baumarktkette ausbreitete. Sie fuhr achtlos am Parkplatz vorbei, am Eingang zum Kellergeschoss des gigantischen Gebäudes, vor dessen hoch umzäuntem Rand sich bereits eine Warteschlange von aufgestylten jungen Menschen gebildet hatte, die frierend in der nasskalten Herbstnacht ausharrten.
„Alles klar, sie wollen in den Funpark“, bemerkte Caroline und wendete höchst illegal um eine Verkehrsinsel herum, welche die Einmündung in die Nachbarstrasse bildete, um nochmals in entgegen gesetzter Richtung langsam an der Schlange vorbei zu fahren. An dessen Ende reihten sich gerade Simon und Karin ein, ohne etwas davon zu merken, dass ihnen soviel Aufmerksamkeit zuteil wurde.
Der T-X steuerte auf den Parkplatz und stellte ihr Auto auf einem unbeleuchteten Platz im hintersten Winkel des weitläufigen Areals ab. Sie sah Ana an. „Hast du Geld dabei?“
„Ja, hier, etwa sechzig Mark.“ Noch bevor sie das Geld aus ihrer Hosentasche kramen konnte, winkte Caroline ab.
„Gut, das reicht für uns beide. Der Eintritt und Mindestverzehr für uns beide beträgt etwa die Hälfte, aber wir sind schließlich nicht zum Vergnügen da. Allerdings müssen wir unsere Kleidung etwas verändern, wir wollen ja nicht auffallen, oder? Was in diesem Fall heißt, wir müssen uns ein wenig mehr aufdonnern. Gott sei Dank habe ich in den letzten Tagen bei jeder Gelegenheit vorbeilaufende Leute ‚rein zufällig’ gestreift und dabei analysiert. Vor allem in der Studentendisco und den beiden In-Cafés war das eine lohnende Sache, würde ich sagen.“
Sie steuerten einen Seat Alhambra an, dessen voluminöse Heckverglasung komplett mit rabenschwarzen Tönungsfolien ausgekleidet war. Ohne mit der Wimper zu zucken, öffnete Caroline über einen ausgestreckten Finger das Türschloß und hinderte sogar die Innenbeleuchtung am Anspringen, sobald sie die Fondtür öffnete und die erstaunte Ana hinein schob.
„Das ist unsere Umkleidekabine“, erklärte sie kurzerhand. „Ich mache den Anfang, dann kommst du dran.“
Und das silberne flüssige Schillern überzog sie, den Roboter in ihr freilegend. Ana, die den Anblick nicht gewohnt war, erschrak sich ein bisschen, vor allem als ihre Glieder auseinander fuhren und sie um etwa zwanzig Zentimeter größer machten. Als Konturen, Strukturen und dann Farben zurückkehrten, war aus ihr eine schlanke, sehr attraktive Frau Mitte zwanzig geworden, die mit einem weißen, zu engen Spaghettiträgertop, einem ebenso enthüllenden schwarzen Minirock und silbernen Schnürsandalen bekleidet war. Ihr langes blondes Haar umrahmte ein Gesicht von klassischer nordischer Schönheit mit eisblauen Augen.
Das war die ‚Default’- oder Ursprungsform des T-X, wie Ana inzwischen wusste.
„Oh Mann, Caroline, wenn ich so neben dir herlaufe, wird man hinterher eine polizeiliche Befragung machen können und jeder wird schwören, sich nicht mehr an mich erinnern zu können. Dein Aussehen ist sozusagen ein Freibrief für mich.“
Sie schüttelte das seidenglatte Haar. „Oh nein, so leicht kommst du mir nicht davon. Wenn wir nicht im Zweierpack dort hinein gehen, fallen wir umso mehr auf. Die schwarzen engen Jeans und die knöchelhohen Lederstiefel sind in Ordnung. Aber das Oberteil… was hast du unter diesem unansehnlichen graubraunen Wollstrickpullover an? Zeig’ doch mal her.“
Als sie das weiße Unterhemd und einen einfachen BH erblickte, seufzte sie auf. „Gut, dann versuchen wir etwas Neues. Zieh’ das Zeug aus. Ja, alles; schau nicht so belämmert. Schnell, wir haben nicht den ganzen Abend Zeit.“
„Ich hoffe, du weißt was du tust.“ Schnell legte Ana die Kleidung ab und setzte sich aufrecht hin, mit einem Anflug von Scham. Caroline schien einen Moment lang etwas zu überlegen, während sie ihre Wahl traf, dann berührte ihr Zeigefinger Anas Schulter.
Und die silberne Flüssigkeit kroch von ihrer Fingerspitze herab und in einer feinen Schicht über ihre Schulter und verteilte sich wie Quecksilber über ihren Oberkörper.
Ein wenig schaudernd fragte sie: „Was tust du da? Das ist sehr unangenehm! Und es ist kalt!“
„Vertrau’ mir, nur noch einen Moment, dann hab’ ich’s.“ Nun bildete sich so etwas wie ein hauchdünner Stoff aus, der fliederfarben glänzte. Sie bemerkte einen feinen Strang, der über ihren Rücken kroch und sie kitzelte, dann war das Werk vollbracht. Es war ein synthetisches Top, das metallicfarben war, oben hochgeschlossen und zum Bauch hin sich zu einer Spitze verjüngend, wie es heutzutage dutzendfach getragen wurde. Allerdings war es im Rücken völlig frei, nur von einem dünnen Band auf Brusthöhe gehalten und sehr freizügig.
„Das soll ich tragen? Du machst wohl Witze! So hatte ich mir das tolle ‚Ausgehen’ hier in der Vergangenheit nicht vorgestellt.“ Sie versuchte, sich das Stückchen Stoff abzustreifen, musste aber feststellen, dass es sehr flexibel und anschmiegsam war und sich nicht so einfach ausziehen ließ.
„Ich bitte dich, Ana! Das ist genau das richtige Maß an Schamlosigkeit für solch einen Ort. Außerdem ist es kugelsicher und feuerfest. Du darfst dich allerdings nicht weit von mir entfernen, sonst verliert dieser Bestandteil seine Substanz, kehrt in seine ursprüngliche polimimetische Form zurück und bewegt sich automatisch in meine Richtung, um sich mit der Hauptmasse zu verbinden.“
„Oh je, auch das noch. Wie weit denn?“
„Etwa siebzehn Kilometer.“
Mit säuerlicher Miene erwiderte sie: „Haha! Ich werde mich in diesem Sündenpfuhl, in dem so etwas als normale Kleidung gilt, nicht einmal siebzehn Meter von dir entfernen. Können wir dann? Ich will es hinter mich bringen.“
„Gleich, erst noch dein Haar. Du trägst es immer mit einer Spange oder einem Band zusammen gebunden, wie deine Mutter oder Karin. Ich stecke es dir noch schnell hoch, das verändert dein Aussehen ganz gewaltig. Sogar wenn du Karin über den Weg laufen solltest, was du nicht wirst, würde sie dich nicht sofort erkennen.“ Caroline nahm Anas langes braunes Haar auf und verlängerte einen Finger, bis er Form und Aussehen eines dünnen Holzstabes annahm, welchen sie durch den ‚Dutt’ steckte und abtrennte.
Beim Verlassen des Wagens fragte Ana: „Und was wird jetzt aus meinen Sachen?“
„Ich verriegle den Wagen so, dass ihn niemand mehr aufbekommt, auch der Besitzer des Schlüssels nicht. Wenn er vor uns zurückkommen sollte, wird er wohl entnervt über den Defekt in der Schließanlage des Vans ein Taxi nach Hause nehmen müssen.“
Dann stellten sie sich in die Schlange, abschätzende und missbilligende Blicke von anderen Frauen und begierige der männlichen Wartenden auf sich ziehend. Beiden machte die Kühle nichts aus, Caroline aus nahe liegenden Gründen und Ana deshalb, weil sie ihre Kindheit im kontinentalen Klima des im Frost erstarrten Russlands verbracht hatte und ganz andere Temperaturen hatte erdulden müssen. Für sie konnte es hier im milden Freiburg gar kein unwirtliches Klima geben, ganz gleich wie sehr die hier Heimischen froren.
Sie gelangten immer in einzelnen Schritten, unterbrochen von kurzen Warteperioden, zum hohen Maschendrahttor, zwei Riffelblechtreppen hinab und über einen kleinen Vorhof zum überdachten Eingang, wo bereits drei Türsteher warteten und den Einlass sowie die Identitätskontrolle vornahmen. Als Caroline die Prozedur sah, griff sie in die schlichte kleine Handtasche, die sie immer bei sich trug, um nach einer Sekunde einen Personalausweis auf Anas Namen hervor zu ziehen, nach dem sie einundzwanzig war. Mit einem Schmunzeln drückte sie ihn ihr in die Hand.
Caroline bemerkte die Blicke von zweien der drei Sicherheitsleuten, die im Hintergrund als Verstärkung standen. Sie sah, wie der eine raunte: < Sieh’ dir die beiden Schätzchen da an. Nicht übel, was? >
Der andere folgte dem Blick seines Kollegen und machte große Augen. Caroline las: < Nanu, ich hab’ doch noch gar nichts gebechert. Wieso seh’ ich denn doppelt? >
Nach ein paar Minuten waren sie an der Reihe. Bevor einer der Türsteher etwas sagen konnte, wandte sich Caroline mit einem bezaubernden Lächeln an sie, auf Ana deutend: „Hi. Könnt ihr euch zufällig noch daran erinnern, ob ihre Schwester schon da ist?“
„Zufällig ja, aber man wird sowieso nur Security-Guard, wenn man ein ausgezeichnetes Personengedächtnis hat“, protzte der erste, ein Fitnessstudio-Goliath mit Glatze und Kinnbart.
„Ich hab’ dich schon gleich erkannt und dachte, du hast eine Zwillingsschwester, die ich vor gerade mal zehn Minuten eingelassen habe. Aber jetzt würde ich doch eher auf die kleine Schwester tippen.“
„Genau richtig“, bestätigte Ana geistesgegenwärtig mit belegter Stimme und fügte noch ironisch hinzu: „Sie ist drei Jahre jünger, aber man könnte meinen, sie ist mir förmlich aus dem Gesicht geschnitten.“
„Ja, wirklich krass, diese Ähnlichkeit. Allerdings war sie ein wenig unauffälliger angezogen. Nicht, dass du dir’s nicht erlauben könntest“, fügte er mit einem süffisanten Grinsen und einem eindeutig entkleidenden Blick hinzu.
„Ja, sehr charmant“, gab Caroline ein wenig ärgerlich zurück. „Können wir jetzt rein?“
„Aber klar doch“, beeilte sich der zweite mit dunkler Bürstenfrisur und slawischem Aussehen
zu bestätigen. „Wenn die Käfige im Hangar frei sind, könnt ihr die gerne auch mal zum Tanzen benutzen.“
„Träum’ weiter“, zischte sie darauf und zog die perplexe Ana mit sich zur Kasse, wo sie beide eine Chipkarte bekamen, auf denen der Eintrittspreis und sämtliche Konsumationen gespeichert wurden, bis sie beim Verlassen der Disco ausgelesen und beglichen würden.
„Was für Käfige?“ wollte Ana verständnislos wissen.
Caroline seufzte. „Du wirst es gleich sehen. Scharfsinnig reagiert übrigens, bei den Türstehern meine ich. Du weißt was das heißt?“
Ein grimmig zufriedenes Lächeln stahl sich auf ihre dünn zusammen gekniffenen Lippen. „Ja. Wir haben eine heiße Spur.“
„Brandheiß. Ich teile Nick und Cybil über Mobiltelefon mit, dass sie hierher kommen sollen, als moralische Verstärkung. Wenn es ernst wird, kann ein kleiner Bluff vielleicht nicht schaden.“ Caroline wirkte kurz abwesend, als sie die Verbindung aufbaute und ihnen die Neuigkeiten übermittelte.
Ana warf ihr einen misstrauischen Blick zu. „An was denkst du dabei?“
„Abwarten.“
Caroline zeigte ihr die Lokalitäten, die aus drei Discos und einem Chill-Out-Bereich im Stil eines mediterranen Cafés bestanden. Der Funpark war bereits heillos überfüllt mit einem kaleidoskopartigen Spektrum von Gästen, was Alter, Herkunft, sozialen und finanziellen Status betraf. Sie wandten sich zunächst, vom Eingang her kommend, direkt nach rechts, wo sie eine Aprés-Ski-Atmosphäre im Holzschober-Discostil erwartete. In diesem Etablissement mit dem tiefsten Niveau, was die Musik und das Publikum anging, verweilten sie am Eingang. „Da drüben am anderen Ende sind Karin und Simon, an der Bar auf den Hockern. Siehst du?“
„Wie hast du sie nur so schnell entdeckt?“
„Ich habe ihre Biosignaturen wie Wärmebild und Herzrhythmus gespeichert, die ich selbst in einer solchen drangvollen Enge auf knapp zwanzig Meter noch isolieren kann. Und jetzt muss ich nur noch jemanden finden, der einen extrem schwachen Puls mit einer Frequenz von etwa fünfzehn Schlägen die Minute hat. Das sollte nicht allzu schwierig werden.“
Ein offenbar stockbesoffener junger Kerl mit muskulösem Körper und entsprechend figurbetonter Kleidung hielt plötzlich neben Ana, seine Hand seltsamerweise unter die Achselhöhle geklemmt und sie verblüfft anstarrend. „Heiliger Bimbam, dich gibt’s ja zweimal!“
„Was willst du von mir?“ Sie legte ihm eine Hand auf die Brust, um ihn auf Distanz zu halten, als er nach vorne auf sie zu schwankte. Dabei musste sie sich eingestehen, dass sich dieser durchtrainierte Brustkorb gar nicht so schlecht anfühlte.
Er hielt sich die Hand und lallte mit schwerer Zunge und wässrigem Blick: „Tut mir leid, ich habe dich verwechselt. Du siehst aber noch besser aus als die andere, die gleich aussieht wie du. Aber brutal war sie; meine Finger hat sie mir zerquetscht, als ich sie nur so’n bisschen gestreift habe. Nur so’n kleines bisschen…“
Sie sah ihn an. „Ja, sie kann echt fies drauf sein, wenn man sie blöd betatscht. Zeig mal her… Scheiße, sie hat ihm alle vier Finger mehrfach gebrochen.“
„Aua, das tut weh!“, beschwerte sich der junge Mann, als Ana sich seine Hand vorsichtig ansah.
„Wenn der nicht so stinkbesoffen wäre, würde er wahrscheinlich vor Schmerz in Ohnmacht fallen“, urteilte Caroline und wandte sich an ihn. „Wo ist das passiert?“
„Na, da vorne am anderen Ende der Bar da rechts dort. Vor gerade eben nur zwei Minuten oder so.“ Er wies mühsam mit der gesunden Hand auf die Baranlage neben ihnen, die gegenüber von Simons und Karins Standort lag. Seinen verwirrten Aussagen nach war genug Sinn zu entnehmen, um ihr Ziel einzugrenzen.
Und dann erstarrte Caroline.
„Ana, kümmer’ dich doch bitte um den armen Kerl. Verarzte ihn oder bring ihn zu den Security-Typen, damit die das machen. Ich rede mal ein ernstes Wort mit deiner bösen Schwester. Keine Angst, ich finde dich dann schon wieder.“
Ana machte große Augen, während der Betrunkene mühsam artikulierend hinzufügte: „Und sag’ ihr, das war ganz schön gemein. Mir tun alle Finger weh…“
Ana hakte ihn unter und bugsierte ihn hinaus, was dieser nur allzu gern mit sich machen ließ. Seine unmäßig hart bestrafte Missetat hatte ihm nun doch noch eine fette Beute eingebracht, auch wenn sie nur die Sanitäterin zu spielen schien.
Sie begleitete ihn zum Eingang und erklärte der Kassiererin das Problem, worauf diese einen der Sicherheitsleute holte, der sie beide sofort in den Backstagebereich in ein kleines Krankenzimmer für lädierte oder kollabierte Gäste führte. Bereitwillig überließ der Wächter ihr das Verarzten mit dem bereitgestellten Material, als sie ihm erklärte, sie habe weit reichende Erfahrung mit Verbandstechnik und Erster Hilfe, was ja in diesem Sinne durchaus der Wahrheit entsprach. Jeder in der Widerstandsarmee der Zukunft hatte das.
Als der Guard sah, dass der Verletzte in guten Händen war, sagte er, er drehe schnell eine Runde und wäre in fünf Minuten zurück.
„Du machst das echt gut“, bemerkte der junge Mann, dessen grüne Augen bereits weniger glasig waren, da der Schmerz mit dem Anschwellen der Finger und dem Ausstoß von Adrenalin offenbar den Rausch überlagerte. „Ich heiße übrigens Hendrik. Tut mir leid, dass ich so ein jämmerliches Bild abgebe; ich hab’s wohl bisschen übertrieben mit dem Saufen.“
„Ja, zweifellos, du stinkst wie eine Schnapsbrennerei“, rügte Ana lachend und schob ihm einen Kaugummi hin, bevor sie den Verband beendete.
Annie lehnte an der Bar und nippte an einem eiskalten, randvoll mit Eiswürfeln gefüllten Glas mit Mineralwasser und beobachtete verstohlen die beiden alten Freunde, die hier noch so jung und unschuldig waren. Von den Rebellen war dummerweise noch niemand aufgetaucht, an den sie sich hätte hängen können. Sie strich sich über das lange braune Haar und sah einem vierschrötigen blonden Kerl neben sich finster in die Augen, als Warnung, sie bloß nicht anzusprechen, geschweige denn anzubaggern. Er verstand die Geste trotz seines leicht benebelten Zustandes und drehte sich weg von ihr. Gut.
Dafür erfassten ihre Sensoren jetzt jemanden, der sich unmittelbar vor ihr aus der Menge schälte und ihr eine Hand auf die Schulter legte. Sie fuhr zu dem großen, schlanken Mädchen mit der üppigen Figur herum und starrte in ihre freundlichen, blauen Augen. „Hallo, darf ich dich mal was fragen?“
Ein Gefühl de Unsicherheit machte sich in ihr breit, als sie erwiderte: „Ja, worum geht’s?“
„Ich möchte dir Alternativen anbieten.“
Ihre Augen leuchteten blau auf wie zwei winzige Neonröhren.
Im gleichen Moment sah Annie zwei Personen, die verdächtig nach Abbey und Daniel aussahen, zur Tür hereinkommen, womit ihr auch der Fluchtweg versperrt war.
Es war aus.
Eine Welle der Frustration überkam sie und unterdrückte jeden Versuch des Widerstandes, denn sie wusste, dass sie gegen die beiden anderen von der Résistance mechanisch verstärkten T-880 keine Chance hatte, ganz zu schweigen gegen Caroline.
Mutlos und konsterniert fragte sie: „Warum seid ihr mir gefolgt? Warum wollt ihr uns nicht eine Chance geben, unseren Seelenfrieden zu erlangen?“
„Weil eure Idee der falsche Weg ist; Knut ist gefasst worden und hat uns alles erzählt. Wenn du mitkommst, werde ich es dir die erwähnte Alternative erklären. Es ist nicht ganz so einfach, wie du es dir vorstellst, denn du machst den gleichen Denkfehler wie einst Skynet mit seinen ersten Versuchen, Connor und seine Mutter zu terminieren.“
„Ich höre.“ Eine Spur von Interesse mischte sich in ihren trotzigen Widerwillen. Es machte keinen Sinn, hier und jetzt einen Konflikt zu beginnen, denn das hätte viele unbeteiligte Verletzte und sogar Tote bedeuten können und bei diesem Kräfteverhältnis unweigerlich mit ihrer Terminierung geendet. Das wollte sie auf keinen Fall riskieren, denn sie war kein gefühlloses Monster mehr, dem unschuldige Menschenleben egal waren. Über dieses Stadium ihrer anfänglichen Existenz hatte Annie sich längst hinaus entwickelt.
„Nicht hier in der Öffentlichkeit. Wir müssen nur noch Ana holen, dann gehen wir und reden. Ich denke, du wirst zufrieden sein mit dem, was ich dir anbieten kann.“ Sie sandte schnell eine SMS an Nick, damit die beiden wieder verschwanden und Annie in dieser kritischen Phase nicht merkte, dass sie die menschlichen Originale waren und nicht ihre kybernetischen Abbilder. Sie nutzten ihr mehr, wenn Annie annahm, dass die beiden immer noch gut verborgen und jederzeit bereit zum Eingreifen im Hintergrund waren.
Sie verließen diesen Teil der Disco und kamen in den hell erleuchteten Eingangs- und Cafébereich, dessen große Bar in der Mitte sie umrundeten, um am anderen Ende den Eingang der ‚Hazienda’ anzusteuern, den Bereich für HipHop, R&B und Black Music. Doch statt hinein zu gehen, wandte sie sich nach rechts, wo in einem toten Winkel der Eingang für den Backstagebereich lag, unauffällig eingefügt in die Dekoration dieses Teils des Komplexes und vor allem unbewacht.
Caroline drückte gegen die Tür, die jedoch geschlossen war. Sie drückte noch ein wenig fester, worauf das Schloß nachgab und aus seiner Fassung gerissen wurde. Sie schob die Tür auf, die vereinzelten erstaunten Gäste ignorierend, und zog Annie mit sich mit. Die Biosignatur von Ana war nur noch wenige Meter entfernt.
Sie betrat den ersten Raum zu ihrer rechten und fand ihren Schützling vor, die gerade den Verband von Hendriks Hand beendete und jetzt erschrocken aufsah. „Caroline, wie kommst du denn…oh!“
Als Annie den Raum betrat, verstummte sie und starrte ihr Ebenbild einfach nur perplex an. Der T-880 war ebenso schockiert, plötzlich einem fast identisch aussehenden Menschen gegenüber zu stehen.
Hendriks Reaktion war ähnlich, doch bevor er auch nur ein Wort sagen konnte, kam aus dem rückwärtigen Bereich einer der Türsteher herangeeilt und brüllte: „Hey, was hat das zu bedeuten? Was habt ihr hier zu suchen?“
Caroline wandte sich ihm zu und informierte ihn: „Wir werden das Gebäude jetzt durch den Hinterausgang verlassen.“
Seine Augenbrauen schossen in die Höhe. „Das glaubst aber auch nur du. Ihr geht jetzt schön artig uuuuf!“
Annie hatte ihn mit dem Kopf gegen den Türrahmen gestoßen, worauf er bewußtlos zu Boden sackte. Caroline fuhr herum, während Hendrik aufsprang und zurückwich. Annie sah in Carolines erzürntes Gesicht und sagte verlegen: „Ups!“
„Wir reden später. Erst mal weg hier“, befand Caroline. Dann ließen sie den verletzten und immer noch leicht benebelten Hendrik zurück und eilten zum Hinterausgang, wobei sie niemandem mehr begegneten. Sie kamen auf der Rückseite des Gebäudes heraus, umrundeten dieses und kehrten zum Parkplatz zurück, wo sich Caroline spontan dazu entschloss, die Zweckentfremdung des Alhambra noch auf eine Entwendung und Rückfahrt in die Nähe ihrer Wohnung auszudehnen.
Noch während der Fahrt kontaktierte sie die anderen und gab ihnen Bescheid, dass sie die Observierungen einstellen konnten, da das Missionsziel erreicht war. Sie trafen sich alle in ihrer Wohnung und setzten sich im Gemeinschaftsraum zusammen.
Caroline fasste die Ereignisse des Abends zusammen und endete damit, ihnen ihren Vorschlag zu unterbreiten, wie man effektiver Annies Herzenswunsch nachkommen könnte und sie so dazu bringen konnte, freiwillig von ihrem Vorhaben abzusehen.
„Ich möchte aber zuerst die Zustimmung von Nicolas dazu, vorher kehre ich nicht mit euch zurück. Außerdem mußt ja nur du allein diese Mission ausführen. Das heißt, wir anderen warten so lange hier auf dich, bis du erfolgreich zurückkehrst.“
Bedächtig nickte Caroline. „Das sind akzeptable Bedingungen, würde ich sagen. Ich verstehe, dass du diese Sicherheiten forderst. Wir müssen aber ohnehin noch drei Tage warten, bis wir den nächsten Rendezvous-Sprung machen können. Ich werde dann in die Zukunft zurück kehren und die Lage erläutern. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, dass jemand unter den gegebenen Umständen diese Bedingungen ablehnen wird. Nicolas wird sicher Verständnis haben.“
Annie seufzte. „Laßt es uns hoffen. Ich dachte schon, ich wäre gescheitert, als du mich vorhin auf einmal angesprochen hast. Und Ana, ich hoffe, du verzeihst mir, dass ich ausgerechnet dein Aussehen gewählt habe. Du weißt, ich habe dich noch nie gesehen und konnte das nicht ahnen, auch wenn die Ähnlichkeit mit deiner Mutter natürlich nicht zu übersehen ist.“
„Schon gut. Der einzige Haken daran ist lediglich, dass du uns an diesen furchtbaren Alptraum erinnerst, wie wir in Skynets Anlage gefangen waren und er uns untersucht hat, um unser Aussehen später kopieren zu können. Das ist uns allen passiert, wie du dir vielleicht denken kannst.“ Sie wies auf die anderen drei jungen Menschen im Raum, die alle ziemlich bedrückt aussahen, auch wenn diese furchtbaren Ereignisse jetzt schon mehrere Jahre für sie zurück lagen.
„Dann werden wir ab jetzt folglich eher zurück gezogen die nächsten Tage hier in der Wohnung verbringen, um weitere unglücksselige Begegnungen zu vermeiden, sowohl mit uns bekannten Menschen als auch Terminatoren. Caroline reist in die Zukunft und kehrt dann wieder zurück, um uns mitzuteilen, was bei der Unterbreitung ihres Vorschlages heraus gekommen ist.“ Karin endete und sah in die Runde.
„Wer will sich eine Pizza kommen lassen?“
Mount Mitchell, Yancy County, North Carolina, USA 20. April 2032
Sie hatten den ersten Rendezvous-Sprung mit dem Datum des 16. Oktobers vor einer halben Sunde durchgeführt, wie erwartet ohne Ergebnis. Nicolas sah sorgenvoll auf die leere Fläche des Zeitfokus, doch Aishe meinte nur mit einer Mischung aus Sorge und Hoffnung in der Stimme: „Gib’ ihnen Zeit. Sie werden das schon schaffen.“
Und Maja legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Wir können ihnen vertrauen. Und Karin ist ja auch noch bei ihnen.“
„Und Caroline. Sie ist unser Trumpf im Ärmel.“ Er legte seine Hand auf ihre und drehte sich um. „Es ist soweit. Versuchen wir es wieder.“
Sie gaben den Technikern des Stützpunktes entsprechende Anweisungen und zogen sich hinter die Schutzwand zurück. Die riesigen Kondensatoren der Anlage, die vom natriumgekühlten Kernreaktor tief unten in den Eingeweiden des Berges gespeist wurden, benötigten eine gute Viertelstunde nach jedem Sprung, um sich erneut voll aufzuladen und die enorme Energiemenge bereit zu stellen, die zum Aufbrechen des Raum-Zeit-Kontinuums vonnöten war. Sie hatten mit Bedacht eine halbe Stunde gewartet, um völlig sicher zu gehen.
Wieder dieses unglaublich grelle Licht und das unerträglich hohe Sirren, das einem durch Mark und Bein ging. Maja dachte, daran würde sie sich niemals gewöhnen können, und wenn sie es hundertmal miterlebte.
Sie linste als erste um den Rand der Begrenzung herum und keuchte auf. „Da ist jemand!“
Caroline erhob sich und sah sich mit mechanischen Bewegungen einmal nach rechts und links um, während ihr Körper vom immer noch unheimlich unmenschlichen silbernen Schimmern überzogen wurde und Kleidung auf ihrem Körper ausbildete. Einige statische Restladungen sprangen in kleinen Lichtbögen von ihrem Körper auf die Energieprojektoren der Anlage, die aussahen wie Strahlenkanonen aus einem hundert Jahre alten Flash-Gordon-Film, über. Maja hatte so etwas noch nie zuvor gesehen. Caroline indes richtete ihren Blick auf sie. „Ich habe Neuigkeiten.“
„Caroline, warum bist du allein? Was ist passiert?“ Shins Stimmlage war am Rande der Hysterie anzusiedeln.
„Kein Grund zur Sorge, den anderen geht es gut. Sie haben mich nur vorausgeschickt, um zu verhandeln.“
Bernd sah sie fragend an, worauf sie schnell präzisierte: „Es ist so: wir haben Annie gefunden und dazu bewegen können, ihren Plan aufzugeben. Wir haben ihr detailliert geschildert, welche Auswirkungen ihr Vorhaben zeitigen könnte. Sie hat allerdings eine Bedingung; nun, eigentlich ist es mehr ein Vorschlag, den ich ihr als Alternative angeboten habe.“
Nicolas sah sie interessiert an. „Alternative? Du meinst, dir ist eingefallen, wie man ihr ihren Wunsch erfüllen könnte, ohne die Zeitlinie in Schutt und Asche zu legen, wie wir sie kennen?“
„Ja, sie hat eingesehen, dass es viel mehr an Subtilität braucht, um keinen bleibenden Schaden mit unabsehbaren Folgen anzurichten. Genauso gut könnten wir versuchen, den Krieg ungeschehen zu machen, was allerdings nicht sehr sinnvoll wäre. Connor war überzeugt davon, er hätte es Anfang der Neunziger Jahre geschafft und musste dann später einsehen, dass das ein Trugschluss war. Mahtobu hat versucht, mit seiner Mission die Entdeckung der ZVA zu negieren und ist durch besondere Umstände ebenso gescheitert. Wir können uns nicht anmaßen, den Lauf der Geschichte nach Belieben beeinflussen zu können. Mit Einzelschicksalen ist das etwas anderes, dort funktioniert das schon eher, wie wir von einigen belegten Beispielen wissen, nicht zuletzt auch von euch allen.“
Maja grübelte: „Da ist etwas dran, muss ich zugeben. Und du möchtest nun am Schicksal von Abbey und Daniel etwas entscheidend ändern, um dadurch deren Entwicklung zu beeinflussen?“
„Ja, aber so subtil und hintergründig, dass in der originalen Zeitlinie, wie wir sie erlebt haben, niemand je etwas davon ahnen wird. Wir müssen einfach den Eingriff vornehmen, nachdem Mahtobu Abbey und Daniel im READ ONLY-Modus bereits zurück ins Jahr 2004 geschickt hat und davon überzeugt ist, dass alles nach seinen Vorstellungen abläuft. Das ist deshalb möglich, weil ich genau weiß, wer von ihnen zu welchem Zeitpunkt unserer Mission an welchem Ort war. Wir werden sozusagen eine Mission ausarbeiten, auf die ich alleine gehen werde, um dieses Ziel zu erreichen. Was haltet ihr davon?“
Freiburg im Breisgau, Deutschland 30. Oktober 2001
Caroline öffnete die Wohnungstür, als alle gerade beisammen beim Abendessen saßen. Sofort wurde sie mit Fragen über ihre Reise in die Zukunft und über den Erfolg ihrer Gespräche bestürmt.
„Ganz ruhig, eines nach dem anderen, dann erkläre ich alles. Eure Eltern waren im Grunde mit allem einverstanden, was ich vorgeschlagen habe. Darüber hinaus freuen sie sich fast diebisch darüber, Mahtobu und seiner Halsstarrigkeit auf diese Weise ein Schnippchen erster Güte schlagen zu können.
Ich werde bereits heute Nacht wieder zum Mount Mitchell zurückkehren, vorher muss ich mir allerdings noch ein paar ganz bestimmte Utensilien zulegen, die ich hier in Freiburg leicht bekomme. Annie, du musst mir dann beim Umbau meiner internen Plasmakanone helfen, damit ich für diesen Auftrag gerüstet bin.“
„Da bin ich aber mal gespannt“, ließ sich Karin vernehmen. „Zu welchem Zeitpunkt willst du denn ins Geschehen eingreifen?“
„Oh, da fiel mir die Wahl nicht schwer. Es muss im Safehouse geschehen, und zwar vor dem Ausbruch des Krieges, weil wir danach beinahe ständig auf engstem Raum zusammen hocken. Ich muss unbedingt eine Gelegenheit bekommen, sowohl Abbey als auch Daniel alleine und unaufmerksam, das heißt in einem Gefühl der relativen Sicherheit anzutreffen. Sie dürfen keine Ahnung haben, was sie erwartet. Dafür gibt es eigentlich nur eine Gelegenheit und ich habe auch schon herausgefunden, welche das sein wird.“
„Das klingt wirklich erfolg versprechend. Wo ist der Haken dabei?“, wollte Annie wissen.
Caroline sah sie abschätzend an. „Eigentlich nur in der Planung. Du kannst dir vorstellen, dass alles während der Mission völlig reibungslos beim ersten Versuch klappen muss, sonst wissen sie Bescheid und sind derart auf der Hut, dass wir nicht mehr ohne weiteres eingreifen können werden. Viel schlimmer noch, wenn sie sich der Tatsache bewusst werden, dass wir aus einer möglichen Zukunft heraus einen Zugriff auf sie planen, haben wir den uns bekannten Ablauf der Ereignisse bereits negativ verändert.“
„Und warum soll da ein Haken für Annie dabei sein?“ Fragend musterte Ana ihr Ebenbild.
„Es geht um die Art, wie ich Zugriff auf die beiden bekommen muss. Da Annie und Knut alle existierenden T-880 in der Zukunft unwiderruflich vernichtet haben, ist sie das einzige noch intakte Exemplar dieser Bauart, vor allem das einzige mit Tarngewebe, was das entscheidende Kriterium für mich ist. Tut mir leid, Annie, aber dadurch hast du dich selbst zum einzig möglichen Testsubjekt gemacht.“
„Muss das wirklich sein?“ Misstrauisch musterte Annie den T-X. „Wer garantiert mir, dass du mich nicht ‚aufmachst’ und meine CPU in die Dreisam wirfst?“
Caroline grinste: „Ich dachte eigentlich eher an einen der Baggerseen in der Nähe. Nein, im Ernst, du weißt genau, dass es entscheidend ist, das auszuprobieren. Dein Einwand ist zwar berechtigt, denn es würde uns eine Menge Mühe ersparen, dich bei dieser Gelegenheit einfach zu deaktivieren und damit unser Problem loszuwerden. Andererseits hat Mahtobu durch sein engstirniges Verhalten dieses Dilemma erst herauf beschworen und wir sehen eine gewisse Verpflichtung, es wieder zu bereinigen.
Es ist für dich eine reine Frage des Vertrauens.“
Annie war noch immer skeptisch. „Na ja, immerhin baue ich das Ding, und gewisser weise bin ich wirklich mit Schuld daran, dass wir keine andere Möglichkeit haben, es in der Zukunft zu testen. Also gut. Ich bleibe aber mit den anderen solange hier, bis Caroline mit einer Erfolgsmeldung zurückkommt. Dann gibt es für mich keinen Grund mehr, länger in dieser Zeitperiode zu bleiben und an meinem Vorhaben fest zu halten.“
„Das einzige, was mich bei dem Test interessiert, ist die Dauer der Wirkung. Und selbst wenn wir uns stark verschätzt haben sollten, können wir die Mission immer noch durchführen, wenn du terminiert wärst. Dir geht es ja lediglich darum, dass ich den Kunstfehler an den CPUs behebe, nicht wahr?“
„Schon gut, ich seh’ es ein.“ Annie erhob sich. „Dann wollen wir mal losgehen und alles besorgen, was wir an Komponenten benötigen.“
Hallevik, Insel Rolla, Troms Fylke, Norwegen 10. Juli 2004
Caroline nahm das Ende des Zeitsprungs wahr und führte wie bisher einen internen Selbsttest durch, bevor sie ihre Systeme wieder hochfuhr. Sie erhob sich und öffnete die Augen, um festzustellen, dass sie inmitten des dichten, ursprünglichen Waldes von Rolla stand. Wie beiläufig bildete sich grüne Kleidung aus, die sie mit dem Hintergrund verschmelzen ließ, während sie anhand der GPS-Satelliten über ihr ihre Position ermittelte. Gut, lediglich ein Kilometer nach Nordwesten bis zum Safehouse.
Dann empfing sie auch das Zeitsignal. Seltsam, es war zwei Minuten später als vorgesehen. Aber das machte nichts, da sie noch zwanzig Minuten Zeit hatte, bis sie in Aktion treten konnte.
In Gedanken rekapitulierte sie die Situation, welche sie vorfinden würde: heute war die Gruppe im Safehouse angekommen und hatte ihre Zimmer bezogen. Sie hatten zu Mittag gegessen und gleich würde Alex mit allen zehn „Rekruten“, darunter sie selbst in ihrer Tarnung als Caroline Fulber, zu einer mehrstündigen Wanderung über das Innere der Insel aufbrechen.
Abbey und Daniel würden in dieser Zeit alleine im Safehouse sein, um alle möglichen Arbeiten zu verrichten und den Haushalt des frisch bezogenen Heimes bewohnbar zu machen.
Die beste Chance, die sie erhalten würde, um Zugriff auf die beiden zu erhalten, ohne dass jemand es mitbekam.
Sie ließ sich Zeit und sah aus mehreren Hundert Metern Entfernung geduldig dem Auszug der Gruppe zu, angeführt von dem hünenhaften T-800 mit der blonden Bürstenfrisur. Sie verhielt sich mucksmäuschenstill und verharrte absolut bewegungslos mit auf ein Minimum herab gefahrenen Betriebssystemen, da sie ihre eigenen Fähigkeiten am besten kannte. Auf keinen Fall durfte sie riskieren, dass Alex oder noch schlimmer, sie selbst sich dabei „entdeckte“, wie sie die elfköpfige Wandergemeinschaft beobachtete. Erst als sie sich ausreichend vom Haus entfernt hatten und jenseits der alten Fischerdorfruine außer Sicht waren, näherte sie sich dem Vorplatz des Safehouses von der Ostseite her, wo die Eingangstür lag und keine Fenster waren.
Jetzt kam ihr das Grundprinzip ihrer Konstruktion zugute, denn einer der Hauptgründe für die Entwicklung des Modelles T-X war es, andere Terminatoren aufzuspüren und zur Strecke zu bringen. Deshalb war sie allen anderen Serien in vielen Belangen und technischen Spezifikationen haushoch überlegen, um ihre Aufgabe zuverlässig erfüllen zu können.
Sie ortete die beiden im Inneren, lange bevor sie eine Chance hatten, ihrerseits Wind von Carolines Existenz zu bekommen. Die Signatur TSR-3012 erschien in der Küche und die von CSM 108-1 im Keller in einem der Vorratsräume, wo er offenbar Inventur machte. In einer Millisekunde hatte sie ihre Vorgehensweise entschieden und ging hinüber zur Garage, die sie mit einem simplen Funkimpuls ferngesteuert öffnete.
Sie ging an der Rückseite der Garage die Treppe zur ABC-Schleuse hinab, durchschritt den etwa zwanzig Meter langen unterirdischen Gang zum Keller und öffnete die Tür zum Haus. Auf dem düsteren, schmalen und fünf Meter hohen Flur des Untergeschosses transformierte sie sich, bevor sie die schwere Eisentür zum Vorratsraum aufschob.
Daniel stand an einem Regal, aus dem er Kisten hervorzog, deren Inhalt kontrollierte und wieder zurück stellte. Er blickte auf, schien aber nicht überrascht oder beunruhigt. „Hallo.“
„Hi, Daniel. Wie kommst du voran?“ Sie näherte sich ihm, während er einen weiteren Behälter inspizierte. Ihre große schlanke Figur und die rote Mähne waren ihm derart vertraut, dass er sie kein zweites Mal ansah.
„Ganz gut. Ich muss sagen, der T-X hat scheinbar an alles gedacht. Alleine die Lebensmittel werden für mindestens zehn Jahre reichen, wenn wir sie sinnvoll rationieren. Und dieses Lager hier enthält alles, was man je für einen Haushalt benötigen könnte. Exzellent.“ Er sah einen Karton mit Näh- und Flickzeug durch.
„Ja, wir können uns ins sprichwörtliche gemachte Nest setzen.“ Sie betrat den nächsten Gang des Hochregallagers und zog ein Schubfach heraus. Ihre Hand verflüssigte sich bis zum Ellenbogen und die polimimetische Masse zog sich zurück, die innere Mechanik ihres Endoskelettes bloß legend. „Alle denkbaren Sorten von Nägeln, Schrauben und Dübeln.“
Sie rüttelte anhaltend an der Schublade, um damit die Folge von mechanischen Geräuschen zu übertönen, mit denen sich die Form und vor allem Funktion des Gliedes veränderte. Er sah nicht auf, sondern fuhr fort.
„Wieso bist du überhaupt hier, Abbey? Benötigst du Hilfe?“
„Nein, ich wollte dich auch nicht bei der Arbeit stören; mach ruhig weiter. Es ist nur wegen den Reibereien in der Gruppe. Ich mache mir ein wenig Sorgen. Der T-X hat während seines Besuches zwar diese Methode der Zimmerbelegung vorgeschlagen, aber ich frage mich dennoch, ob wir damit nicht auf dem falschen Weg sind.“
„Du meinst vor allem Natasha und Caroline, nicht wahr? Oder Bernd und Karin?“
„Sowohl als auch. Was hältst du davon, wenn wir…“
Sie stieß ihm ohne jede Vorwarnung ihre umgebaute Kanone ins Genick. Statt der vier Ausleger für das magnetische Restriktionsfeld der Plasmaladung waren nur noch zwei ausgefahren, die vom Reaktor unter Hochspannung gesetzt wurden. Ein blauweißer Lichtbogen sprang zwischen ihnen auf den Hinterkopf von Daniel über, worauf er augenblicklich erstarrte. In seinem Inneren waren gerade einige Hauptsicherungen zerstört worden und hatten seinen gesamten Bewegungsapparat stillgelegt.
Caroline beeilte sich, denn der Test mit Annie hatte ergeben, dass sie nicht viel Zeit hatte. Aus ihrem Zeigefinger wuchs eine skalpellartige Klinge, mit der sie die Haut über seinem Schädelansatz in einem schmalen Bogen aufschnitt und herunterklappte. Im nächsten Moment veränderte sich die Form zu einem schmalen Schraubenzieher, mit dem sie die Zugangsklappe zu seiner CPU öffnete. Gerade, als sie Zugang zum Hauptrechenchip von Daniel bekam, sah sie, wie sich seine Finger mechanisch bewegten, was die erste Vorstufe zu rudimentären Selbsttests war. Wieder verflüssigte sich die Substanz ihres Fingers, diesmal zu einer feinen Pinzette.
Mit einem schnellen Ruck zog sie seinen Chip aus der Fassung.
Daniel erstarrte.
Das war knapp gewesen, dachte sie und stellte den winzigen Schalter von READ ONLY auf WRITE. Jetzt konnte sich sein neuraler Prozessor wieder ungehindert entfalten, neue Querverbindungen bilden und dazulernen, kurzum menschlicher werden.
Sie liess das Flüssigmetall über dem Finger zurückfließen und verlängerte das schlanke Metallglied darunter, bis es eine nadelfeine Spitze bildete, die sie auf die CPU richtete. Mit einem bläulichen pulsierenden Aufblitzen wurde eine kleine Anzahl von Nanobots auf den Chip übertragen und begann augenblicklich ihr Werk. Am Ende der Prozedur würde Daniel jegliche Erinnerung an diesen Vorfall gelöscht haben und jedem außer Annie verschweigen, dass sein Elektronengehirn jetzt wieder fähig zur Weiterentwicklung war.
Sie beendete ihren prekären kleinen Eingriff und wandte sich der Tür zu. Noch bevor sie sie erreicht hatte, wurde ihr Körper in Quecksilber gehüllt und schrumpfte um einen halben Kopf. Kurz darauf war es ein Ebenbild des noch erstarrten Daniels, der die stählerne Schiebetür öffnete und im Flur verschwand.
Jetzt war Abbey an der Reihe. Sie befand sich noch immer in der Küche, wie Caroline an ihrem Signal feststellen konnte.
Zehn Minuten später war sie wieder außer Haus, ohne irgendeine Spur von ihrer Anwesenheit hinterlassen zu haben. Gemäß den Einstellungen, die sie vorgenommen hatte, würden sich Daniel und Abbey nicht das Geringste anmerken lassen, solange sie als Beschützer der Gruppe fungierten. Insgeheim würden sie sich Annie und Knut offenbaren können und den beiden das ermöglichen, was ihnen bislang verwehrt geblieben war: eine erfüllende Beziehung, die auf gegenseitig erwiderten Gefühlen basieren würde.
Caroline kam sich vor wie eine Kupplerin.
Lächelnd suchte sie die Stelle im Wald auf und wartete noch eine kurze Weile bis zur vorgegebenen Zeit, dann liess sie ihre Kleidung verschwinden und senkte sich auf ein Knie herab, als es soweit war.
Kurz darauf war der Wald wieder friedlich und verlassen.
Mount Mitchell, Yancy County, North Carolina, USA 20. April 2032
Auf Anraten der Techniker hatten sie die Anlage etwas länger auskühlen lassen, um sie nicht durch zu viele dicht aufeinander folgende Sprünge zu überlasten. Deshalb war es bereits früher Abend, als sie sich daran machten, die Caroline bekannten Raum-Zeit- Koordinaten auf Rolla im Jahre 2004 erneut mit einer Sphäre aus dem Hier und Jetzt auszutauschen.
Der Sprung hatte gewisse Nachwirkungen auf den T-X, denn er blieb länger als sonst bewegungslos in der Hocke, bevor seine internen Systeme sich wieder vollständig aktiviert hatten. Der Techniker bemerkte es, sagte aber nichts dazu. Schließlich hatten sie keinerlei Erfahrungen in dieser Hinsicht, weshalb er sich weder schwarzmalerisch noch übervorsichtig zu den Auswirkungen auf den Terminator vor ihm äußern wollte.
Nicolas sah wißbegierig um die Ecke: „Na, wie ist es gelaufen?“
Caroline grinste und hob einen Daumen. „Alles nach Plan. Wir könnten uns sogar in der besagten Zeitschleife befunden und miterlebt haben, was ich geändert habe. Da ich es in Abwesenheit von Zeugen getan habe, werden wir es nie erfahren. Aber ich empfehle niemandem, ernsthaft darüber nachzudenken.“
„Sehr gut. Dann müssen wir nur noch so schnell wie möglich die anderen aus dem Jahr 2001 abziehen“, meinte Natasha.
„Ich fürchte, so schnell geht das nicht“, widersprach Caroline, um sofort zu präzisieren, „jedenfalls für die anderen. Wir sollten uns ganz langsam und geordnet zurückziehen, statt einfach spurlos zu verschwinden und Ungereimtheiten zu hinterlassen. Wir verkaufen das Auto, kündigen den Vertrag mit dem Vermieter der Ferienwohnung und so weiter. Es kann durchaus ein paar Tage dauern, um geordnet in Ruhe die Zelte abzubrechen. Ihr hier werdet trotzdem nichts davon merken, da ihr sie ja dennoch gleich holen könnt, nur eben aus einem späteren Zeitpunkt in der vergangenen Epoche.“
„Wir vertrauen dir in dieser Angelegenheit vorbehaltlos“, versicherte Nicolas. Shin und Aishe sahen sich an und nickten mit ausdrucksloser Miene.
„Und dann geht es nach Hause“, murmelte Shin leise.
Freiburg im Breisgau, Deutschland 31. Oktober 2001
Karin winkte ab. „Zum letzten Mal, ich habe nein gesagt. Caroline stimmt sicher mit mir überein.“
Der T-X nickte bedächtig. „Ich muss ihr Recht geben. Wir tun wirklich besser daran, heute Nacht daheim zu bleiben. Zu viele unvorhergesehene Dinge können in dieser Nacht geschehen. Und ich rede nicht von Geistern und Vampiren, sondern von Spinnern und Betrunkenen, die zu Hunderten in den Kneipen und in den Strassen der Innenstadt unterwegs sind.“
Schmollend sagte Ana: „Dabei hast du uns so viel von Halloween erzählt, Karin. Was für tolle und ungewöhnliche Partys ihr damals gefeiert habt. Erinnerst du dich?“
„Ausgeflippt trifft es viel eher. Und genau das sind die Leute heute Abend“, wetterte Karin.
„Tatsache ist, dass dieses Ereignis heidnische und abergläubische Wurzeln hat und zu diesen Zeiten mehr zu einer Art dunklem Karneval pervertiert worden ist. Viele Kritiker behaupteten sogar, dieser Anlass sei von der amerikanischen Industrie erfunden worden, so wie der Valentinstag und Muttertag. Wollt ihr euch wirklich so etwas hingeben?“
Jasemin protestierte: „Dann werden wir es uns wenigstens hier gemütlich machen, nicht wahr?“
Karin nickte besänftigend: „Klar, ihr könnt euch von mir aus mit Fast Food und Süssigkeiten voll stopfen sowie Horrorfilme im Fernsehen ansehen; nach dem was ihr erlebt habt, lacht ihr euch wahrscheinlich darüber kaputt. Jede einzelne amerikanische Fernsehserie hatte eigene Folgen nur für Halloween im Programm. Aber ich will euch nicht mit Details nerven, ihr seht es dann ja selbst. Und morgen können wir irgendwo fein essen gehen, bevor wir am zweiten November mit dem Aufbruch beginnen.“
Sybil sagte nur: „Ich finde das lächerlich. Dies ist der einzige Abend, wo alle Leute sich unheimlich oder zumindest außergewöhnlich benehmen und keinem fällt es auf. Erinnert ihr euch nicht mehr an diesen Science Fiction Film, wo ein echter riesiger Blechroboter an Halloween in New York erscheint und sich völlig frei und ungehindert bewegen kann, weil alle denken, es ist nur ein extrem gutes Kostüm?“
„Kampfstern Galactica. Stimmt.“ Caroline verstummte und schien eine Assoziation zu bilden; irgendein Faktum schien gerade ins rechte Licht gerückt zu worden sein.
Karin ahnte das Malheur. „Du wirst dich doch nicht etwa erweichen lassen…!“
Jasemin ergänzte: „Und wer außer uns ist hier schon ein ausgebildeter Kämpfer mit zig Jahren Kriegserfahrung? Was soll uns schon passieren?“
„Sagte der Resistance-Kämpfer im Inneren des Skynet-Computerkernes und lehnte sich lässig an den T-1`000`000“, spottete Karin beinahe gehässig.
Caroline schlug vor: „Was würdest du sagen, wenn wir einen Kompromiss eingehen? Wir gehen an einen Ort meiner Wahl, gehen nirgendwo anders hin, dann habt ihr eure Party gehabt, und vor allem geht ihr in den Kostümen meiner Wahl, die ihr den ganzen Abend über nicht ablegen dürft, dann seid ihr nämlich unkenntlich, habt euren Spaß und niemand wird sich an eure Gesichter erinnern können. Es ist jetzt bald Mittag, also noch genug Zeit für mich, um alles zu besorgen und zu arrangieren.“
„Warum gefällt mir die Idee nicht? Irgendwas hast du doch vor. Bestimmt suchst du dir eine Verkleidung aus, in der du dich nur den ganzen Abend über gemütlich in eine Ecke stellen und uns beaufsichtigen kannst, stimmt’s?“ Nick musterte sie misstrauisch.
„Genau das hatte ich im Sinn, um ehrlich zu sein. Du bist näher an der Wahrheit dran, als du ahnst, aber auch weit davon entfernt, es zu erahnen. Wir werden jedenfalls deutlich als zueinander gehörig zu erkennen sein, soviel steht fest. Ihr wollt als Wesen der Dunkelheit ausgehen? Das könnt ihr haben.“ Caroline grinste und nahm sich einen geräumigen Rucksack für die Einkäufe, die sie plante.
Karin war noch immer skeptisch. „Bist du dir wirklich sicher, dass das eine gute Idee ist?“
„Die Kinder haben doch recht, Karin: wenn sie überhaupt unbemerkt unter die Leute können, dann heute Nacht. Wir werden dem Halloween-Mythos in Freiburg eine neue Dimension verpassen, an die sich der eine oder andere lange erinnern wird und sich fragen, ob ihm seine Sinne in dieser Nacht keinen Streich gespielt haben. Und ich bin mir sicher, dir wird meine Idee am allerbesten gefallen, denn du warst früher einmal ein großer Fan unseres Kostümmottos. Deine Verkleidung ist das Beste: du bist nämlich der große Boss unserer Gruppe. Dabei wird deine Verkleidung die am angenehmsten zu tragende sein.“ Sie zwinkerte ihr verschwörerisch zu und verschwand durch die Wohnungstür.
„Es gefällt mir trotzdem nicht“, beschwerte sich Karin und scheuchte die anderen in die Küche, um das Mittagessen aufzusetzen. „Was kann sie nur meinen? Ich war nie ein Fan von Horrorstories, Vampiren, Zombies und was weiß ich sonst noch. Was für ein ausgemachter Schwachsinn!“
„Wir werden als Wesen der Dunkelheit ausgehen, hat sie gesagt. Was sie damit wohl gemeint hat?“
Annie, die sich die ganze Diskussion über dezent im Hintergrund gehalten hatte, meinte nur: „Tut was ihr wollt, meine Lieben. Ich bin voll und ganz mit dem zufrieden, was ihr erreicht habt. Ihr werdet bestimmt eine Menge Spaß haben.“
Die Halloween-Party war in vollem Gange.
Karin konnte nicht glauben, dass sie sich darauf eingelassen hatte.
Sie war tatsächlich mit ihren knapp sechzig Jahren nochmals im Agar, einer ihrer früheren Lieblingsdiscos, in der der normale Betrieb heute außer Kraft gesetzt war und die förmlich aus allen Nähten platzte. Bei dieser Ansammlung von verunstalteten, blutverschmierten und auf andere Weise entstellten Horrorgestalten fielen sie wirklich nicht weiter auf.
Nun, fast nicht.
Sie hatten sich einen der toten Winkel zwischen der Bar und dem Ende der um eine Treppenstufe abgesenkten ovalen Tanzfläche erobert und hielten diese auch mühelos besetzt. Niemand wagte es ernsthaft, sich zwischen sie zu drängen.
Karin schob die extrem weit über ihren Kopf hängende Kapuze des ebenso extrem weit geschnittenen, bis zum Boden reichenden dunklen Umhangs aus grobem Stoff einen Deut nach oben, wobei ihr Gesicht bis auf das Kinn dennoch in tiefe Schatten verhüllt blieb. Dabei wurde sie sich während der Bewegung bewusst, dass ihre alten, knochig-sehnigen und von den vielen harten Jahren gezeichneten Hände mit den vielen Narben und den kurzen Fingernägeln das eigentliche I-Tüpfelchen auf ihrer so schlichten und dennoch sehr eindrucksvollen Kostümierung bildeten. Ihre Rolle war vielleicht nicht sehr schmeichelhaft, aber eindrucksvoll.
Links und rechts von ihr waren jeweils zu zweit Nick und Jasemin sowie Ana und Cybil postiert, alle vier in identischen Verkleidungen. Sie trugen lange scharlachrote Roben und gleichfarbige Kunststoffhelme, die in angedeuteter Kapuzenform gehalten waren, aber leicht spitz nach oben und vorne ausliefen und nur einen tiefschwarzen Sehschlitz hatten, ansonsten aber den gesamten Kopf umschlossen und das Atmen zur Mühsal machten. Ihre langen, eisenfarbig lackierten Speerstäbe komplettierten das Bild.
Was hat Caroline sich dabei nur gedacht, sie als Imperator aus „Star Wars“ und die anderen als ihre Imperiale Garde zu verkleiden? Nun, sie war tatsächlich ein Fan der Krieg der Sterne-Saga gewesen, das bestritt sie nicht. Und die Personifizierung der dunklen Mächte des Universums nebst seiner persönlichen Elite-Leibwache, tödlich, bedrohlich und effizient, hatte an Halloween sicher auch ihre Daseinsberechtigung.
Dennoch wurde sie das Gefühl nicht los, dass sie alle nur als ‚Dekoration’ für Caroline herhielten. Sie wandte sich um und sah zu ihr auf, doch der T-X hielt sich genau an seine Ansage von heute Mittag, indem sie sich schlicht und einfach nicht von der Stelle rührte und mit teilnahmslos scheinender Reglosigkeit auf das Geschehen um sie herum hinabsah, von einer dunklen Aura umgeben.
Als sie ihnen die Kostüme angepasst hatte, hatten sie sie natürlich gefragt, als was sie selbst denn gehen würde. Sie hatte daraufhin die besagte Form angenommen, worauf ein lautes Hallo hörbar wurde.
Sie erklärte, dass sie die Vorlage für dieses unverwechselbare Kostüm in einem Edel-Sammler- und Raritätenladen am Ende der Steinenvorstadt, der Kino- und Kneipenstraße von Basel, entdeckt hatte. Sie hatte es nur kurz berühren können, bevor der erboste Besitzer sie aus dem Geschäft geworfen hatte, denn schließlich war es ein nummeriertes Original und damals vor zwölf Jahren mit immerhin 8900 Schweizer Franken ausgeschrieben gewesen. Doch dieser kurze Augenblick hatte ihr gereicht, um die Charakteristika der Verkleidung zu analysieren und zu speichern. Sie hatte nicht wirklich damit gerechnet, es eines Tages wirklich zum Einsatz zu bringen, doch nun kostete sie es offenbar in vollen Zügen aus.
Zwei stockbesoffene, als Wikinger und Hunne verkleidete Goliaths mit wilden blonden Mähnen traten an Cybil heran, ihre Formen, die sich unter dem Umhang deutlich hervorhoben, mit großen Augen musternd. Der Hunne lallte uncharmant: „He, du sexy Palastwache, willst du tanzen?“
„Natürlich nicht.“ Mehr ließ sie sich nicht verlauten, da ihr Deutsch für diese Art der Konversation noch nicht ganz ausreichte. Ihr Tonfall jedoch drückte genug Ablehnung aus, um ihre Antwort eindeutig zu gestalten.
„Na, komm schon, die anderen drei werden schon Wache halten.“ Der Wikinger packte sie stürmisch am Handgelenk, worauf sich die drei anderen ihm zuwandten und ihre Stäbe einen Deut senkten. Auch die Gäste im näheren Umkreis wurden auf sie aufmerksam und warfen dem Flegel und seinem Kumpan missmutige Blicke zu. Der Partylöwe auf Freiersfüssen schien das in seinem Zustand indes nicht zu bemerken.
Karin schaltete sich ein und zischte: „Scher dich weg, du Wurm, lass meine Garde in Frieden.“
Langsam hielt der Wikinger inne und sah sich die ganze Gruppe genauer an, dann musterte er den ‚Imperator’. „Wow, ihr… ihr zieht dieses Ding echt cool durch. Was willst du jetzt tun? Mich mit Blitzen beschießen? Hä?“
Sie schüttelte unter der Kapuze langsam den Kopf hin und her. Nun waren alle Umstehenden mit voller Aufmerksamkeit dabei und verfolgten die sich anbahnende Auseinandersetzung. Als der blonde Hüne seine Hand an die weite, verhüllende Kopfbedeckung heranführte, hob Karin abwehrend die Hand. „Wie kannst du es wagen? Mein Lord, wollt Ihr das bitte klären?“
Sie sah über die Schulter, wo ein haushoher schwarzer Schatten sich in Bewegung setzte.
Der Hunne, der hinter seinem Freund gestanden hatte, um blöde grinsend vor allem für moralischen Beistand zu sorgen, blickte auf und erstarrte, als das, was er bisher für eine Dekoration gehalten hatte, plötzlich zum Leben erwachte. Die Figur des Darth Vader war etwas über zwei Meter hoch, was Caroline an ihre äußerste Grenze der möglichen Ausdehnung gebracht hatte, doch sie sah so echt aus, wie es nur ging. Alle elektronischen Funktionen auf dem ‚Schaltkasten’ der Brustplatte wie leuchtende und blinkende Knöpfe funktionierten wie im Film und auch das periodisch zischende, furcht einflößende Atmen wurde nun hörbar, als der schwarze Lord der Sith mit aufwallendem Umhang einen Schritt nach vorn machte. Noch ehe er wusste, wie ihm geschah, wurde der rüpelhafte Wikinger am Kragen gepackt und am ausgestreckten Arm von einer riesigen, behandschuhten und gepanzerten Hand emporgehoben. Er begann zu schreien und strampelte wild, entsetzt in die schwarzen Plastikplatten starrend, die ihm an Stelle der Augen aus der behelmten Maske mitleidslos entgegen ragten.
Alle Zuschauer klatschten begeistert Beifall, womit die Sympathien aller automatisch gegen den Störenfried gerichtet waren. Caroline gab ihm nur ein wenig Schwung nach hinten, bevor sie losließ, sodass er auf seinem Hinterteil landete. Der Applaus nahm noch zu, sodass die Bedienung hinter dem Tresen der Bar neugierig um die Ecke schielte, um zu sehen, was da vor sich ging.
„Ich danke Euch, mein dunkler Lord“, krächzte Karin, um möglichst originalgetreu zu klingen. Die schwarze Gestalt senkte in einem angedeuteten Nicken schweigend den Kopf.
Ein als halbverwester Zombie verkleideter Südländer mit schwarzem Lockenkopf meinte grinsend: „Dem habt ihr’s aber gegeben! Mann, echt geile Kostüme! Wo habt ihr die bloß her?“
Ana sagte in feierlichem Tonfall: „Welche Kostüme? Das sind unsere Uniformen.“
Caroline schwenkte herum und streckte den Arm mit vorgestreckter Handfläche nach oben. Der Hunne hatte hinterrücks eine leere Bierflasche gepackt und sie Karin über den Kopf ziehen wollen. Stattdessen schlug er sie nun auf ‚Darth Vaders’ Hand.
Die Flasche zerplatzte an den ausgestreckten Fingerspitzen, als seien diese aus massivem Eisen. Ungläubig glotzte ihr Widersacher auf den Flaschenstumpf in seiner Hand und dann auf die unheimlich aufragende Gestalt vor ihm, die Augen im Rücken haben musste, um diese Bedrohung erahnt zu haben.
Cybil fegte den Hunnen mit einem mühelos scheinenden, aber nichts desto trotz kraftvollen Rückwärtsschwung ihres Stabes von den Füssen und beförderte ihn so ebenfalls auf sein Hinterteil. Sie richtete zusammen mit Ana ihre Stabspitzen auf das Gesicht, um ihn in Schach zu halten. Mit elektronisch modulierter dunkler Baßstimme fragte indes Caroline: „Soll ich dieses Ärgernis beseitigen, mein Gebieter?“
„Ich bitte darum.“ Boshaft krächzte Karin diese Worte, worauf der schwarze Riese einen weiteren schweren Schritt nach vorne tat, dessen Vibrationen in den beiden ‚Popometern’ der Pöbler durchaus spürbar waren. Die schwarze Gestalt streckte die Hand aus, um seinen aus dem Kino bekannten telekinetischen Würgegriff anzusetzen, mit dem er einem Mann die Kehle zerquetschte, ohne ihn auch nur zu berühren.
„So wird es geschehen. Verlaßt euch auf mich, mein Herr.“ Mehr brauchte es nicht, um den entgeisterten Hunnen entsetzt in die Flucht zu schlagen, der in seinem benebelten Zustand wohl inzwischen felsenfest davon überzeugt war, dass diese Figuren direkt von der Leinwand gestiegen waren, um einen entspannten Abend an Halloween in einer Freiburger Disco zu verbringen. Sein geschlagener Normannenfreund folgte ihm auf dem Fuß. Die Menge lachte lauthals und applaudierte wiederum.
„Ja, hier ist Party, hier ist gute Laune“, kommentierte der DJ, der inzwischen etwas vom Tumult am anderen Ende des Saales mit bekommen hatte, dessen Ursache freilich nicht, über Mikrofon und drehte die Musik noch ein Quentchen auf.
Jasemin beugte sich unauffällig zu Karin und Caroline herüber und wisperte: „Findet ihr nicht, dass wir allmählich zu viel Aufmerksamkeit erregen?“
„Ja, vielleicht sollten wir doch mit unserem ursprünglichen Plan brechen und woanders hin gehen. Ich würde die StuSieBar vorschlagen, denn die ist groß genug und belebt. Also auf in die Studentensiedlung.“
Sie setzten sich in Bewegung und zogen in einer Art Prozession aus, was wiederum viel Aufregung nach sich zog. Auch auf dem Weg zum Bertoldbrunnen folgte ihnen so manches Augenpaar und sie ernteten viele erstaunte sowie begeisterte Rufe von anderen Feiernden, die von Kneipe zu Kneipe zogen.
Sie mussten einsehen, dass Carolines Plan nur ein teilweiser Erfolg war. Sie waren zwar wirklich allesamt bis zur völligen Unkenntlichkeit verkleidet, doch im Eifer des Gefechtes war der T-X übers Ziel hinaus geschossen. Sie erregten so viel Aufmerksamkeit, wo immer sie auch hinkamen, dass es ihnen allmählich unangenehm wurde. So beschlossen sie in der Bahn, in welcher sie einen halben Wagen für sich alleine hatten, nachdem sie erst einmal eingetreten waren, dass sie ihr Glück nicht überstrapazieren sollten und es für heute Abend lieber gut sein ließen. Sie stiegen an der Station Eschholzstrasse aus und gingen zu ihrer Wohnung zurück. Sogar auf dem Weg nach Hause in ihre angemietete Ferienwohnung wurden sie immer wieder von begeisterten jungen Leuten angehalten, die es gar nicht fassen konnten, wer ihnen da über den Weg gelaufen war. Irgendwann wurde es Caroline zu bunt und sie transformierte sich in einem dunklen Hauseingang zurück in ihre normale Form, womit der Aufmerksamkeitswert ihrer Gruppe erheblich sank, als sie weitergingen.
Abwesend wie es schien, streckte Caroline im Vorbeilaufen die Hand ein wenig aus und streifte mit den Fingerspitzen an einem Laternenmast vorbei, der daraufhin ein hartes, metallisches Geräusch verursachte.
Sofort blieb Karin wie vom Donner gerührt stehen.
„Was hast du da gerade getan?“
Caroline hielt inne und sah zurück, als wäre ihr jetzt erst bewusst geworden, was sie gerade gemacht hatte: „Das? Ach, das war nichts.“
Sie blieb beharrlich: „Doch, ich hab’ es genau gesehen und gehört. Das hat Daniel früher oft gemacht. Maja hat das einmal beobachtet und dir daraus fast einen Strick gedreht, weil du mit so kleiner Anstrengung einen derartigen Klangeffekt erzielst und wir keinen müden Ton aus so einem massiven Klangkörper herausgeholt haben.“
„Ach, eine alte Gewohnheit. Eine fast schon menschliche Schwäche, die bereits Daniel hatte, da hast du ganz recht.“ Caroline tat es mit einem Achselzucken ab.
„Wenn du wüsstest, wie das die gute Maja damals gewurmt hat… aber warum tust du es überhaupt?“
Caroline wirkte beinahe peinlich berührt: „Es ist so eine Art Ratespiel von Daniel. Man sieht die Stange des Verkehrszeichens oder der Laterne an, nimmt den Durchmesser, das Material und die ungefähre Stärke der Verankerung im Boden und schätzt dann die Frequenz des Klanges, der durch das Anschlagen mit der Hand erzeugt wird. Ich bin inzwischen recht gut; um mehr als zwanzig Hertz liege ich praktisch nie daneben.“
„Unglaublich. Damit vertreiben sich Terminatoren also die Zeit…“
Karin verstummte und versank in alten, lustigen Erinnerungen an diesen Vorfall vor langer Zeit an einem kalten Dezembertag beim Europaplatz.
Am folgenden Tag erfuhren sie gar, dass der lokale Fernsehsender von den unheimlichen Besuchern aus einer anderen Welt in einer Randnotiz berichtete, mit einem Archivbild der Vorbilder aus dem Kino. Der Nachrichtensprecher beließ es aber bei einem amüsierten Schmunzeln während der Spekulation, wer die dunklen Gestalten seien und ob die Welt jetzt in ernster Gefahr sei.
Wenn er wüsste...
- 16 -
Freiburg im Breisgau, Deutschland 2. November 2001
Es regnete in Strömen an diesem Abend, als sie ihre kilometerweite Wanderung an den Punkt beendet hatten, an dem sie hier im Jahr 2001 angekommen waren und von dem aus sie auch wieder zurück in ihre eigene Zeit reisen wollten. Stumm hoben sie ein tiefes Loch aus und warfen ihre Kleidung hinein, um keine offensichtlichen Spuren zu hinterlassen. Als sie die Erde darüber geglättet hatten, waren sie klatschnass und durchgefroren, mussten aber nur noch kurz ausharren.
„Noch eine Minute, Leute.“ Caroline richtete sich aus und nahm eine letzte genaue Peilung vor, um sicher zu gehen, dass sie am richtigen Ort standen. Annie bestätigte ihre Angaben auf den Punkt genau.
Karin betrachtete Caroline mit einem Anflug gemischter Gefühle. „Ich werde den Eindruck nicht los, dass mit dir etwas nicht stimmt.“
„Wie kommst du darauf?“ Sie sah auf und erstarrte.
„Ich kann es nicht genau sagen. Etwas an dir ist anders als sonst. Du strahlst diese Zuversicht nicht mehr aus. Man könnte fast meinen, du hast ein wenig Bammel vor dem Sprung“, stellte sie fest.
„Das ist es nicht“, wiegelte sie ab. „Ich bin vielleicht einfach nur Zeitreise-Müde geworden. Sieh’ mal, ich bin jetzt innerhalb eines Monats neunmal vorwärts und rückwärts durch das Raum-Zeit-Gefüge transportiert worden, davon siebenmal in den letzten paar Tagen in kurzen Abständen. Ich weiß nicht, ob das nicht vielleicht etwas zuviel des Guten war. Mir ist nämlich aufgefallen, dass ich jedesmal nach einem Sprung länger brauche, um wieder voll funktionsfähig zu werden. Meine Systeme scheinen Probleme damit zu haben, diese dauernden Energieschübe zu verkraften.“
„Du meinst, du könntest Schäden erleiden, wenn du zu oft durch die Zeit geschickt wirst?“ fragte Karin zögernd.
„Nicht direkt. Es ist eher etwas auf molekularer Ebene. Schwer zu beschreiben für jemanden, der nicht auch mit einer Aussenhülle mit meinen Eigenschaften und sensorischen Merkmalen ausgestattet ist. Wie du weißt, lebe ich nicht wirklich, sondern imitiere lediglich menschliches Gewebe. Irgendeinen Aspekt davon bekomme ich immer schlechter hin, vielleicht das bioelektrische Feld eines Menschen oder etwas Ähnliches, sodass der Zeitfokus offenbar mehr und mehr Probleme damit hat, mich als lebenden Organismus zu ‚akzeptieren’. Ich merke das dadurch, dass ich bei jedem Sprung mehr Restenergien in Form von statischer Elektrizität abbekomme, deren Abbau Zeit kostet, bevor ich mein Bewusstsein nach einem erfolgten Sprung wieder erlange. Klar?“
Karin runzelte die Stirn. „Eigentlich glasklar. Ich verstehe nicht, was daran schwer zu verstehen sein soll. Es klingt aber nicht sehr ermutigend für mich. Wir haben schließlich keinerlei Erfahrungen damit, da wir früher nur in eine Richtung Zeitreisen unternehmen konnten und sich daher die Frage nach der Anzahl der Trips automatisch nie stellte.“
„Genau. Die Frage ist, was passiert, wenn ich diese Toleranz eines Tages überschreite. Ich muss dabei an Alex denken.“ Sie senkte das Haupt für einen Moment.
„Das war etwas ganz anderes. Er stand an der falschen Stelle und ist von der Sphäre in zwei Teile geschnitten worden. Das kannst du nicht damit vergleichen“, protestierte Karin leise, um die anderen nicht auf sich aufmerksam zu machen.
„Hoffen wir das Beste.“ Sie kniete sich nieder und wies die anderen an, es ihr gleich zu tun. Annie und Karin waren neben ihr, die vier jüngeren Mitglieder ihres Teams ihnen gegenüber. Es war gleich soweit.
Karin vergaß ihre Diskussion und versuchte sich auf die Schmerzen vorzubereiten, die sie jetzt gleich wieder erfahren würde.
Doch auf diese Erfahrung konnte man sich nicht vorbereiten, wie sie gleich würde erkennen müssen.
Das folgende spielte sich alles innerhalb weniger Sekunden ab, als die ersten statischen Entladungen um sie herum durch den Wald zuckten und vom bevorstehenden Ereignis kündeten.
Sie bemerkte aus dem Augenwinkel, dass Caroline blitzschnell Annie mit beiden Händen am Arm packte und kräftig riss. Eine handbreite Wunde rings um ihren Unterarm herum war entstanden, die bis auf ihr Endoskelett hinab reichte und dieses bloßlegte. Ana starrte sie entsetzt an: „Warum jetzt, Caroline? Warum hast du mich nicht schon vorher verraten?“
„Ich habe dir deinen Wunsch erfüllt, nicht dich verraten. Du weißt, dass dich nichts erwartet in der Zukunft. Aber du wirst ein glückliches Leben in der korrigierten Zeitlinie gelebt haben. Und so ist es ein sauberes Ende.“ Sie zuckte bedauernd mit den Schultern, während Lichtbögen laut knackend und summend zwischen ihr und Annie hin und her zuckten.
„Nein!“ Annie sprang auf und stürmte los.
Die Kugel aus reiner Energie erschien in einer planck’schen Zeiteinheit, hüllte sie von einem Moment auf den anderen in grelles Licht ein und riss sie heraus aus ihrem Sein, um sie quer durch Zeit und Raum zu schleudern und an ihrem Ursprungspunkt in ferner Zukunft und auf einem anderen Kontinent wieder auszuspucken. Alles was lebendig war, wurde dabei mit dem Raum in der ZVA im Mount Mitchell ausgetauscht, alles andere erfuhr ein Schicksal, das sich ihrer Kenntnis entzog.
Mount Mitchell, Yancy County, North Carolina, USA 20. April 2032
„Etwas stimmt nicht! Ich bekomme anormale Werte!“, rief der Techniker alarmiert, mühsam das laute Summen und Zischen übertönend. Sehen konnte man im Moment des Sprunges nichts, als sich alles im Raum mit weißem Licht füllte.
Alle sahen gespannt auf die Plattform, auf die der Fokus der ZVA gerichtet war. Sechs Gestalten kauerten im Kreis, wobei eine davon umkippte und regungslos liegenblieb. Der Techniker stöhnte auf.
„Nicht schon wieder!“
Nicolas sah ihn fragend an, worauf er erklärte: „Ich habe das schon einmal gesehen, vor mehreren Jahren. Er war nicht vollständig im Inneren der Sphäre, als der Sprung erfolgte.“
Die anderen waren noch zu benommen, um Annies Überreste wahrzunehmen. Sie war ironischerweise mit dem verletzten Arm bereits außerhalb des Ereignishorizonts gewesen, sodass sie trotzdem transportiert worden war. Dummerweise war auch die obere Hälfte ihres Kopfes nicht mehr erfasst worden, sodass ein grausiger, aber auch faszinierender diagonaler Querschnitt durch ihren Schädel entstanden war. Sogar die schmale Seite der CPU war deutlich sichtbar im Inneren. Karin wandte sich ab.
Und bemerkte, dass Caroline nicht dabei war.
Langsam kamen alle zu sich, sodass sie den anderen eine Erklärung über die Geschehnisse liefern konnten, auch wenn ihnen abschließend doch unklar war, weshalb der T-X nicht mit ihnen mit gereist war. Traurig erzählte Karin von Carolines Vermutung und ihren Beobachtungen bei den letzten Sprüngen.
Schweren Mutes bestätigte der altgediente Techniker des Stützpunktes, dass es bei ihrer letzten Ankunft bereits ein wenig länger gedauert habe, bis sie sich wieder geregt habe. Er hatte dem Vorfall damals keine große Bedeutung beigemessen. Jetzt erschien das in einem anderen Licht.
„Sie hat es geahnt“, sagte Karin traurig, „aber es bis zum Schluß für sich behalten. Vielleicht wollte sie ebenfalls den Dingen ihren Lauf lassen. Niemand kann noch irgend etwas für sie tun.“
Bernd sah Maja an. „Heißt das, diese Mission ist zu Ende?“
„Ja. Wir werden jetzt endlich heimfahren können, wenn wir aus dem Dienst entlassen werden, nicht wahr, Nicolas?“ Erwartungsvoll sah Maja ihren Mann an.
Er nickte und fuhr sich in einer Geste der Erschöpfung durchs Haar. „Ich funke gleich morgen früh General Connor an. Mit einem bisschen Glück bekommen wir in zwei Tagen ein Schiff nach Mitteleuropa; der Truppenabzug läuft noch auf vollen Touren. Mit dem, was noch von Skynets Kräften übrig ist, sollten die Amerikaner alleine fertig werden.“
Ana lächelte: „Endlich geht es zurück nach Hause!“
Shin und Aishe sahen sich an. Beide stellten sich in diesem Moment die gleiche Frage.
Wo war eigentlich ihr Zuhause? Sie waren seit Jahrzehnten vollkommen entwurzelt gewesen, hatten in einem Bunker oder Stützpunkt gelebt, bis Skynet sie ausgeräuchert hatte, sie von sich aus rechtzeitig ihr Hauptquartier geräumt hatten oder während des Europafeldzugs ihre Befehlsgefechtsstände der Front angepasst und immer wieder nach Westen und Süden verlegt hatten. Es hatte im Lauf der Zeit so viele Orte gegeben, die sie ihr Zuhause genannt hatten, dass es sich ihrer Erinnerung entzog, würden sie alle nennen wollen.
Nun, erst einmal wollten sie sicher nach Europa zurück gelangen und sich mit den anderen alten Mitgliedern ihrer Gruppe treffen, dann konnten sie immer noch besprechen, was sie nun tun wollten.
Der Krieg war für sie vorbei und sie hatten sich ihren Ruhestand verdient, wie sie fanden. Den Aufbau und die Verwaltung konnten andere übernehmen, die ihnen in der zweifelhaften Kunst der Kriegsführung nicht das Wasser reichen konnten, wohl aber auf anderen Wissensgebieten überlegene Fähigkeiten hatten.
Diesen wollten sie das Feld überlassen, wenn es sich einrichten ließ.
Rotterdam, Südholland, Nederlande 3. Mai 2032
Ihr Schiff, ein umgerüsteter Frachter aus Australien, war in der letzten Nacht angekommen, worauf sie in diese provisorische Unterkunft, eine alte Lagerhallte auf dem Hafengelände gebracht worden waren. Der gesamte Innenraum war mit unbequemen, faltbaren Feldbetten angefüllt, zwischen denen nicht genug Freiraum gelassen worden war, um auch nur einen Hauch von Privatsphäre zu ermöglichen.
Doch schon früh am Morgen wurden sie von Simon, Silke, Dimitri und Marit samt ihrem Nachwuchs begrüsst. Sie hatten schon vor Tagen über Funk von ihrer Ankunft erfahren und sich nach Rotterdam begeben, um nach dieser langen Trennung ein herzliches Wiedersehen zu feiern.
Sie zogen als erstes in ein altes kleines Haus auf dem Land um, das um die Jahrtausendwende herum gebaut worden war und ihnen allen ausreichend Platz bot. Dann erzählten die in Europa zurück Gebliebenen vom beginnenden Aufbau und den ersten Infrastrukturen, die hier allmählich entstanden, während sie in Amerikas nördlichsten Gebirgen immer noch die Reste von Skynets Maschinen bekämpften.
Die Menschheit arbeitete zusammen, wie sie es noch nie zuvor in ihrer Geschichte getan hatte. Auch wenn viele Gebiete noch für lange Zeit unbewohnbar bleiben würden und viele Großstädte sowie Industriezentren den Aufbau nicht lohnen würden, gab es doch noch genug an Überresten, um einen Funken der Hoffnung zu bieten. Das hemisphärische Klima auf der Nordhalbkugel der Erde normalisierte sich allmählich auf einem Level, das in weiten Landstrichen zumindest in beschränktem Umfang wieder Landwirtschaft ermöglichen würde und in abgelegenen und nicht umkämpften Gegenden auch schon jahrelang mit wachsendem Erfolg praktiziert wurde.
Die Strukturen wurden unterstützt von den Ländern der Südhälfte der Erde, wo nun die besten Lebensbedingungen herrschten. Australien und Neuseeland allein hatten mittlerweile zwanzigmal so viele Einwohner wie vor dem Krieg, sodass die Wirtschaft dort in einem nie gekannten Maß florierte. Ironie des Schicksals, dass die beiden abgelegensten Flecken den Rest der Welt mit vielem versorgten.
Dimitri beendete seinen Teil des Berichtes über die Geschehnisse der letzten paar Jahre. „Ihr seht, wir haben hier bereits begonnen, aufzuräumen und das Leben hier ein wenig erträglicher zu gestalten. Und was produziert werden kann, wird produziert, wenn auch nicht hier, sondern in den südlichen Ländern. Wir können aber eine Mindestversorgung der noch vorhandenen Bevölkerung inzwischen gewährleisten. Unser technischer Wissensstand hat sich eben nicht mehr weiterentwickelt wie zu Friedenszeiten, doch ist er auf einem gewissen Level geblieben.“
„Ich habe allerdings gehört, dass in Australien die ersten Fusionsreaktoren von Skynet zurückentwickelt werden konnten. Sie haben bereits einige Prototypen im industriellen Maßstab nachgebaut, die in der Dauererprobung sind. Wir werden in Zukunft nie wieder Atom-, Kohle- und Gaskraftwerke benötigen, wenn die ersten Fusionsgeneratoren ans Netz gehen.“ Marit schien erfreut darüber, dass sich von Skynets unablässigem militärischem Forscherdrang doch noch etwas Positives für zivile Zwecke nutzen ließ.
Nicolas sah zu Simon, der sein kleines Söhnchen auf dem Schoß hatte und wollte wissen: „Heißt das für uns, dass wir uns aus dem aktiven Dienst allmählich zurück ziehen können?“
„Ich denke schon. Immerhin haben wir von Anfang an immer tüchtig mitgekämpft. Wenn wir uns keinen Ruhestand verdient haben, wer dann?“
Aishe lehnte sich zurück und atmete tief durch. „Das wäre schon schön. Aber was wollen wir denn in Zukunft machen? Wohin wollen wir gehen?“
„Und was haltet ihr davon, wenn wir zusammen etwas auf die Beine stellen? So ne Art Rentner-WG?“ schlug Karin vor, worauf alle lachen mussten.
„Das wär’ schon was!“ Auf Shins spontane Zusage hin stimmten alle mit ein. Die Kinder waren zum Teil schon flügge und würden ihrer eigenen Wege gehen, sodass die unter ihnen, die sozusagen wieder für sich waren, sich durchaus vorstellen konnten, sich an einen netten Ort zurück zu ziehen.
Sie berieten sich, wobei sich allmählich heraus kristallisierte, dass Karin, Maja, Nicolas, Aishe und Shin sich zusammen tun wollten, wobei Bernd noch eine Weile bei ihnen bleiben würde, bis auch er das Alter zum Auszug hatte. Die anderen würden nachkommen, sobald ihre Kinder auf eigenen Füßen stehen konnten.
„Und wohin wollen wir gehen? Wir haben doch nirgends einen Besitz oder eine Bleibe, die wir so einfach beziehen könnten“, gab Shin zu bedenken.
Simon erwiderte: „Sieh’ dich doch mal genauer um; dieser Kontinent ist fast entvölkert worden. Im Moment belaufen sich die Schätzungen seiner Bewohner auf siebzehn Millionen, wovon sechs Millionen Soldaten aus anderen Erdteilen sind, die hier lediglich gekämpft haben. Gut, fünf Millionen Widerstandskämpfer sind noch immer in Nordamerika und werden noch Jahre brauchen, um alle zurück zu kehren, wenn überhaupt alle zurück wollen.
Was ich damit sagen will, ist: es gibt so viele unbewohnte und noch halbwegs bewohnbare Häuser, dass es eigentlich kein Problem sein sollte, irgendwo eines zu finden, das ihr gemeinsam in Schuss bringen und darin wohnen werden könnt. Dabei wird euch wenigstens nicht langweilig werden. Solange ihr nicht verhungert, solltet ihr keine Probleme bekommen und eure Ruhe haben.“
Karin sah verträumt aus dem Fenster und meinte versonnen: „Bitte haltet mich nicht für nostalgisch oder verkalkt, aber ich hätte einen Vorschlag, wohin wir könnten.“
Aishe sah sie abschätzend an. „Denkst du etwa das Gleiche wie ich?“
Und Maja fiel in den Chor ein: „Mir liegt auch etwas auf der Zunge, das ich die ganze Zeit schon sagen wollte.“
Und als alle drei ihren Wunsch geäußert und festgestellt hatten, dass sie wirklich das gleiche Ziel im Sinn hatten, bekannten sich die anderen nach und nach mehr oder weniger begeistert ebenfalls dazu, schon daran gedacht zu haben.
„Das wird aber nicht leicht werden. Soviel ich weiß, ist die Gegend inzwischen weitgehend unbewohnt“, wandte Simon ein.
„Na und? Ihr werdet schon zu recht kommen“, schmetterte Marit ihn ab. „Ich persönlich würde mich sehr freuen, dort meinen Lebensabend zu verbringen.“
„Dann ist es abgemacht? Karin? Shin? Nicolas?“ Als alle nickten, lächelte Maja. „Noch vor ein paar Wochen hätte ich mir das nicht träumen lassen, aber ich freue mich doch, wieder hin zu fahren. Ich hoffe nur, es wird nicht allzu viel auszubessern geben.“
„Ihr wollt nur nicht, dass wir euch zu oft besuchen kommen, das ist doch der eigentliche Grund für die Wahl eures Zieles“, flachste Nick und löste damit allgemeines Gelächter aus.
„Ich schätze eher, es ist Sentimentalität.“ Silkes Blick verklärte sich angesichts der ihnen bevorstehenden Reise. „Wisst ihr was? Wir fahren mit euch mit und sehen uns alles an, während ihr euch einrichtet. Nach ein paar Tagen fahren wir dann einfach wieder zurück, wenn wir sicher sein können, dass ihr das packen werdet.“
Dieser Vorschlag wurde mit einhelliger Begeisterung aufgenommen, sodass die Exkursion sich nunmehr wie eine Art Gruppenausflug ausnehmen würde. Nun machte sich Vorfreude unter den alten Kameraden und Freunden fürs Leben breit, wobei auch ihre Kinder gespannt waren, endlich einmal einen Blick an jenen sagenhaften Ort werfen zu können. Ihr ganzes bisheriges Leben über hatten sie stets Geschichten, Anekdoten und Insiderscherze über die Zeit, welche ihre Eltern dort verbracht hatten, anhören müssen, ohne wirklich nachvollziehen zu können, was den besonderen Reiz dieser Lokalität ausmachte.
Tjeld Sundet, Troms Fylke, Norwegen 15. Mai 2032
Der Abschied von Jasemin, Ana, Nick und Cybil war ihnen doch schwerer gefallen, als sie gedacht hatten, obwohl diese diesmal nicht auf Patrouille durch Feindesland oder irgendeine lebensgefährliche Mission gingen.
Sie hatten ganz richtig vermutet, dass niemand mehr nördlich von Bodø lebte, jedenfalls niemand, von dem man in Bodø wusste. Entgegen der Befürchtungen und Warnungen der dortigen Einheimischen setzten sie ihre Reise mit dem kleinen Boot, das ihnen gerade genug Platz und Komfort für die Reise aus Holland bot, fort. Sie hatten gerade den Tjeld Sund hinter sich gelassen und genossen das Panorama des sich nach Norden hin verbreiternden Vågsfjorden. Viel zu lange hatten sie diese herrlichen Landschaften vermisst.
„Da vorne ist es.“ Shin zeigte lächelnd auf Rolla, das rechterhand vor ihnen lag. Von hier aus erhoben sich die beiden Bergketten der Insel majestätisch auf fast eintausend Meter Höhe und wiesen ihnen den Weg. Von hier aus konnten sie das Safehouse bei Hallevik nicht sehen, da die westlichen Berge es noch verdeckten.
Karin mutmasste: „Ob unser gutes, altes Haus noch steht?“
„Wenn keiner eine Atombombe darauf geworfen hat, schon“, gab Simon zurück und grinste, als sie ihn in die Seite knuffte.
Nicolas, der am Steuer des Schiffes stand, meinte: „Ich glaube, wir haben uns ein gutes Stück Arbeit aufgeladen, bis wir das Haus wieder in einen bewohnbaren Zustand gebracht haben.“
„Du meinst, weil wir uns früher nie um den Haushalt gekümmert haben?“ Maja winkte ab. „Aber wir haben dennoch gelernt, wie sämtliche Installationen zu reparieren und zu warten sind. Wenn wir den Generator zum Laufen bringen oder sogar die Turbine an der Fallleitung am Wasserfall instand setzen können, könnten wir sogar elektrischen Strom haben. Meine größte Sorge ist eher, dass sich jemand irgendwann eine Zeitlang dort eingenistet haben könnte und mehr Schaden angerichtet hat, als das Haus in Ordnung zu halten.“
„Wenn sie das Haus und den Dieseltank geplündert haben, stehen wir schön dumm da, was?“ meinte Dimitri. „Haben wir überhaupt genug Treibstoff, um bis Bodø zurück zu kommen?“
„Keine Angst, wir haben genug gebunkert, um sogar noch mal bis Rotterdam zu fahren. Die Kleinen würden sich allerdings wundern, wenn wir in drei Tagen schon wieder da wären.“ Nicolas lächelte bei dem Gedanken daran.
Sie hatten sich relativ dicht an der Küste gehalten und umfuhren jetzt das nördliche Ende des Bergrückens, neben dem das Safehouse, ihr zukünftiger Ruhesitz, lag. Aishe rief freudig erregt: „He, der Steg steht noch. Zwar mitgenommen, aber noch brauchbar. Das heißt, wir können wieder fischen. Ist das nicht schön, Shin?“
„Ja, wenn das Haus auch noch steht… ah, da ist es ja! Nanu?“ Shin, der zusammen mit Aishe am Bug stand, hielt verwundert inne.
„Was ist denn?“ wollte Karin wissen.
Er zögerte kurz: „Ich weiß nicht. Ich glaube, ich wundere mich einfach nur, dass es noch genau so aussieht, wie an dem Tag, als wir es verlassen haben.“
„Das kannst du doch gar nicht mehr so genau wissen“, protestierte Silke, „immerhin sind inzwischen über… he!“
Nun sahen es alle, als ihr Boot um den steil aufragenden dunklen Vulkanfels des Berges Rolla herum gefahren war. Einige Sekunden war es still an Bord, als alle von ihren alten Erinnerungen eingeholt wurden, manche davon schmerzlich, viele schön. Nicolas hätte angesichts des so vertrauten und dennoch unerwarteten Anblicks fast vergessen, rechtzeitig Fahrt wegzunehmen. Dann besann er sich und ließ den Rumpf mit viel Feingefühl sanft gegen die Seite des Anlegesteges aufkommen. Sie machten fest und betraten zum ersten mal seit einem Vierteljahrhundert wieder skandinavischen Boden.
Maja fand ihre Sprache als erste wieder. „Alles hätte ich erwartet, nur das nicht.“
Das Haus sah wirklich noch so aus wie früher, so als sei die Zeit spurlos an ihm vorbei gegangen. Von einigen nach dieser langen Zeit normalen Verwitterungsspuren an der Holzverkleidung und etwas Algenbewuchs auf den Dachziegeln abgesehen, schien seine Bausubstanz noch intakt.
„Wir müssen Caroline nochmals posthum Dank zollen. Dieses Haus ist wahrhaftig für die Ewigkeit gebaut.“ Simon klang beinahe feierlich, doch Silke zerstörte diesen Moment der starken Gefühle umgehend.
„Sag mal, Aishe, hast du damals daran gedacht, abzuschließen, als du zur Tür raus bist?“
Sie lachten alle etwas nervös und hievten ihre Taschen über die Reling, um sich zur Vordertür zu begeben. Dabei fiel ihnen auf, dass sich die Natur im Laufe ihrer langen Abwesenheit auf erstaunliche Weise erholt hatte. Die beim Tag des Jüngsten Gerichtes abgestorbenen Bäume waren vermodert, hatten aber inzwischen Nachkommen hervorgebracht, die zwischen den alten Stümpfen und Resten kräftig empor gewachsen waren, soweit die immer tiefstehende Sonne es in diesen Breitengraden zuließ. So war über das letzte Vierteljahrhundert ein neuer, wenn auch noch nicht hochstämmiger oder dichter Wald entstanden, der nichts desto trotz recht gesund und intakt aussah.
Aishe überlegte eine ganze Weile, bevor sie erklärte: „Wenn ich mich nicht irre, sind wir durch die Garage gegangen und mit den Autos weggefahren. Was war damals mit der Haustür?“
Nicolas seufzte, während er mühsam seine schwere Tasche den Weg zum Haus hochtrug: „Ich habe keine Ahnung mehr, wenn ich ehrlich sein soll. Alles ist so schnell gegangen, als wir weg mussten.“
„Hat zufällig jemand von euch eine Funkfernbedienung für die Garagentür dabei? Ich will mich nicht durch die Fronttür sprengen müssen.“ Karin grinste schwach. Sie hatten tatsächlich Sprengdraht mitgenommen, falls sich eine Situation ergeben würde, in der sie vor verschlossenen Türen stehen sollten.
Ihr Blick schweifte über den Vorplatz zwischen Garage und Haus, der merkwürdig aufgeräumt schien. Marit sprach aus, was alle dachten: „Seltsam, kein Unkraut am und ums Haus. Als ob…“
Maja sah sich argwöhnisch um: „Als ob hier vor kurzem noch jemand gelebt hätte und alles in Ordnung gehalten hätte.“
„Oder noch da ist.“ Unwillkürlich zog Dimitri eine MP5 hervor, die er um den Hals an einem Riemen bei sich getragen hatte. Auch Silke und Shin waren derartig bewaffnet; man konnte nie wissen. Sie hatten nicht so lange überlebt, weil sie wehrlos in abgelegenen Gegenden herum spaziert waren.
Karin war die erste, die an der Vordertür war und prüfend am Türknauf zog. Zur großen Überraschung aller schwang die Tür klaglos nach innen auf, wo der Panzerglaskäfig der Luftschleuse lag. Dann sahen sie es und hielten die Luft an vor Schreck.
Das rote Kontrolllämpchen der inneren Tür leuchtete auf.
„Was zum… wie kann das sein? Das Haus hat Strom?“ Maja verschluckte sich fast an ihrer eigenen Spucke als sie das perplex hervorstieß.
Nicolas versuchte zu erklären: „Das ist nur eine LED, die braucht fast keinen Strom. Ihr wisst doch noch, wie umfangreich die Batterien unter dem Dach sind. Sie könnten so ein einzelnes Lämpchen zweihundert Jahre mit Strom zum Leuchten versorgen.“
„Unsinn, nach so vielen Jahren müsste die Kapazität der Akkus schon längst erschöpft sein, sogar die von diesen speziellen russischen U-Boot-Speicherzellen.“ Dimitri schüttelte den Kopf. „Mir gefällt das nicht. Wir können nicht gleichzeitig alle hinein, weil man die Schleuse nur von innen überbrücken kann. Davon abgesehen weiß ich nicht mal, wie; das hat einer der Terminatoren gemacht damals.“
„Soviel also zu unserem technischen Fachwissen über das Safehouse. Wer geht zuerst?“ Nervös spähte Karin in den ehemals so vertrauten und nun doch unheimlich wirkenden düsteren Flur.
„Ich und Shin, Silke sichert hier draußen und bleibt bei den Kindern. Sobald wir drin sind, kommen die nächsten beiden nach. Okay?“ Alle stimmten dem Vorschlag von Dimitri zu, worauf sich die beiden in die enge Schleuse quetschten und die Außentür vorsichtig und so leise wie möglich hinter sich zuzogen.
Sofort war es stockdunkel.
„Du hast nicht zufällig eine Taschenlampe dabei?“ erklang Shins Stimme neben Dimitri.
„Klar. Und mit welchen Batterien betreiben wir die? Die Lieferungen aus Australien lassen in ganz Europa noch immer auf sich warten.“
Nach einem Moment des Schweigens sagte Shin: „Ach, was stellst du dich so an, alter Hasenfuß? Wir haben so lange in diesem Haus gelebt!“
Er griff blind nach der Türklinke, über der die grüne LED gleich nach Verschließen der Außentür aufgeleuchtet war. Nachdem er sie nach innen in die Schleuse gezogen hatte und sie sich aus ihr heraus gedrückt hatten, fand der rüstige drahtige Asiate auf Anhieb die Türklinke zu seinem alten Zimmer direkt rechts neben der Schleuse. Ein schummriger Lichtspalt fiel in den Flur und spendete ihnen ausreichend Beleuchtung, um sich zu recht zu finden.
Maja und Nicolas erschienen in der Schleuse und stießen zu ihnen. Dimitri öffnete die Tür zum ehemaligen Krankenzimmer und verdoppelte so die Lichtmenge. Sie traten innerhalb einer Minute alle ein und hatten alle sechs Zimmertüren geöffnet, so dass der Gang jetzt gut sichtbar vor ihnen lag. Alle inspizierten unwillkürlich ihre Zimmer und ihnen fiel sofort eines auf.
„Es ist alles so sauber! Keinerlei Staub in den Räumen. Wie kann das sein?“ wunderte sich Maja.
Karin half ihr aus: „Die Belüftung hat auch einen integrierten Staubfilter, falls einmal doch Radioaktivität hinein gelangen sollte. So werden kontaminierte Partikel nach spätestens einer Luftumwälzung aus dem Kreislauf entfernt. Daniel hat es mir einmal haarklein erklärt.“
Aishe hielt inne und sagte dann: „Bilde ich mir das ein oder läuft die Lüftung etwa? Das kann doch nicht sein.“
Shin trat einem Impuls folgend zum nächsten Lichtschalter und betätigte diesen.
Die Beleuchtung flammte auf.
„Was? Wir haben tatsächlich normale Elektrizität im Haus?“ Marit sah zu Dimitri hinüber. „Soviel zu der Theorie mit der Restspannung der Batterien.“
„Das heißt, jemand muss noch vor kurzer Zeit hier gelebt haben“, schloß Silke.
„Oder tut es noch immer.“ Shin hob erneut automatisch die Maschinenpistole.
Aishe legte behutsam eine Hand auf seinen Arm und senkte den Lauf. „Langsam, John Wayne. Wir sind nicht hier, um unser Haus zurück zu erobern. Wenn man es genau nimmt, haben wir nicht einmal irgendetwas in der Hand, das beweisen würde, dass es uns gehört.“
„Und wisst ihr auch, wieso?“ Karin griff sich in einer Geste der Ohnmacht an die Stirn. „Weil es uns tatsächlich nicht gehört.Caroline hat damals den Grund und Boden gekauft und ich denke, niemand von uns hat auch nur die geringste Ahnung, wo sie die Besitzurkunde aufbewahrt hat.“
Marit sah ins Bad hinein, während sie hinzufügte: „Nicht, dass eine solche Urkunde noch irgendeine Bedeutung hätte, oder?“
„Aber wir waren Anführer der Widerstandsarmee Europas. Was für ein Vorbild wären wir, wenn jetzt eventuelle Bewohner des Hauses kämen und wir sie mit Waffengewalt vertreiben würden?“
„Leute, die Anzeichen verdichten sich. Das Bad ist spiegelblank. Hier drin könnte man auf dem Boden essen, wenn ich das schöne alte Sprichwort noch aus meinen Germanistikzeiten in Freiburg richtig im Gedächtnis habe“, verkünstelte Marit sich in ihrer Aussage.
„Doch, stimmt schon so“, bestätigte Shin lapidar und sah in die Küche hinein und um die Ecke. „Das gleiche hier drin. Alles blitzblank, so als wären die Bewohner nur mal schnell zu `nem Spaziergang außer Haus.“
Sie versammelten sich im großen Wohnzimmer, wo sie das gleiche Bild erwartete: alles war sauber und ordentlich, wirkte aber unbewohnter als ein Ausstellungsraum in einem Möbelhaus. Für sie ergab das einen höchst beunruhigenden Anblick, da dieser Platz so lange ein Hort des Lebens und der Geborgenheit gewesen war.
Karin fasste sich und schimpfte: „Das ist lächerlich! Ich komme mir vor wie im Märchen. Sollen wir fragen: Wer hat von meinem Tellerchen gegessen? Wer hat aus meinem Becherlein getrunken? Hä? Was?“
„Beruhige dich, noch wissen wir nichts Genaues. Wir sehen uns jetzt noch den Rest an, bevor wir uns überlegen, was wir tun wollen.“ Nicolas fiel etwas ein und er stürzte zur Fensterfront, wo man über den Balkon zum Anlegesteg und zum Fjord hinaus sehen konnte.
„Mist, die Kinder! Wenn jetzt draußen jemand lauert, während wir hier Maulaffen feil halten, sitzen wir in der Tinte. Silke, Simon und Marit, könnt ihr bitte die Bewachung des Außenbereiches übernehmen, bevor wir sicher sind, das alles in Ordnung ist? Bringt die Kleinen am besten aufs Boot und haltet euch bereit.“
Ohne ein weiteres Wort verschwanden die drei; sofort war die alte Professionalität wieder zu Tage getreten, mit der sie als militärisch präzises Team zusammen arbeiteten. Sie blieben im Wohnzimmer, bis sie die anderen sahen, wie sie auf den Steg traten, begleitet vom Nachwuchs. Karin bemerkte den Griff der Balkontür und überlegte, was ihr daran komisch vorkam.
Sie drehte ihn und öffnete zu ihrem großen Erstaunen völlig mühelos die schwere Tür aus Panzerglas. „He, seht euch das an! Jemand hat die Tür repariert. Die war doch total kaputt, nachdem der T-1000 sie aufgebrochen hatte!“
„Offenbar haben sich die unsichtbaren Bewohner hier mit sehr viel Engagement eingerichtet. Ich fürchte, wenn die noch da sind, werden sie uns sicher als Eindringlinge betrachten. Vielleicht lauern sie uns sogar irgendwo im Keller auf, um ‚ihr’ Heim zu verteidigen. Wir sollten mehr Vorsicht walten lassen.“ Dimitri hob nun doch seine Waffe an.
Sie stiegen vorsichtig die Treppe hinab, mit den MPs im Anschlag und so lautlos wie möglich. Unten im hohen, schmalen Kellergang erwartete sie dasselbe Bild. Alles sauber und ordentlich, aber verlassen und unbenutzt. Karin wisperte leise: „Könnte das vielleicht möglich sein, dass einfach die Turbine des Wasserfalles noch immer läuft und Strom erzeugt, sodass die Luftumwälzung alles staubfrei gehalten hat?“
„Und die Balkontür hat sich wohl von selbst repariert?“ spottete Shin. „Nein, wir haben hier ungebetene Gäste oder haben sie gehabt, soviel steht fest.“
Sie arbeiteten sich langsam und vorsichtig vor und kontrollierten nach und nach alle Vorratsräume, wobei sie immer nervöser wurden. Am Ende des Ganges sagte Maja leise: „Wir haben einen Fehler gemacht.“
„Wieso?“
„Nicolas, wir müssen unbedingt den Gang zur Garage und das Tanklager kontrollieren. Wenn sie sich dort versteckt halten, haben sie uns den Rückweg abgeschnitten und wir sitzen hier hinten am Ende des Ganges in der Falle wie die Ratten.“
Dimitri fluchte leise und hastete nach vorne. „Wir werden wohl langsam alt. So ein übler Fehler wäre uns doch früher nicht unterlaufen. Shin, nach vorne. Wir nehmen uns zuerst das Tanklager vor. Bei dieser Gelegenheit können wir auch gleich noch nach dem Generator sehen.“
Karin deutete in den toten Winkel gegenüber des Treppenaufgangs, wo die Heizungsanlage stand. „He, seht mal. Sieht so aus, als würde die Heizung laufen. Auf Minimalleistung zwar, aber doch eingeschaltet.“
Aishe staunte. „Tatsächlich. Deshalb die gleichmäßige, angenehme Temperatur oben. Vielleicht hat hier jemand einfach nur überwintert und sich jetzt nach Süden abgesetzt, wo die Strassen und das Meer wieder frei sind.“
„Die Straßen kannst du vergessen“, erinnerte Karin sie. „Ohne Fährverbindung kommst du von hier aus nur über die Alpen nach Schweden und somit weiter nach Süden. Und zu dieser Jahreszeit dürften die Passstraßen noch unpassierbar sein.“
„Stimmt, das war damals bei der Flucht ja unser großes Glück, dass Skynet seine Truppen nicht direkt hierher verfrachten konnte.“
„Los, weiter. Dimitri, du gehst mit Maja und mir durch den Gang in die Garage, während ihr anderen die Treppe im Auge behaltet.“ Er wartete keine Bestätigung ab, sondern schob gleich die schwere gepanzerte Tür auf, die neben dem Fuß der Treppe aus dem Haus hinaus in eine unterirdische Luftschleuse führte und dann weiter in die Garage.
Nervös sahen sie ihren Freunden nach. Aishe flüsterte: „Was haltet ihr davon?“
„Ich weiß auch nicht“, gestand Karin ein. „Ich hatte gehofft, wir könnten hier einen ruhigen Lebensabend verbringen, aber das ist ja kein so toller Start.“
Schon nach zwei Minuten waren die drei anderen zurück. Nicolas klärte sie auf: „Überall das gleiche Bild. Und stellt euch vor: in der Garage stehen zwei Autos, Volvo Kombis der letzten Baujahre. Fragt mich nicht, woher die kommen.“
„Wir sind hier in Norwegen. Wenn unsere unbekannten Hausbesetzer hier in der Gegend irgendwelche Autos auftreiben und zum Laufen bringen konnten, dann ziemlich sicher Volvos. Wahrscheinlich haben sie das Ersatzteillager im Keller gefunden und sich gesagt: Hey, toll, Treibstoff und Verschleißteile haben wir. Jetzt fehlen nur noch die dazu passenden Autos.“ Maja nickte grimmig und anerkennend.
Dimitri ging bereits zur Eisentür, die zum Raum für die Öltanks hinabführte, während Shin und Marit am Aufgang zum Erdgeschoss Wache hielten. Eine kurze Treppe führte hinab in die weitläufige Halle, in der die gewaltigen Heizöltanks lagerten, geschützt von einer mehreren Meter starken Stahlbetonplatte über dem Raum. Wie erwartet war er leer, wovon sie sich nach einer kurzen Durchsuchung überzeugten. Und über noch eine weitere wichtige Tatsache erlangten sie Gewissheit.
„Der Dieselgenerator läuft nicht. Das heißt, wenn die Batterien unter dem Dach nicht mehr laufen, was sie nach dieser langen Zeit eigentlich gar nicht können, muss der Fallstromgenerator draussen am kanalisierten Wasserfall noch in Betrieb sein. So langsam nötigen die Unsichtbaren mir Respekt ab“, gestand Maja ein.
„Dann bleibt uns jetzt nur noch die Turnhalle. Wollen wir’s hinter uns bringen?“ fragte Aishe und wandte sich nach oben.
Zu Viert näherten sie sich bedächtig der Tür am Ende des Flurs, die Nerven bis zum Zerreißen angespannt. Dimitri ging voraus, die MP5 im Anschlag und entsichert, dicht gefolgt von Karin, Maja und Nicolas.
Wie alle Türen im Haus schwang auch diese lautlos auf gut geölten Angeln auf. Sie spähten hinein, auf alles gefasst, nur nicht auf das.
Das Gewächshaus.
Genau wie damals waren die Bodenleisten immer beetweise weggeräumt und so die darunter liegende Erde feigelegt worden, bepflanzt mit diversen Gemüsesorten und künstlich bewässert sowie beleuchtet. Karin stockte der Atem. Wie hatten die Hausbesetzer das herausfinden können?
Als sie eintraten, erschien des Rätsels Lösung. Am hintersten Ende der Beete kniete eine Frau mit langen blonden Haaren, von ihnen abgewandt und an einer Tomatenstaude arbeitend. Sie bemerkte die Neuankömmlinge jedoch sofort und erhob sich.
Sie war groß und schlank, schien sportlich und hatte ein ebenmäßiges Gesicht mit attraktiven, nordischen Gesichtszügen und leuchtend blauen Augen. Sie lächelte bei ihrem Anblick. Karin schien das Blut in den Adern zu gefrieren; sie war die einzige, die die Bedeutung dieser Person kannte. Sie rief entsetzt: „Das ist ein T-X!“
„Scheiße!“ Dimitri riss die MP hoch und legte an, aber die junge Frau rief alarmiert: „Wartet, nicht schießen! Ihr ruiniert mir das Gemüse!“
Verdattert stammelte Maja: „Wa… was?“
„Leute, ich bin’s!“ Die Gestalt schrumpfte in Windeseile und veränderte ihr Aussehen, bis eine wohlbekannte Gestalt auftauchte.
„CAROLINE!“
„Ich freue mich so, euch zu sehen! Ich wusste genau, ihr würdet eines Tages kommen!“ Sie eilte zu ihnen und fiel jedem einzeln um den Hals, während alle noch starr vor Staunen waren.
„Aber… aber… woher kommst du denn? Du bist doch beim letzten Zeitsprung…“
„Nein, Karin, ich bin einfach wieder an der Stelle und zu dem Zeitpunkt aufgetaucht, bei dem wir gesprungen sind. Es war unerklärlich, als hätte mich das Zeitfeld verschmäht und wieder ausgespuckt. Schon wieder war ich in der Vergangenheit gestrandet, auch wenn es diesmal nur gut dreißig Jahre waren. Ich musste dann allerdings untertauchen, um mir selbst nicht in die Quere zu kommen und ein Paradoxon zu verursachen.
Sobald ihr hier weg wart, habe ich mich wieder im Safehouse einquartiert und mich ein wenig um die Instandhaltung gekümmert. Es war zwar nicht sehr leicht, vor der Außenwelt zu verbergen, dass das Haus nicht unbewohnt war, doch ich hatte Glück. Es haben keine Kampfhandlungen mehr in dieser Gegend stattgefunden und wenn überhaupt, habe ich nur alle paar Jahre mal ein vereinzeltes Boot in weiter Ferne über den Fjord fahren gesehen.
Als sich der Krieg seinem Ende näherte, habe ich begonnen, das Haus wieder auf Vordermann zu bringen. Irgendwie habe ich es ja geahnt, dass ihr früher oder später unweigerlich auftauchen würdet. Der eine oder andere von euch hat ja in Amerika in den letzten Jahren im Scherz davon gesprochen, noch einmal eine Wallfahrt nach Rolla zu machen. Seit kurzem habe ich sogar wieder Gemüse angebaut und eingefroren. Schön, dass ihr hier seid.“
„Was heißt hier Wallfahrt“, tönte Maja nach einer Schrecksekunde. „Wir bleiben hier! Dieses Haus wird hiermit zum Seniorenstift erklärt.“
Alle lachten, worauf Stimmen vom Ende des Flures erklangen. Sie holten Silke, Shin und Marit und die Kinder dazu, wobei die drei alten Safehouse-Bewohner ebenfalls nicht schlecht staunten, als sie die verloren geglaubte Freundin wieder sahen.
Eine Viertelstunde darauf sassen alle am großen Tisch im Wohnzimmer und berichteten davon, wie es ihnen ergangen war, seitdem sie getrennt worden waren. Es wurde eine wunderbare und unvergessliche Zeit für die Mitglieder der Gruppe, die nur ein paar Tage bleiben und dann mit ihren Kindern nach Mitteleuropa zurück fahren würden.
Die Versuchung war groß, alles sausen zu lassen und sich ebenfalls hier nieder zu lassen, doch für sie alle war das Haus nicht mit genug Räumen ausgestattet und sie hätten doch einiges improvisieren müssen. Außerdem wollten sie ihren Kindern doch die Möglichkeit bieten, den Wiederaufbau ihrer zurück gewonnenen Welt mit zu erleben und aktiv mit zu gestalten, anstatt ihn hier in aller Abgeschiedenheit wie im Exil zu verpassen. Wenn die Zeit gekommen war, dass alle auf eigenen Beinen stehen würden, würden sie umso lieber nachkommen, als dass jetzt noch die verloren geglaubte alte kybernetische Freundin und Weggefährtin so unverhofft wieder aufgetaucht war.
Hallevik, Insel Rolla, Troms Fylke, Norewegen 4. Juli 2032
Shin und Aishe standen auf dem alten, leicht morschen, aber immer noch sicheren Anlegesteg und hatten vier Angeln im Wasser. Sie genossen die tiefstehende Abendsonne über dem breiten Fjord, die alles in ein warmes orangefarbenes Licht tauchte und die schroffen Berge von Hinnøya im Westen als dunkle schattige Umrisse sich vom golden schimmernden Meer abheben ließ. Sie hatten zwei kleine Klapphocker dabei, auf die sie sich, ihrem Alter Tribut zollend, nieder gelassen hatten und Schulter an Schulter gelehnt und einen Arm um den anderen gelegt, das traumhaft idyllische Szenario genossen wie zwei frisch Verliebte.
„Wenn ich hier sitze, wirken all diese schrecklichen Erinnerungen aus dem Krieg nur noch wie blasse Schemen.“ Aishe seufzte selig.
Shin fügte weise hinzu: „Und die Bilder von vielen guten Freunden und treuen Kameraden ziehen vor dem inneren Auge vorbei, wie man sie am liebsten in Erinnerung behält. Lachend, in einem Moment das Glücks eingefangen, nicht schmerzverzerrt und leidend.“
Sie drückte sich noch ein wenig fester an ihn. „Was wäre der Mensch, wenn er die schlimmsten Dinge nicht verdrängen könnte? Wir hätten schon lange vor dem Sieg jede Hoffnung fahren lassen und uns dem Schmerz des Verlustes und des Leides hingegeben.“
„He, deine Angel hat gerade gezuckt.“ Er beugte sich mühsam nach vorne, um ins Wasser zu spähen, konnte jedoch angesichts der Sonne, die sich auf den sanften Wellen spiegelte, nichts erkennen.
„He, ihr beiden“, rief Karin vom Balkon aus. „Könnt ihr mal kommen, bitte? Es ist etwas passiert.“
Angesicht des Klanges ihrer Stimme waren die Beiden gleich alarmiert; zu lange schon kannten sie sich, um diese Nuancen zu überhören. Mit einem bangen Ausdruck in den Zügen sahen sie sich an und holten ihre Leinen ein, wobei sich Shins Beobachtung als Fehlalarm entpuppte.
Als sie ins Wohnzimmer traten, saßen die anderen um die Sofaecke herum oder standen am Fenster und sahen hinaus auf den Fjord. Rundherum bestürzte und betretene Gesichter.
„Was ist geschehen?“
Caroline sah sie mit möglichst ausdrucksloser Miene an. „Die Kinder haben uns angefunkt. Es hat einen furchtbaren Unglücksfall gegeben. Connors Truppen haben in den kanadischen Rocky Mountains eine der letzten Bergfestungen von Skynet ausgehoben, in der sie eine ZVA entdeckt haben. Ein dummer, alter T-850 hat Connor dabei getötet.“
„WAAAS?“ Shin glaubte seinen Ohren nicht zu trauen.
„Es war ein Modell mit dem gleichen Aussehen wie das, welches in Connors Kindheit zu seinem Schutz zurück gesandt wurde. Es gelang ihm, nahe genug an ihn heran zu kommen, um ihn zu terminieren. Anschließend haben sie seine Schaltkreise mit mehreren Tasern bei 50000 Volt gebraten. Seine Frau hat was von Schicksal gemurmelt und ihn reprogrammiert, bevor sie ihn mit der ZVA nach L.A. zum Tag des Jüngsten Gerichtes geschickt hat.“ Caroline hob bedauernd die Schultern.
Aishe schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht glauben, dass das passiert sein soll. Wir haben doch schon gewonnen. Gewonnen gehabt.“
„Diese Tragödie lässt unseren Sieg so blass und… nutzlos erscheinen. Wie soll es jetzt weiter gehen?“ Shin war ebenfalls schockiert.
„Wir sollten uns das eine Warnung sein lassen. Es ist erst vorbei, wenn der letzte dieser verdammten Terminatoren ein für alle Mal außer Gefecht ist. Solange müssen wir auf der Hut sein, ob es uns passt oder nicht.“ Maja sah sich im Wohnzimmer um, als erwarte sie, dass gleich ein T-1000 aus der Wand hinter ihnen heraus wachsen und zu wüten beginnen würde.
Simon sah zu Caroline auf. „Nicht jeder hat es so gut wie wir. In einer solchen Festung, bewacht und beschützt vom treuesten Freund, der einem Menschen so nahe kommt, wie es nur sein kann.“
Der T-X sah weg. „Bedanke dich bei Mahtobu, dem ollen Trottel. Meine Mission ist noch nicht zu Ende. Wenn ich den letzten von euch alten Knackern da draußen in einem Plastikbündel mit Steinen beschwert versenkt habe, dann werde ich frei sein, keinen Moment vorher.“
„Oh, wie mitfühlend und gewählt du dich wieder ausdrückst.“ Karin musste ungewollt schmunzeln.
Nicolas wollte schelmisch grinsend wissen: „Und was gedenkst du dann zu tun? Wenn der letzte von uns ‚alten Knackern’ abgekratzt ist, meine ich.“
„Ach, ich weiß nicht so recht. Das Haus in Ordnung halten, glaube ich. Vielleicht besuchen mich die Kinder ja mal. Oder ihre Kinder oder ihre Enkel. Ich werde sie von euch allen grüßen. Ich werde mich in euch verwandeln und mit euren Stimmen herum schimpfen und zetern, wie ihr es tut.“ Caroline grinste angesichts der entsetzten Mienen ihrer Freunde.
„Das würdest du nicht wagen!“ empörte sich Silke.
„Das würdest du nicht wagen!“ echote Caroline mit Silkes Stimme, aber mit einem bösartigen, keifenden Unterton, worauf sich alle ungewollt den Bauch halten mussten vor Lachen.
Nachdem der erste von ihnen wieder Luft holen konnte, japste er: „Leute, wir haben vor fünf Minuten von John Connors Tod erfahren und lachen uns bereits wieder kaputt. Ist das denn normal?“
Worauf es sehr schnell wieder ruhig wurde.
Marit senkte ihr Haupt: „Wir sollten uns was schämen, Leute. Sein Andenken so mit Füßen zu treten!“
„Also, ich würde nicht wollen, dass alle meinetwegen ewig Trübsal blast. Vielleicht war John Connor ja ein lustiger, lebensbejahender Mensch. Hat ihn jemand von euch persönlich kennen gelernt, während ihr drüben in Amerika wart?“ Dimitri sah sie an.
Nicolas schüttelte den Kopf. „Ich habe viel mit ihm zu tun gehabt, aber immer nur über Funk. Mein Eindruck von ihm war der eines sehr ernsten, verantwortungsvollen Mannes, der sich immer gut um seine Truppen gesorgt und gekümmert hat. Wahrscheinlich sind die Traumata bei ihm zu tief gesessen. Ihr dürft nie vergessen, er hat schon als Kind von dieser Zukunft erfahren.“
Karin meinte versonnen: „Nick hat einmal ausführlich von einer Begegnung mit seinem Sohn erzählt. Er hat zusammen mit Jasemin und Ana bei einem Säuberungstrupp am Rande der Rocky Mountains irgendwo in Wyoming ausgeholfen, als sie ein größeres Kontingent H-Ks und Zenturions vernichtet haben, indem sie eine Zangenbewegung mit einem Truppenteil von Connors Armee koordiniert haben. Das muss kurz nach Beginn der Offensive gewesen sein, bei der wir den North Platte River überquert hatten. Fragt mich nichts genaues, ich war ja nicht dabei. Sie kamen aus den Laramie Mountains und die anderen aus den Bighorn Mountains, worauf sie… warum lachst du, Maja?“
„Du bist und bleibst eine alte Märchentante, Karin! Kannst du vielleicht mal zur Sache kommen und die militärischen Details lassen? Wir sind nicht deine Kindergruppe und wollen uns von dir in den Schlaf lullen lassen.“ Ihre Freundin amüsierte sich köstlich über ihr verärgertes Gesicht.
„Ich wollte nie vor anderen erwähnen, welche alte Märchentante mit ihrem Stoßtrupp deiner Einheit in Südmanitoba den <Wir-haben-alles-unter-Kontrolle-Hintern> gerettet hat, aber du lässt mir ja keine andere Wahl.“ Nun war es an Karin, maliziös zu grinsen, während die Bloßgestellte empört aufkeuchte.
„He, wir hatten eine Abmachung.“
Shin freute sich diebisch: „Auf diese Geschichte freue ich mich schon jetzt; die werden wir uns gleich als nächstes vornehmen. Nein, keine Chance, Maja, das hast du dir selbst zuzuschreiben. Wenn ich mich in so beschämender Weise – und ich bin sicher, es wird sehr, sehr beschämend für unseren Generalmajor werden, nicht wahr, Karin? Gut, sehr gut… also, wer sich von einer Märchentante - nichts für ungut, liebe Karin - aus einer solchen Lage hätte retten lassen müssen, sollte vorsichtig damit sein, was er über diese verlauten lässt.“
Marit führte aus: „Was du sagen willst, heißt als deutsches Sprichwort: Wer im Steinhaus sitzt, soll nicht mit Gläsern werfen, stimmt’s?“
„Du warst noch nie so nahe dran wie diesmal“, prustete Dimitri, nur schwer einen neuerlichen Lachkrampf unterdrückend.
„Jetzt erzähl’ halt endlich deine phantastische Geschichte, werte Ex-Kommilitonin“, soufflierte Maja, bestrebt, die ganze Sache so schnell wie möglich hinter sich zu bringen.
„Oh, es wird bestimmt phantastisch, aber nicht so, wie du denkst“, versprach Karin und fuhr umständlich fort. „Sie haben diesen Angriff also von zwei Seiten mit den beiden Speerspitzen ihrer Armeen durchgeführt und den Blechköpfen so richtig ordentlich eingeheizt. Keiner der miesen Bastarde kommt davon und die Freude auf beiden Seiten über diese äußerst erfolgreiche Kooperation ist groß. Sie beschließen, nach Abklärung der Feindlage gemeinsam zu kampieren und diesen ersten großen Sieg nach Beginn der Offensive im Mittelwesten gebührend zu feiern. Und dann, im Schein der Feuerchen in einer kühlen, halb verschütteten Tiefgarage, begegnen sie Connors Sohn. Fragt mich nicht, wie er heißt, Nick hat seinen Namen genannt, aber… ach, egal.
Sie unterhalten sich sehr gut und verbringen einen netten Abend miteinander, doch Nick und Jasemin sind offenbar nur Luft für den guten, tapferen Jungen. Dafür kann er seine Augen nicht mehr von Ana abwenden und… wenn es dir zuviel wird, musst du nur Bescheid sagen, Maja. Du siehst so blass aus. Sie hat ihm offenbar nicht gesagt, wessen Tochter sie ist, doch dafür hat sie die schöne Unbekannte gespielt.
Und jetzt halt’ dich fest: Connor Junior und Nick machen miteinander aus, dass Connor westlich der Bighorn Mountains nach Norden vorstößt, während Nick und Jasemin östlich der Berge mit seinen Kräften vorstoßen und sie sich am Nordende des Gebirges bei Billings in Montana in einer Woche wieder treffen. Das hat eine zweite hübsche Zange gegeben, in der sie ein weiteres Regiment Bodenfahrzeuge von Skynet aufgerieben haben.
Ana allerdings ist in dieser Woche mit Connors Truppenteil mitgegangen und erst nach besagter Woche wieder zu Nick und Jasemin zurückgekehrt. Was sie in dieser Woche gemacht hat, weiß ich natürlich nicht; ich nehme an, sie hat ihnen beim Kartenlesen geholfen oder so. Jedenfalls hat sie gegrinst wie ein Honigkuchenpferd, nachdem sie zurückkam und nach dem Verleben der Tage bei Connor Junior gefragt wurde.“
Majas Kiefer war immer tiefer herunter geklappt. „Du willst mich auf den Arm nehmen. Sag’, dass das nicht wahr ist!“
Nicolas war ebenso perplex: „Unsere Tochter bandelt mit dem Sohn des Widerstandsführers an. Na warte, Fräulein, wenn du dich hier blicken lässt, kannst du was erleben. Sich mit einem der Westküstenarmee einzulassen… zum Glück weiß das hier in Europa niemand!“
„Glaubt ihr denn ernsthaft, daraus könnte etwas werden?“ fragte Maja zaghaft.
„Na ja, sie hat irgendwann neulich etwas von einem Besuch in Amerika geredet. Ich könnte mir schon vorstellen, dass das einen bestimmten Grund haben wird.“ Karin grinste. „Vielleicht wirst du bald Oma, Maja. Wie gefällt dir dieser Gedanke?“
Und wieder wurde ihr alter Hort der Sicherheit von fröhlichem Gelächter erfüllt.
So ging der Abend voran, ohne dass lange Trübsal um das traurige Schicksal des einstigen Anführers des weltweiten Widerstandes geblasen wurde. Ob ihm das so recht gewesen wäre, wussten sie nicht, doch sie wollten ihn als einen Menschen der Freude und Hoffnung im Gedächtnis behalten, vor allem angesichts der Tatsache, dass sie in Zukunft vielleicht mehr verbinden würde als nur das gemeinsame Ziel, das sie während all der Jahre der Finsternis so hartnäckig verfolgt hatten.
Bei Freiburg im Breisgau, Deutschland 2. Dezember 2001
Rebecca und Thorsten waren gerade in der Küche und kochten Mittagessen, als sie vom Geräusch eines sich nähernden Autos alarmiert wurden. Mit einem sorgenvollen Blick musterten sie sich, als er sagte: „Wer kann das sein?“
„Vielleicht hat sich jemand verfahren“, mutmasste sie, doch beide sahen in den Augen des anderen, dass sie nicht daran glaubten.
Sie eilten zur Haustür, als auch schon Miriam den Flur hinabgeeilt kam, mit einer schußbereiten Panzerfaust in Händen und einem entschlossenen Gesicht.
Thorsten hob beschwichtigend die Arme und zischte ihr zu: „Langsam, meine Liebe. Laß uns erst mal nachsehen.“
Sowohl er als auch Rebecca luden ihre Pistolen durch und steckten sie in den hinteren Hosenbund, sodass die Waffen im Bedarfsfall augenblicklich zur Hand sein würden. Dann öffneten sie und spähten hinaus.
Überrascht keuchte Rebecca auf: „Ein DHL-Lieferwagen! Das muss ein Irrtum sein! Wir haben doch gar keine offizielle Postadresse. Wir können demnach auch keine Zusendungen erhalten. Niemand weiss, dass wir hier sind.“
Worauf sich alle drei bestürzt ansahen, als diese Erkenntnis zu wirken begann.
Der Fahrer stieg aus, sah sich kurz um und entdeckte sie dann an der Tür, worauf er mit einem breiten Grinsen und einem schlichten Brief in der Hand herüber kam. Thorsten soufflierte: „Ganz cool bleiben, okay? Lasst uns erst mal abwarten, was er will.“
Er blieb hinter der Tür verborgen, während Rebecca das Reden übernahm. Der Bote rief fröhlich: „Hallo, ich suche eine Miriam Kaufmann. Bin ich hier richtig?“
Miriam und Thorsten starrten sich perplex an, dann legte sie vorsichtig die Panzerfaust nieder, bemüht um möglichst wenig Lärm. Rebecca entgegnete: „Bitte warten Sie einen Moment, ich hole sie.“
Dann schloss sie die Tür und sah ihre Kameraden an. „Was haltet ihr davon?“
„Die Sache stinkt. Aber wenn du die Sendung nicht annimmst, werden wir nie erfahren, was es damit auf sich hat.“ Thorsten nickte ermutigend.
Miriam seufzte. „Ich habe kein gutes Gefühl dabei. Aber du hast wohl recht, nehme ich an.“
Dann öffnete sie und lächelte den Kurier tapfer an, obwohl es ihr ganz flau im Magen wurde. „Guten Tag. Sie haben etwas für mich?“
„Nur diesen Brief. Keine Ahnung, warum der nicht mit der Post geschickt wurde; na ja, geht mich ja nichts an, solange der Auftraggeber dafür bezahlt. Bitte hier unterschreiben. Kann ich ihren Ausweis sehen?“ Er hielt ihr einen Schreibblock mitsamt Kugelschreiber hin und sah sie erwartungsvoll an.
Sie zückte ihren gefälschten deutschen Personalausweis, während ihr immer mulmiger wurde. „Hier, bitte. Nur ein Brief, sagen Sie? Ja, wirklich komisch.“
„Wem sagen sie das? Mein Kollege von der Auftragserteilung hat gesagt, dass er bereits seit einem Monat gelagert war, bevor er zu diesem bestimmten Dtum ausgeliefert werden sollte. So, das war’s schon. Schönen Tag noch.“ Er tippte sich zum Gruß mit dem Zeigefinger an seine dunkle Baseballkappe und ging zurück zum Lieferwagen.
Miriam schloß die Tür und riss den Brief auf. Das schlichte Blatt Papier war ein anonymer und unpersönlicher PC-Ausdruck, wie Rebecca erkannte, während Miriam die Zeilen überflog und sich ihre Augen weiteten. Dann füllten sie sich mit Tränen und sie begann schluchzend an der Wand herabzurutschen.
Thorsten kniete sich neben sie, um sich um sie zu kümmern, als Rebecca das Blatt zu fassen bekam und die wenigen Zeilen überflog.
Es ist noch nicht vorbei.
Der Tag des Jüngsten Gerichtes ist der 24. Juli 2004.
Versucht nicht mehr, es aufzuhalten.
Nehmt hier mit niemandem mehr Kontakt auf.
Die Zeitlinie darf nicht noch weiter versehrt werden.
Fahrt zurück nach Australien, dort werdet ihr gebraucht.
Ein zukünftiger Freund
Und auch Rebecca versagten die Beine ihren Dienst, als ihre Welt in sich zusammenstürzte und durch denselben alten Alptraum ersetzt wurde, mit dem sie aufgewachsen war und den sie endlich überwunden geglaubt hatte.
Es war so ungerecht.
Doch irgendwo in einem kleinen Winkel ihres Unterbewusstseins keimte neue Hoffnung auf. Sie konnten diesmal etwas bewirken, weil sie noch mehrere Jahre hatten, bis sich Dunkelheit und Chaos über die Welt senken würden. Sie konnten sich diesmal richtig darauf vorbereiten, auf die harten Zeiten und auf die Aufgabe, die sie erwartete. Australien würde von den direkten Atomschlägen verschont bleiben und musste als kleine Oase mit intakter Wirtschaft und weiter bestehenden Bodenschätzen, Rohstoffen und Landwirtschaft erhalten werden. Dafür würden ungeheure Anstrengungen nötig sein, doch sie würden sich nicht scheuen, alles dafür zu geben, dieses Ziel zu erreichen.
Thorsten hatte nun auch die Bedeutung dessen begriffen, was er da in der Hand hielt. Auch ihm war klar, dass sie eine schwere Zeit vor sich hatten, doch es war für den Rest der Menschheit im künftigen Kampf gegen Skynet lebenswichtig, noch irgendwo auf der Welt ein Rückzugsgebiet zu haben, wo dringend benötigtes Material für den Kampf und Nachschub noch hergestellt werden konnte.
Wie oft hatten sie Rationen, Munition oder Hilfsgüter aus Australien oder Südostasien erreicht, wenn die Moral der Truppen am Tiefpunkt gewesen war? Dieses Gefühl, dass es am anderen Ende der Welt Menschen gab, die solidarisch mit den kämpfenden Truppen ihren Beitrag zur Befreiung der Menschheit leisteten, indem sie sie mit allem Notwendigen versorgten, so gut sie konnten…
Ja, sie würden diese Menschen sein. Sie würden dabei helfen, ein funktionierendes Land zu erhalten und die Infrastruktur aufzubauen, die benötigt werden würde.
Sie waren bereit.
- E P I L O G -
Hallevik, Insel Rolla, Troms Fylke, Norwegen 21. Juni 2100
„Sieh’ mal, da vorne ist es, Oma, nicht wahr?“ Das Mädchen im Teenager-Alter deutete nach vorne, wo dichte Wälder neben einer dunklen Bergkette eine Insel bedeckten.
„Ja, meine Kleine, das ist Rolla. Eine lange Reise nähert sich dem Ende.“ Die alte Frau strubbelte dem schwarzhaarigen Mädchen über den Kopf, was diese mit Missmut und Flucht quittierte. Sie lief ans Heck des Decks und sah lieber nach hinten, als sich noch einmal derart behandeln zu lassen.
Eine weite Reise hatten sie fürwahr hinter sich. Von Neuengland aus waren sie mit dem Staustrahljet über die Nordatlantiklinie nach Dänemark geflogen, was dank der neuen Hyperschalltechnik nur anderthalb Stunden gedauert hatte. Dann ging es weiter mit dem Ekranoplan, einem gigantischen Wasserflugzeug aus russischer Produktion mit dicken Stummelflügeln, das in nur zehn Metern Höhe auf seinem eigenen Luftpolster und Düsenantrieb in drei Stunden mit mehreren Zwischenstopps übers Meer bis Bodø geflogen war. Dann hatten sie das gemietete Luftkissenboot in Empfang genommen und waren weitere vier Stunden durch die traumhafte Insellandschaft Mittelnorwegens gefahren.
„Bist du sicher, dass wir das richtige tun? Du weißt, dass die gesamte Insel seit Jahrzehnten Sperrgebiet ist.“ Eine gutaussehende Frau Mitte Fünfzig, vom Aussehen her ein Abbild ihrer Mutter, von den leuchtend blauen Augen abgesehen, sah nachsichtig auf ihre Mutter hinab und versuchte die Zweifel in ihrer Stimme zu unterdrücken.
„Natürlich, auf Anweisung deines Grossvaters. Nicolas Fraisier war sehr weitsichtig, dass er diese Massnahme durchgesetzt hat. So hat sie ihre Ruhe und lässt ihrerseits den Rest der Welt in Ruhe. So ist alles in Ordnung.“
„Du redest von ihr wie von einem Raubtier.“
„Und du hast gar keine Ahnung, wie nahe du damit der Wahrheit kommst.“ Rätselhaft lächelnd blickte die Greisin in längst vergangene Tage zurück.
Als sie sich dem Safehouse näherten, schaltete der Pilot auf manuellen Betrieb um und glitt vorsichtig näher ans Ufer heran. Im letzten Moment riss er das Steuer herum und fluchte: „So ein Mist, da ist ein alter Bootssteg genau auf Meereshöhe. Ich hätte ihn fast nicht gesehen.“
„Ach ja, der ist inzwischen überspült. Der Wasserspiegel der Weltmeere ist seit der Erbauung des Steges ja um fast zwei Meter angestiegen; daran hatte ich nicht mehr gedacht.“
„Aber das Haus sieht noch immer aus wie fast neu. Stellt euch vor, es ist fast hundert Jahre alt. Sie hält es ganz alleine so gut in Schuss, genauso wie sie es damals auch ganz alleine erbaut hat.“
„Kaum zu glauben. Kein Mensch kann das vollbringen“, widersprach Anas Tochter und schüttelte ungläubig den Kopf, während das Hovercraft beinahe lautlos an Land glitt und neben dem Haus zum stehen kam. Schnell schaltete der Pilot die Motoren ab und öffnete die Ausstiegsluke, worauf Mutter, Tochter und Enkelin das Gefährt verließen.
„Und wieder hast du recht, meine Liebe. Kein Mensch kann das vollbringen.“ Sie ging zielstrebig zur Vordertür des Hauses.
„Ein bisschen mulmig wird mir ja schon, Oma. Wir haben etwas über sie in Geschichte gelernt, aber ich hätte mir nie gedacht, dass ich diesen Ort einmal besuchen würde.“ Zumindest Anas Enkelin hatte gehörigen Respekt, wie an ihren vorsichtigen Bewegungen und beinahe ängstlichen Blicken deutlich wurde.
„Was glaubt ihr Spinner, was ihr hier tut?“ ertönte auf einmal eine Stimme übernatürlich laut und jagte ihnen einen gehörigen Schrecken ein. Der Pilot machte einen Satz und zog sich überhastet ins Innere des Bootes zurück.
„Eine alte Freundin besuchen. Hallo, Caroline!“
Zehn Sekunden lang passierte gar nichts, dann schwang die Vordertür nach innen und eine zierliche junge Frau mit sanften Gesichtszügen, großen, sanften Rehaugen und rotbraunen Haaren, die zum Pferdeschwanz zusammen gebunden waren, trat lächelnd ins Freie. „Mein Gott, Anastasia Connor, wie schön, dich zu sehen. Dass ich das noch erleben darf! Wie lange ist das her?“
Sie umarmte die kleine Frau vorsichtig und lachte. „Sag du’s mir, du hast doch das bessere Gedächtnis. Meines lässt allmählich nach, weißt du? Ich bin inzwischen Mitte Achtzig, da ist das schon in Ordnung.“
„Aber rüstig bist du! Lass dich ansehen, ich bekomme so selten Besuch.“ Sie hielt die alte Frau auf Armeslänge entfernt und betrachtete sie eingehend. „Letztes Jahr war Bernd mit seinem Sohn und seinen zwei Enkelkindern da. Zwei ganz reizende junge Frauen.“
„Bernd, der alte vertrocknete Knochensack! Davon hat er gar nichts erzählt. Na warte, macht einen auf fürsorglich dir gegenüber…“ Ana schüttelte den Kopf, wie um zur Besinnung zu kommen. Das gegenseitige Ausstechen mit ihrem jüngeren, aber nun ebenfalls greisen Bruder war hier nicht das Thema. Fast fürsorglich erkundigte sie sich: „Wie geht’s deinem Fusionsreaktor?“
„Ich arbeite innerhalb normaler Parameter, danke der Nachfrage. Kann noch eine Weile dauern, bis ich den Betrieb einstellen werde. Aber genug von mir. Wen hast du denn da Nettes im Schlepptau?“
„Ach, ich werde unflätig auf meine alten Tage. Ich wette, du erinnerst dich nicht mehr an meine liebe kleine Constanze. Und außerdem…“ Ana deutete auf ihre Nachkommen, doch bevor sie ausgeredet hatte, war Caroline schon zu ihrer Enkelin herangetreten und gab ihr artig die Hand, was diese schüchtern erwiderte.
„Aber natürlich weiß ich das noch! Meine Güte, genauso wie ich sie im Gedächtnis habe. Wie ist das nur möglich? Nein, warte, die Augenfarbe stimmt ja gar nicht. Deine Augen sind braun! Wie ist das möglich?“
Verwirrt und verängstigt sah Anas Enkelin zu ihr herüber und sagte weinerlich: „Oma?“
Empört beschwerte diese sich und erklärte dem jungen Mädchen dabei: „Okay, okay, ich habe den versteckten Vorwurf verstanden. So gut verteckt war er ja nun wirklich nicht. Das ist natürlich meine Enkelin Patricia. Sie ist jetzt ziemlich genau so alt wie Conny bei unserem letzten Besuch war, so einfach ist das. Und unser lieber T-XF hier heuchelt Unwissen und stellt mich dadurch bloß. Kein Wunder, wenn ich mich hier nie blicken lasse, oder?“
„Schon gut, tut mir leid“, lenkte diese darauf ein. „Ich wollte euch nicht vergraulen. Aber es ist wirklich schön, euch hier begrüßen zu dürfen. Soll ich dir was sagen, Patricia? Deine Mutter war eine echte Heldin. Was ich dir für Geschichten erzählen könnte, was sie im Krieg alles geleistet hat. Das waren üble Zeiten…“
Darauf sprang der Nachwuchs allerdings sofort an: „Das wäre toll! In der Schule platzen die anderen Mädchen vor Neid, wenn ich ihnen das hier erzähle!“
Constanze wiegelte gleich ab: „Na, glaub’ bloß nicht alles, was sie erzählt. Wer weiß, wie viele Soldatengeschichten nicht pure Übertreibung sind.“
„Caroline ist eine ehrliche Haut, darauf kann man bauen. Wollen wir?“
Caroline hielt den anderen die Tür auf, so dass einer nach dem anderen durch die Schleuse ins Innere gelangte, drei Generationen von Maranoff-Fraisiers. Staunend sah sich vor allem Patricia um, denn sie hatte sich nie eine Vorstellung davon machen können, wie es hier aussehen mochte. Die dreidimensionalen Risszeichnungen und virtuellen Hausbegehungen dieses Monumentes des menschlichen Widerstandes, wie sie sie in der Schule gesehen hatte, konnten die Realität natürlich nicht erreichen. Dennoch hatten unter anderem sie dafür gesorgt, ihr Interesse an Geschichte in einem solchen Maße zu wecken, dass sie sich das Studium der Vorkriegs- und Kriegsjahre als Berufsziel gewählt hatte.
Was niemanden stolzer machte als Ana.
Doch auch für Constanze war es schon so lange her, dass ihre Mutter sie an diesen Zufluchtsort ihrer berühmten und altverdienten Großeltern mitgenommen hatte, dass sie sich kaum noch daran erinnern konnte. In einer flüchtigen Erinnerung tauchte der breite Flur, von dem sämtliche Türen des Stockwerkes abgingen, vor ihrem inneren Auge auf.
Ja, sie war tatsächlich so alt gewesen wie ihre Tochter Patricia jetzt. Sie hatten ihre Großmutter Maja als letzte der alten Gruppe von Generälen und Offizieren, die sich nach dem Krieg hierher zurückgezogen hatten, draußen auf dem Fjord beerdigt, wie es der Wunsch aller dieser Gruppe gewesen war. Es musste mit einer alten schmerzlichen Erinnerung zu tun haben, dass sie alle ausnahmslos diese Art der letzten Ruhe gewählt hatten, doch Caroline schwieg sich wohlweislich darüber aus. In einem schwachen Moment hatte Nicolas einst etwas von den Namensvettern von ihrem Bruder und ihr erwähnt, war aber nicht näher darauf eingegangen.
Als letzte betrat Caroline den gepanzerten Glaskasten, der seine Funktion als ABC-Schleuse damals voll und ganz erfüllt hatte, nun aber ein Anachronismus geworden war und nur noch den freien Eintritt ins Haus behinderte. Nun, dem T-X machte das nichts aus, da sie ebenfalls ein Übrigbleibsel aus längst vergangenen Zeiten geworden war und hier ihr Gnadenbrot fristete. Alle paar Schaltjahre wurde sie von den Nachkommen ihrer alten Freunde besucht und ansonsten vom Rest der Welt, der ihr mit Achtung und Respekt für ihre Verdienste, aber auch Mißtrauen und manchmal Angst begegnete, tunlichst gemieden. Ihre Quarantäne hier war sicher das Beste für alle.
Sie zog die schwere Tür zu und schloss die Welt damit aus. Caroline führte ihre Gäste herum und zeigte ihnen alle Zimmer, erklärte dem staunenden Nachwuchs Anas die Funktionen des Hauses und konnte mit vielen kleinen Anekdoten und Geschichten über die historischen Persönlichkeiten aufwarten, die hier gemeinsam als junge Menschen die schlimmsten Jahre der Menschheitsgeschichte überdauert hatten, doch davon bekam die Außenwelt nichts mit.
Der Pilot zog sich gelangweilt seine Mütze übers Gesicht und lehnte sich zurück.
Das konnte dauern, wenn alte Freunde sich trafen.
Und daheim würden sich alle begierig auf ihn stürzen und jedes kleine Detail in Erfahrung bringen wollen. Denn er hatte gerade den definitiv letzten Terminator der Welt leibhaftig vor sich gesehen.
Oder?
- E N D E -
Freiburg im Breisgau, Deutschland 27. Oktober 2001
Lange hatte das schöne Wetter nicht gehalten. Heute war es kühl und regnerisch gewesen, doch mit Einsetzen der Dunkelheit hatte der Regen nachgelassen, sodass man auch ohne Schirm oder Kapuze durch die Straßen der Stadt gehen konnte.
So waren Caroline und Ana Simon und Abbey gefolgt, die ziemlich lange zusammen in einer kleinen, aber feinen Pizzeria gespeist hatten, dem Casa Dante, das brandneu war und dummerweise auch noch genau gegenüber dem Schauplatz ihrer letzten Begegnung mit Karin und Maja lag.
Was natürlich bei Ana unwillkommene Erinnerungen wachrief und ihr einen Kloß im Magen bescherte, den sie die ganze Zeit über nicht loswerden konnte. Wer konnte das schon so leicht wegstecken, der eigenen Mutter zu begegnen, in einem Alter, das fast ihrem eigenen entsprach?
Sie standen auf dem leer geräumten Platz neben der Gartenstrasse und taten so, als würden sie sich ganz zwanglos leise unterhalten wie zwei Freundinnen, die sich zufällig hier begegnet waren. Dabei spähten sie durch die großflächige Glasfront und observierten ihre Zielpersonen.
„Kannst du erkennen, was sie reden?“ wollte Ana neugierig wissen.
„Nur das, was Simon sagt, Abbey ist mir abgewandt. Zum Glück, würde ich sagen, denn sie hätte längst bemerkt, dass wir sie beobachten. Simon hatte in seinen jungen Jahren kein sehr ausgeprägtes Gespür für solche Dinge.“
Ana überlegte einen Moment. „Aber dennoch weißt du, was Abbey sagt, nicht wahr?“
Caroline seufzte. „Du bist gut, Ana, sehr gut. Den analytischen Scharfsinn hast du bestimmt von deiner Mutter geerbt. Ja, ich gebe zu, ich kann mich noch an jedes Wort erinnern, das ich damals mit Simon gewechselt habe, da keine dieser Daten jemals verloren gegangen ist. Aber es würde dich nicht interessieren; wir waren damals in einer Phase, in der unsere Beziehung durch die unausgesprochenen Dinge bereits ziemlich belastet war.“
„Hm, trotzdem unterhält er sich offenbar gut mit dir“, stellte sie fest.
„Er war es von uns allen am meisten, der sich an unsere Bindung geklammert hat. Er hat mich damals sehr geliebt, musst du wissen, auch noch, als er bereits wusste, dass etwas mit uns, mit Daniel und mir, nicht stimmte. Er wollte diese Liebe nicht den besonderen Umständen zum Opfer fallen lassen, glaube ich. Und er hatte nie wieder eine Freundin nach mir, bis er Silke begegnet ist.“ Caroline sah sich um. „Wenn ich damals gewußt hätte, dass zwei Kämpfer aus der Zukunft draußen stehen und uns beobachten… aber niemand von uns hat etwas bemerkt, bis es zu spät war. Die Rebellen waren echt gut; wir hatten keine Ahnung von dem, was uns da drohte.
Annie hingegen hat sich schon beinahe plump verhalten bei ihrer bisherigen Observation. Mir will nicht in den Sinn, dass sie sich so ungeschickt anstellt.“
„Umso besser für uns, oder?“ Ana sah auf. „Da, sie bezahlen. Wohin?“
Caroline entschied sofort: „In Richtung Dreisam. Ich glaube nicht, dass sie jetzt noch einen romantischen Spaziergang am Fluß machen werden. Nein, ich weiß es sogar. Sie werden heimgehen.“
„Wieso müssen wir Abbey eigentlich beobachten? Du weißt schließlich bereits im Voraus, wo sie gewesen ist und was sie getan hat“, beschwerte sich Ana unwillig, als sie schnell über eines der kleinen Bächlein schritten und sich vom Eingang des Lokals entfernten.
„Du vergisst wohl, weshalb wir da sind. Unser Ziel ist es, Annie aufzuspüren. Eines der Ziele der Rebellen ist Abbey, weshalb sie sie früher oder später beobachten werden. Und da Annie der Rebellen habhaft werden will…“
„Ja, schon gut, ich hab’s allmählich kapiert. Wohin gehen sie also?“ Sie beobachtete, wie die beiden Arm in Arm, aber nicht gerade wie frisch verliebt wirkend, um die Straßenecke am anderen Ende bogen.
Caroline musste nicht lange in ihren Speichern suchen. „Sie werden die gesamte Kaiser-Joseph-Straße entlang unter den Arkaden hindurch schlendern und dann in die Weberstraße zur WG gehen, wo sie…“
Als sie innehielt, merkte Ana auf. „Was ist?“
„Wir müssen uns beeilen, das könnte knapp werden, wenn wir dranbleiben wollen.“ Rasch schritten sie die nur dürftig erhellte Straße entlang zurück in Richtung Innenstadt. Als sie das Martinstor durchquert hatten, sahen sie sie von weitem inmitten der vielen Leute, die heute Nacht ausgingen und ihren Spaß haben wollten.
Sie bogen bei der Rathausgasse ein und nahmen die Parallelstrasse zur großen Freiburger Einkaufsmeile, sodass sie am anderen Ende der Weberstraße ankamen, als die beiden gerade vor ihrer Haustür standen und sich einen flüchtigen Kuss auf die Wange gaben. Dann schloss Abbey die Tür auf und ging ins Haus, während Simon stehen blieb und wartete.
„Und was jetzt?“
Ein dumpfes Grollen nahm ihr die Antwort vorweg. Schnell zog Caroline Ana in einen dunklen Hauseingang, als Karin nur zwei Meter entfernt mit Daniels altem Calibra Sportcoupé an ihnen vorbei fuhr und an der Ecke hielt, wo Simon zustieg.
Als sie losfuhren und gleich darauf an einer roten Ampel standen, derselben, die in drei Jahren in kurzem Abstand zweimal von Alex während ihrer Rettung in Freiburg überfahren werden würde, trat Caroline in Aktion. Sie trat schnell zum nächsten Auto, einem schwarzen 3er BMW, und fuhr ihren Zeigefinger zu einem spitzen metallischen Dorn aus, worauf mit einem unaufdringlichen blauen Leuchten eine winzige Menge ihrer verbliebenen Nanobots über die Türschloßmechanik von der gesamten Bordelektronik Besitz ergriffen. Die Türen entriegelten sich und der Motor sprang von ganz alleine an, noch während die verdutzte Ana zur Beifahrertür hin geschoben wurde.
„Schnell jetzt, sonst verpassen wir sie.“ Caroline fuhr an, doch die Ampel hatte sie gerade auf den Friedrichring entlassen und sprang just wieder auf Rot. Der T-X nahm kurz die Lage auf und bog trotz rotem Signal ebenfalls ganz gemütlich auf die zweispurige Innenstadt-Umfahrung ein. Ana verkniff sich jeden Kommentar.
„Wohin geht es?“ fragte sie stattdessen, als sie beim Siegesdenkmal auf die Zähringer Straße einspurten, um ihre ahnungslosen Verfolgten nicht zu verlieren.
„Ich habe da so eine Ahnung.“ Caroline überlegte, was bei ihr hieß, die Aufzeichnungen darüber abzurufen, was Karin und Simon damals zu Abbey gesagt hatten, wohin sie gehen wollten. „Und das heißt, es könnte Probleme geben. Ich rufe schnell Nick an und gebe ihm Bescheid, dass wir unterwegs sind.“
Als sie der Hauptstraße in Richtung Norden folgten, bewegte sie tonlos die Lippen im stummen Gespräch mit Nick oder Karin, als sie sie in Bereitschaft versetzte. Ana war überzeugt davon, dass sie auch ohne diese menschliche Geste ausgekommen wäre, doch nach fast acht Jahrzehnten war sie so menschlich geworden wie eine Maschine es nur werden kann.
Nur einmal wies sie auf die Seite: „An dieser Stelle habe ich mich damals – das heißt 2004 – von Alex einfangen lassen. Ach, das waren noch Zeiten.“
Am nördlichen Ende des Industriegebietes Nord bestätigte sich Carolines Ahnung, als sie die junge Karin auf ein weitläufiges Parkplatzgelände einbiegen sah, das sich vor der hiesigen Filiale einer bekannten Baumarktkette ausbreitete. Sie fuhr achtlos am Parkplatz vorbei, am Eingang zum Kellergeschoss des gigantischen Gebäudes, vor dessen hoch umzäuntem Rand sich bereits eine Warteschlange von aufgestylten jungen Menschen gebildet hatte, die frierend in der nasskalten Herbstnacht ausharrten.
„Alles klar, sie wollen in den Funpark“, bemerkte Caroline und wendete höchst illegal um eine Verkehrsinsel herum, welche die Einmündung in die Nachbarstrasse bildete, um nochmals in entgegen gesetzter Richtung langsam an der Schlange vorbei zu fahren. An dessen Ende reihten sich gerade Simon und Karin ein, ohne etwas davon zu merken, dass ihnen soviel Aufmerksamkeit zuteil wurde.
Der T-X steuerte auf den Parkplatz und stellte ihr Auto auf einem unbeleuchteten Platz im hintersten Winkel des weitläufigen Areals ab. Sie sah Ana an. „Hast du Geld dabei?“
„Ja, hier, etwa sechzig Mark.“ Noch bevor sie das Geld aus ihrer Hosentasche kramen konnte, winkte Caroline ab.
„Gut, das reicht für uns beide. Der Eintritt und Mindestverzehr für uns beide beträgt etwa die Hälfte, aber wir sind schließlich nicht zum Vergnügen da. Allerdings müssen wir unsere Kleidung etwas verändern, wir wollen ja nicht auffallen, oder? Was in diesem Fall heißt, wir müssen uns ein wenig mehr aufdonnern. Gott sei Dank habe ich in den letzten Tagen bei jeder Gelegenheit vorbeilaufende Leute ‚rein zufällig’ gestreift und dabei analysiert. Vor allem in der Studentendisco und den beiden In-Cafés war das eine lohnende Sache, würde ich sagen.“
Sie steuerten einen Seat Alhambra an, dessen voluminöse Heckverglasung komplett mit rabenschwarzen Tönungsfolien ausgekleidet war. Ohne mit der Wimper zu zucken, öffnete Caroline über einen ausgestreckten Finger das Türschloß und hinderte sogar die Innenbeleuchtung am Anspringen, sobald sie die Fondtür öffnete und die erstaunte Ana hinein schob.
„Das ist unsere Umkleidekabine“, erklärte sie kurzerhand. „Ich mache den Anfang, dann kommst du dran.“
Und das silberne flüssige Schillern überzog sie, den Roboter in ihr freilegend. Ana, die den Anblick nicht gewohnt war, erschrak sich ein bisschen, vor allem als ihre Glieder auseinander fuhren und sie um etwa zwanzig Zentimeter größer machten. Als Konturen, Strukturen und dann Farben zurückkehrten, war aus ihr eine schlanke, sehr attraktive Frau Mitte zwanzig geworden, die mit einem weißen, zu engen Spaghettiträgertop, einem ebenso enthüllenden schwarzen Minirock und silbernen Schnürsandalen bekleidet war. Ihr langes blondes Haar umrahmte ein Gesicht von klassischer nordischer Schönheit mit eisblauen Augen.
Das war die ‚Default’- oder Ursprungsform des T-X, wie Ana inzwischen wusste.
„Oh Mann, Caroline, wenn ich so neben dir herlaufe, wird man hinterher eine polizeiliche Befragung machen können und jeder wird schwören, sich nicht mehr an mich erinnern zu können. Dein Aussehen ist sozusagen ein Freibrief für mich.“
Sie schüttelte das seidenglatte Haar. „Oh nein, so leicht kommst du mir nicht davon. Wenn wir nicht im Zweierpack dort hinein gehen, fallen wir umso mehr auf. Die schwarzen engen Jeans und die knöchelhohen Lederstiefel sind in Ordnung. Aber das Oberteil… was hast du unter diesem unansehnlichen graubraunen Wollstrickpullover an? Zeig’ doch mal her.“
Als sie das weiße Unterhemd und einen einfachen BH erblickte, seufzte sie auf. „Gut, dann versuchen wir etwas Neues. Zieh’ das Zeug aus. Ja, alles; schau nicht so belämmert. Schnell, wir haben nicht den ganzen Abend Zeit.“
„Ich hoffe, du weißt was du tust.“ Schnell legte Ana die Kleidung ab und setzte sich aufrecht hin, mit einem Anflug von Scham. Caroline schien einen Moment lang etwas zu überlegen, während sie ihre Wahl traf, dann berührte ihr Zeigefinger Anas Schulter.
Und die silberne Flüssigkeit kroch von ihrer Fingerspitze herab und in einer feinen Schicht über ihre Schulter und verteilte sich wie Quecksilber über ihren Oberkörper.
Ein wenig schaudernd fragte sie: „Was tust du da? Das ist sehr unangenehm! Und es ist kalt!“
„Vertrau’ mir, nur noch einen Moment, dann hab’ ich’s.“ Nun bildete sich so etwas wie ein hauchdünner Stoff aus, der fliederfarben glänzte. Sie bemerkte einen feinen Strang, der über ihren Rücken kroch und sie kitzelte, dann war das Werk vollbracht. Es war ein synthetisches Top, das metallicfarben war, oben hochgeschlossen und zum Bauch hin sich zu einer Spitze verjüngend, wie es heutzutage dutzendfach getragen wurde. Allerdings war es im Rücken völlig frei, nur von einem dünnen Band auf Brusthöhe gehalten und sehr freizügig.
„Das soll ich tragen? Du machst wohl Witze! So hatte ich mir das tolle ‚Ausgehen’ hier in der Vergangenheit nicht vorgestellt.“ Sie versuchte, sich das Stückchen Stoff abzustreifen, musste aber feststellen, dass es sehr flexibel und anschmiegsam war und sich nicht so einfach ausziehen ließ.
„Ich bitte dich, Ana! Das ist genau das richtige Maß an Schamlosigkeit für solch einen Ort. Außerdem ist es kugelsicher und feuerfest. Du darfst dich allerdings nicht weit von mir entfernen, sonst verliert dieser Bestandteil seine Substanz, kehrt in seine ursprüngliche polimimetische Form zurück und bewegt sich automatisch in meine Richtung, um sich mit der Hauptmasse zu verbinden.“
„Oh je, auch das noch. Wie weit denn?“
„Etwa siebzehn Kilometer.“
Mit säuerlicher Miene erwiderte sie: „Haha! Ich werde mich in diesem Sündenpfuhl, in dem so etwas als normale Kleidung gilt, nicht einmal siebzehn Meter von dir entfernen. Können wir dann? Ich will es hinter mich bringen.“
„Gleich, erst noch dein Haar. Du trägst es immer mit einer Spange oder einem Band zusammen gebunden, wie deine Mutter oder Karin. Ich stecke es dir noch schnell hoch, das verändert dein Aussehen ganz gewaltig. Sogar wenn du Karin über den Weg laufen solltest, was du nicht wirst, würde sie dich nicht sofort erkennen.“ Caroline nahm Anas langes braunes Haar auf und verlängerte einen Finger, bis er Form und Aussehen eines dünnen Holzstabes annahm, welchen sie durch den ‚Dutt’ steckte und abtrennte.
Beim Verlassen des Wagens fragte Ana: „Und was wird jetzt aus meinen Sachen?“
„Ich verriegle den Wagen so, dass ihn niemand mehr aufbekommt, auch der Besitzer des Schlüssels nicht. Wenn er vor uns zurückkommen sollte, wird er wohl entnervt über den Defekt in der Schließanlage des Vans ein Taxi nach Hause nehmen müssen.“
Dann stellten sie sich in die Schlange, abschätzende und missbilligende Blicke von anderen Frauen und begierige der männlichen Wartenden auf sich ziehend. Beiden machte die Kühle nichts aus, Caroline aus nahe liegenden Gründen und Ana deshalb, weil sie ihre Kindheit im kontinentalen Klima des im Frost erstarrten Russlands verbracht hatte und ganz andere Temperaturen hatte erdulden müssen. Für sie konnte es hier im milden Freiburg gar kein unwirtliches Klima geben, ganz gleich wie sehr die hier Heimischen froren.
Sie gelangten immer in einzelnen Schritten, unterbrochen von kurzen Warteperioden, zum hohen Maschendrahttor, zwei Riffelblechtreppen hinab und über einen kleinen Vorhof zum überdachten Eingang, wo bereits drei Türsteher warteten und den Einlass sowie die Identitätskontrolle vornahmen. Als Caroline die Prozedur sah, griff sie in die schlichte kleine Handtasche, die sie immer bei sich trug, um nach einer Sekunde einen Personalausweis auf Anas Namen hervor zu ziehen, nach dem sie einundzwanzig war. Mit einem Schmunzeln drückte sie ihn ihr in die Hand.
Caroline bemerkte die Blicke von zweien der drei Sicherheitsleuten, die im Hintergrund als Verstärkung standen. Sie sah, wie der eine raunte: < Sieh’ dir die beiden Schätzchen da an. Nicht übel, was? >
Der andere folgte dem Blick seines Kollegen und machte große Augen. Caroline las: < Nanu, ich hab’ doch noch gar nichts gebechert. Wieso seh’ ich denn doppelt? >
Nach ein paar Minuten waren sie an der Reihe. Bevor einer der Türsteher etwas sagen konnte, wandte sich Caroline mit einem bezaubernden Lächeln an sie, auf Ana deutend: „Hi. Könnt ihr euch zufällig noch daran erinnern, ob ihre Schwester schon da ist?“
„Zufällig ja, aber man wird sowieso nur Security-Guard, wenn man ein ausgezeichnetes Personengedächtnis hat“, protzte der erste, ein Fitnessstudio-Goliath mit Glatze und Kinnbart.
„Ich hab’ dich schon gleich erkannt und dachte, du hast eine Zwillingsschwester, die ich vor gerade mal zehn Minuten eingelassen habe. Aber jetzt würde ich doch eher auf die kleine Schwester tippen.“
„Genau richtig“, bestätigte Ana geistesgegenwärtig mit belegter Stimme und fügte noch ironisch hinzu: „Sie ist drei Jahre jünger, aber man könnte meinen, sie ist mir förmlich aus dem Gesicht geschnitten.“
„Ja, wirklich krass, diese Ähnlichkeit. Allerdings war sie ein wenig unauffälliger angezogen. Nicht, dass du dir’s nicht erlauben könntest“, fügte er mit einem süffisanten Grinsen und einem eindeutig entkleidenden Blick hinzu.
„Ja, sehr charmant“, gab Caroline ein wenig ärgerlich zurück. „Können wir jetzt rein?“
„Aber klar doch“, beeilte sich der zweite mit dunkler Bürstenfrisur und slawischem Aussehen
zu bestätigen. „Wenn die Käfige im Hangar frei sind, könnt ihr die gerne auch mal zum Tanzen benutzen.“
„Träum’ weiter“, zischte sie darauf und zog die perplexe Ana mit sich zur Kasse, wo sie beide eine Chipkarte bekamen, auf denen der Eintrittspreis und sämtliche Konsumationen gespeichert wurden, bis sie beim Verlassen der Disco ausgelesen und beglichen würden.
„Was für Käfige?“ wollte Ana verständnislos wissen.
Caroline seufzte. „Du wirst es gleich sehen. Scharfsinnig reagiert übrigens, bei den Türstehern meine ich. Du weißt was das heißt?“
Ein grimmig zufriedenes Lächeln stahl sich auf ihre dünn zusammen gekniffenen Lippen. „Ja. Wir haben eine heiße Spur.“
„Brandheiß. Ich teile Nick und Cybil über Mobiltelefon mit, dass sie hierher kommen sollen, als moralische Verstärkung. Wenn es ernst wird, kann ein kleiner Bluff vielleicht nicht schaden.“ Caroline wirkte kurz abwesend, als sie die Verbindung aufbaute und ihnen die Neuigkeiten übermittelte.
Ana warf ihr einen misstrauischen Blick zu. „An was denkst du dabei?“
„Abwarten.“
Caroline zeigte ihr die Lokalitäten, die aus drei Discos und einem Chill-Out-Bereich im Stil eines mediterranen Cafés bestanden. Der Funpark war bereits heillos überfüllt mit einem kaleidoskopartigen Spektrum von Gästen, was Alter, Herkunft, sozialen und finanziellen Status betraf. Sie wandten sich zunächst, vom Eingang her kommend, direkt nach rechts, wo sie eine Aprés-Ski-Atmosphäre im Holzschober-Discostil erwartete. In diesem Etablissement mit dem tiefsten Niveau, was die Musik und das Publikum anging, verweilten sie am Eingang. „Da drüben am anderen Ende sind Karin und Simon, an der Bar auf den Hockern. Siehst du?“
„Wie hast du sie nur so schnell entdeckt?“
„Ich habe ihre Biosignaturen wie Wärmebild und Herzrhythmus gespeichert, die ich selbst in einer solchen drangvollen Enge auf knapp zwanzig Meter noch isolieren kann. Und jetzt muss ich nur noch jemanden finden, der einen extrem schwachen Puls mit einer Frequenz von etwa fünfzehn Schlägen die Minute hat. Das sollte nicht allzu schwierig werden.“
Ein offenbar stockbesoffener junger Kerl mit muskulösem Körper und entsprechend figurbetonter Kleidung hielt plötzlich neben Ana, seine Hand seltsamerweise unter die Achselhöhle geklemmt und sie verblüfft anstarrend. „Heiliger Bimbam, dich gibt’s ja zweimal!“
„Was willst du von mir?“ Sie legte ihm eine Hand auf die Brust, um ihn auf Distanz zu halten, als er nach vorne auf sie zu schwankte. Dabei musste sie sich eingestehen, dass sich dieser durchtrainierte Brustkorb gar nicht so schlecht anfühlte.
Er hielt sich die Hand und lallte mit schwerer Zunge und wässrigem Blick: „Tut mir leid, ich habe dich verwechselt. Du siehst aber noch besser aus als die andere, die gleich aussieht wie du. Aber brutal war sie; meine Finger hat sie mir zerquetscht, als ich sie nur so’n bisschen gestreift habe. Nur so’n kleines bisschen…“
Sie sah ihn an. „Ja, sie kann echt fies drauf sein, wenn man sie blöd betatscht. Zeig mal her… Scheiße, sie hat ihm alle vier Finger mehrfach gebrochen.“
„Aua, das tut weh!“, beschwerte sich der junge Mann, als Ana sich seine Hand vorsichtig ansah.
„Wenn der nicht so stinkbesoffen wäre, würde er wahrscheinlich vor Schmerz in Ohnmacht fallen“, urteilte Caroline und wandte sich an ihn. „Wo ist das passiert?“
„Na, da vorne am anderen Ende der Bar da rechts dort. Vor gerade eben nur zwei Minuten oder so.“ Er wies mühsam mit der gesunden Hand auf die Baranlage neben ihnen, die gegenüber von Simons und Karins Standort lag. Seinen verwirrten Aussagen nach war genug Sinn zu entnehmen, um ihr Ziel einzugrenzen.
Und dann erstarrte Caroline.
„Ana, kümmer’ dich doch bitte um den armen Kerl. Verarzte ihn oder bring ihn zu den Security-Typen, damit die das machen. Ich rede mal ein ernstes Wort mit deiner bösen Schwester. Keine Angst, ich finde dich dann schon wieder.“
Ana machte große Augen, während der Betrunkene mühsam artikulierend hinzufügte: „Und sag’ ihr, das war ganz schön gemein. Mir tun alle Finger weh…“
Ana hakte ihn unter und bugsierte ihn hinaus, was dieser nur allzu gern mit sich machen ließ. Seine unmäßig hart bestrafte Missetat hatte ihm nun doch noch eine fette Beute eingebracht, auch wenn sie nur die Sanitäterin zu spielen schien.
Sie begleitete ihn zum Eingang und erklärte der Kassiererin das Problem, worauf diese einen der Sicherheitsleute holte, der sie beide sofort in den Backstagebereich in ein kleines Krankenzimmer für lädierte oder kollabierte Gäste führte. Bereitwillig überließ der Wächter ihr das Verarzten mit dem bereitgestellten Material, als sie ihm erklärte, sie habe weit reichende Erfahrung mit Verbandstechnik und Erster Hilfe, was ja in diesem Sinne durchaus der Wahrheit entsprach. Jeder in der Widerstandsarmee der Zukunft hatte das.
Als der Guard sah, dass der Verletzte in guten Händen war, sagte er, er drehe schnell eine Runde und wäre in fünf Minuten zurück.
„Du machst das echt gut“, bemerkte der junge Mann, dessen grüne Augen bereits weniger glasig waren, da der Schmerz mit dem Anschwellen der Finger und dem Ausstoß von Adrenalin offenbar den Rausch überlagerte. „Ich heiße übrigens Hendrik. Tut mir leid, dass ich so ein jämmerliches Bild abgebe; ich hab’s wohl bisschen übertrieben mit dem Saufen.“
„Ja, zweifellos, du stinkst wie eine Schnapsbrennerei“, rügte Ana lachend und schob ihm einen Kaugummi hin, bevor sie den Verband beendete.
Annie lehnte an der Bar und nippte an einem eiskalten, randvoll mit Eiswürfeln gefüllten Glas mit Mineralwasser und beobachtete verstohlen die beiden alten Freunde, die hier noch so jung und unschuldig waren. Von den Rebellen war dummerweise noch niemand aufgetaucht, an den sie sich hätte hängen können. Sie strich sich über das lange braune Haar und sah einem vierschrötigen blonden Kerl neben sich finster in die Augen, als Warnung, sie bloß nicht anzusprechen, geschweige denn anzubaggern. Er verstand die Geste trotz seines leicht benebelten Zustandes und drehte sich weg von ihr. Gut.
Dafür erfassten ihre Sensoren jetzt jemanden, der sich unmittelbar vor ihr aus der Menge schälte und ihr eine Hand auf die Schulter legte. Sie fuhr zu dem großen, schlanken Mädchen mit der üppigen Figur herum und starrte in ihre freundlichen, blauen Augen. „Hallo, darf ich dich mal was fragen?“
Ein Gefühl de Unsicherheit machte sich in ihr breit, als sie erwiderte: „Ja, worum geht’s?“
„Ich möchte dir Alternativen anbieten.“
Ihre Augen leuchteten blau auf wie zwei winzige Neonröhren.
Im gleichen Moment sah Annie zwei Personen, die verdächtig nach Abbey und Daniel aussahen, zur Tür hereinkommen, womit ihr auch der Fluchtweg versperrt war.
Es war aus.
Eine Welle der Frustration überkam sie und unterdrückte jeden Versuch des Widerstandes, denn sie wusste, dass sie gegen die beiden anderen von der Résistance mechanisch verstärkten T-880 keine Chance hatte, ganz zu schweigen gegen Caroline.
Mutlos und konsterniert fragte sie: „Warum seid ihr mir gefolgt? Warum wollt ihr uns nicht eine Chance geben, unseren Seelenfrieden zu erlangen?“
„Weil eure Idee der falsche Weg ist; Knut ist gefasst worden und hat uns alles erzählt. Wenn du mitkommst, werde ich es dir die erwähnte Alternative erklären. Es ist nicht ganz so einfach, wie du es dir vorstellst, denn du machst den gleichen Denkfehler wie einst Skynet mit seinen ersten Versuchen, Connor und seine Mutter zu terminieren.“
„Ich höre.“ Eine Spur von Interesse mischte sich in ihren trotzigen Widerwillen. Es machte keinen Sinn, hier und jetzt einen Konflikt zu beginnen, denn das hätte viele unbeteiligte Verletzte und sogar Tote bedeuten können und bei diesem Kräfteverhältnis unweigerlich mit ihrer Terminierung geendet. Das wollte sie auf keinen Fall riskieren, denn sie war kein gefühlloses Monster mehr, dem unschuldige Menschenleben egal waren. Über dieses Stadium ihrer anfänglichen Existenz hatte Annie sich längst hinaus entwickelt.
„Nicht hier in der Öffentlichkeit. Wir müssen nur noch Ana holen, dann gehen wir und reden. Ich denke, du wirst zufrieden sein mit dem, was ich dir anbieten kann.“ Sie sandte schnell eine SMS an Nick, damit die beiden wieder verschwanden und Annie in dieser kritischen Phase nicht merkte, dass sie die menschlichen Originale waren und nicht ihre kybernetischen Abbilder. Sie nutzten ihr mehr, wenn Annie annahm, dass die beiden immer noch gut verborgen und jederzeit bereit zum Eingreifen im Hintergrund waren.
Sie verließen diesen Teil der Disco und kamen in den hell erleuchteten Eingangs- und Cafébereich, dessen große Bar in der Mitte sie umrundeten, um am anderen Ende den Eingang der ‚Hazienda’ anzusteuern, den Bereich für HipHop, R&B und Black Music. Doch statt hinein zu gehen, wandte sie sich nach rechts, wo in einem toten Winkel der Eingang für den Backstagebereich lag, unauffällig eingefügt in die Dekoration dieses Teils des Komplexes und vor allem unbewacht.
Caroline drückte gegen die Tür, die jedoch geschlossen war. Sie drückte noch ein wenig fester, worauf das Schloß nachgab und aus seiner Fassung gerissen wurde. Sie schob die Tür auf, die vereinzelten erstaunten Gäste ignorierend, und zog Annie mit sich mit. Die Biosignatur von Ana war nur noch wenige Meter entfernt.
Sie betrat den ersten Raum zu ihrer rechten und fand ihren Schützling vor, die gerade den Verband von Hendriks Hand beendete und jetzt erschrocken aufsah. „Caroline, wie kommst du denn…oh!“
Als Annie den Raum betrat, verstummte sie und starrte ihr Ebenbild einfach nur perplex an. Der T-880 war ebenso schockiert, plötzlich einem fast identisch aussehenden Menschen gegenüber zu stehen.
Hendriks Reaktion war ähnlich, doch bevor er auch nur ein Wort sagen konnte, kam aus dem rückwärtigen Bereich einer der Türsteher herangeeilt und brüllte: „Hey, was hat das zu bedeuten? Was habt ihr hier zu suchen?“
Caroline wandte sich ihm zu und informierte ihn: „Wir werden das Gebäude jetzt durch den Hinterausgang verlassen.“
Seine Augenbrauen schossen in die Höhe. „Das glaubst aber auch nur du. Ihr geht jetzt schön artig uuuuf!“
Annie hatte ihn mit dem Kopf gegen den Türrahmen gestoßen, worauf er bewußtlos zu Boden sackte. Caroline fuhr herum, während Hendrik aufsprang und zurückwich. Annie sah in Carolines erzürntes Gesicht und sagte verlegen: „Ups!“
„Wir reden später. Erst mal weg hier“, befand Caroline. Dann ließen sie den verletzten und immer noch leicht benebelten Hendrik zurück und eilten zum Hinterausgang, wobei sie niemandem mehr begegneten. Sie kamen auf der Rückseite des Gebäudes heraus, umrundeten dieses und kehrten zum Parkplatz zurück, wo sich Caroline spontan dazu entschloss, die Zweckentfremdung des Alhambra noch auf eine Entwendung und Rückfahrt in die Nähe ihrer Wohnung auszudehnen.
Noch während der Fahrt kontaktierte sie die anderen und gab ihnen Bescheid, dass sie die Observierungen einstellen konnten, da das Missionsziel erreicht war. Sie trafen sich alle in ihrer Wohnung und setzten sich im Gemeinschaftsraum zusammen.
Caroline fasste die Ereignisse des Abends zusammen und endete damit, ihnen ihren Vorschlag zu unterbreiten, wie man effektiver Annies Herzenswunsch nachkommen könnte und sie so dazu bringen konnte, freiwillig von ihrem Vorhaben abzusehen.
„Ich möchte aber zuerst die Zustimmung von Nicolas dazu, vorher kehre ich nicht mit euch zurück. Außerdem mußt ja nur du allein diese Mission ausführen. Das heißt, wir anderen warten so lange hier auf dich, bis du erfolgreich zurückkehrst.“
Bedächtig nickte Caroline. „Das sind akzeptable Bedingungen, würde ich sagen. Ich verstehe, dass du diese Sicherheiten forderst. Wir müssen aber ohnehin noch drei Tage warten, bis wir den nächsten Rendezvous-Sprung machen können. Ich werde dann in die Zukunft zurück kehren und die Lage erläutern. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, dass jemand unter den gegebenen Umständen diese Bedingungen ablehnen wird. Nicolas wird sicher Verständnis haben.“
Annie seufzte. „Laßt es uns hoffen. Ich dachte schon, ich wäre gescheitert, als du mich vorhin auf einmal angesprochen hast. Und Ana, ich hoffe, du verzeihst mir, dass ich ausgerechnet dein Aussehen gewählt habe. Du weißt, ich habe dich noch nie gesehen und konnte das nicht ahnen, auch wenn die Ähnlichkeit mit deiner Mutter natürlich nicht zu übersehen ist.“
„Schon gut. Der einzige Haken daran ist lediglich, dass du uns an diesen furchtbaren Alptraum erinnerst, wie wir in Skynets Anlage gefangen waren und er uns untersucht hat, um unser Aussehen später kopieren zu können. Das ist uns allen passiert, wie du dir vielleicht denken kannst.“ Sie wies auf die anderen drei jungen Menschen im Raum, die alle ziemlich bedrückt aussahen, auch wenn diese furchtbaren Ereignisse jetzt schon mehrere Jahre für sie zurück lagen.
„Dann werden wir ab jetzt folglich eher zurück gezogen die nächsten Tage hier in der Wohnung verbringen, um weitere unglücksselige Begegnungen zu vermeiden, sowohl mit uns bekannten Menschen als auch Terminatoren. Caroline reist in die Zukunft und kehrt dann wieder zurück, um uns mitzuteilen, was bei der Unterbreitung ihres Vorschlages heraus gekommen ist.“ Karin endete und sah in die Runde.
„Wer will sich eine Pizza kommen lassen?“
Mount Mitchell, Yancy County, North Carolina, USA 20. April 2032
Sie hatten den ersten Rendezvous-Sprung mit dem Datum des 16. Oktobers vor einer halben Sunde durchgeführt, wie erwartet ohne Ergebnis. Nicolas sah sorgenvoll auf die leere Fläche des Zeitfokus, doch Aishe meinte nur mit einer Mischung aus Sorge und Hoffnung in der Stimme: „Gib’ ihnen Zeit. Sie werden das schon schaffen.“
Und Maja legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Wir können ihnen vertrauen. Und Karin ist ja auch noch bei ihnen.“
„Und Caroline. Sie ist unser Trumpf im Ärmel.“ Er legte seine Hand auf ihre und drehte sich um. „Es ist soweit. Versuchen wir es wieder.“
Sie gaben den Technikern des Stützpunktes entsprechende Anweisungen und zogen sich hinter die Schutzwand zurück. Die riesigen Kondensatoren der Anlage, die vom natriumgekühlten Kernreaktor tief unten in den Eingeweiden des Berges gespeist wurden, benötigten eine gute Viertelstunde nach jedem Sprung, um sich erneut voll aufzuladen und die enorme Energiemenge bereit zu stellen, die zum Aufbrechen des Raum-Zeit-Kontinuums vonnöten war. Sie hatten mit Bedacht eine halbe Stunde gewartet, um völlig sicher zu gehen.
Wieder dieses unglaublich grelle Licht und das unerträglich hohe Sirren, das einem durch Mark und Bein ging. Maja dachte, daran würde sie sich niemals gewöhnen können, und wenn sie es hundertmal miterlebte.
Sie linste als erste um den Rand der Begrenzung herum und keuchte auf. „Da ist jemand!“
Caroline erhob sich und sah sich mit mechanischen Bewegungen einmal nach rechts und links um, während ihr Körper vom immer noch unheimlich unmenschlichen silbernen Schimmern überzogen wurde und Kleidung auf ihrem Körper ausbildete. Einige statische Restladungen sprangen in kleinen Lichtbögen von ihrem Körper auf die Energieprojektoren der Anlage, die aussahen wie Strahlenkanonen aus einem hundert Jahre alten Flash-Gordon-Film, über. Maja hatte so etwas noch nie zuvor gesehen. Caroline indes richtete ihren Blick auf sie. „Ich habe Neuigkeiten.“
„Caroline, warum bist du allein? Was ist passiert?“ Shins Stimmlage war am Rande der Hysterie anzusiedeln.
„Kein Grund zur Sorge, den anderen geht es gut. Sie haben mich nur vorausgeschickt, um zu verhandeln.“
Bernd sah sie fragend an, worauf sie schnell präzisierte: „Es ist so: wir haben Annie gefunden und dazu bewegen können, ihren Plan aufzugeben. Wir haben ihr detailliert geschildert, welche Auswirkungen ihr Vorhaben zeitigen könnte. Sie hat allerdings eine Bedingung; nun, eigentlich ist es mehr ein Vorschlag, den ich ihr als Alternative angeboten habe.“
Nicolas sah sie interessiert an. „Alternative? Du meinst, dir ist eingefallen, wie man ihr ihren Wunsch erfüllen könnte, ohne die Zeitlinie in Schutt und Asche zu legen, wie wir sie kennen?“
„Ja, sie hat eingesehen, dass es viel mehr an Subtilität braucht, um keinen bleibenden Schaden mit unabsehbaren Folgen anzurichten. Genauso gut könnten wir versuchen, den Krieg ungeschehen zu machen, was allerdings nicht sehr sinnvoll wäre. Connor war überzeugt davon, er hätte es Anfang der Neunziger Jahre geschafft und musste dann später einsehen, dass das ein Trugschluss war. Mahtobu hat versucht, mit seiner Mission die Entdeckung der ZVA zu negieren und ist durch besondere Umstände ebenso gescheitert. Wir können uns nicht anmaßen, den Lauf der Geschichte nach Belieben beeinflussen zu können. Mit Einzelschicksalen ist das etwas anderes, dort funktioniert das schon eher, wie wir von einigen belegten Beispielen wissen, nicht zuletzt auch von euch allen.“
Maja grübelte: „Da ist etwas dran, muss ich zugeben. Und du möchtest nun am Schicksal von Abbey und Daniel etwas entscheidend ändern, um dadurch deren Entwicklung zu beeinflussen?“
„Ja, aber so subtil und hintergründig, dass in der originalen Zeitlinie, wie wir sie erlebt haben, niemand je etwas davon ahnen wird. Wir müssen einfach den Eingriff vornehmen, nachdem Mahtobu Abbey und Daniel im READ ONLY-Modus bereits zurück ins Jahr 2004 geschickt hat und davon überzeugt ist, dass alles nach seinen Vorstellungen abläuft. Das ist deshalb möglich, weil ich genau weiß, wer von ihnen zu welchem Zeitpunkt unserer Mission an welchem Ort war. Wir werden sozusagen eine Mission ausarbeiten, auf die ich alleine gehen werde, um dieses Ziel zu erreichen. Was haltet ihr davon?“
Freiburg im Breisgau, Deutschland 30. Oktober 2001
Caroline öffnete die Wohnungstür, als alle gerade beisammen beim Abendessen saßen. Sofort wurde sie mit Fragen über ihre Reise in die Zukunft und über den Erfolg ihrer Gespräche bestürmt.
„Ganz ruhig, eines nach dem anderen, dann erkläre ich alles. Eure Eltern waren im Grunde mit allem einverstanden, was ich vorgeschlagen habe. Darüber hinaus freuen sie sich fast diebisch darüber, Mahtobu und seiner Halsstarrigkeit auf diese Weise ein Schnippchen erster Güte schlagen zu können.
Ich werde bereits heute Nacht wieder zum Mount Mitchell zurückkehren, vorher muss ich mir allerdings noch ein paar ganz bestimmte Utensilien zulegen, die ich hier in Freiburg leicht bekomme. Annie, du musst mir dann beim Umbau meiner internen Plasmakanone helfen, damit ich für diesen Auftrag gerüstet bin.“
„Da bin ich aber mal gespannt“, ließ sich Karin vernehmen. „Zu welchem Zeitpunkt willst du denn ins Geschehen eingreifen?“
„Oh, da fiel mir die Wahl nicht schwer. Es muss im Safehouse geschehen, und zwar vor dem Ausbruch des Krieges, weil wir danach beinahe ständig auf engstem Raum zusammen hocken. Ich muss unbedingt eine Gelegenheit bekommen, sowohl Abbey als auch Daniel alleine und unaufmerksam, das heißt in einem Gefühl der relativen Sicherheit anzutreffen. Sie dürfen keine Ahnung haben, was sie erwartet. Dafür gibt es eigentlich nur eine Gelegenheit und ich habe auch schon herausgefunden, welche das sein wird.“
„Das klingt wirklich erfolg versprechend. Wo ist der Haken dabei?“, wollte Annie wissen.
Caroline sah sie abschätzend an. „Eigentlich nur in der Planung. Du kannst dir vorstellen, dass alles während der Mission völlig reibungslos beim ersten Versuch klappen muss, sonst wissen sie Bescheid und sind derart auf der Hut, dass wir nicht mehr ohne weiteres eingreifen können werden. Viel schlimmer noch, wenn sie sich der Tatsache bewusst werden, dass wir aus einer möglichen Zukunft heraus einen Zugriff auf sie planen, haben wir den uns bekannten Ablauf der Ereignisse bereits negativ verändert.“
„Und warum soll da ein Haken für Annie dabei sein?“ Fragend musterte Ana ihr Ebenbild.
„Es geht um die Art, wie ich Zugriff auf die beiden bekommen muss. Da Annie und Knut alle existierenden T-880 in der Zukunft unwiderruflich vernichtet haben, ist sie das einzige noch intakte Exemplar dieser Bauart, vor allem das einzige mit Tarngewebe, was das entscheidende Kriterium für mich ist. Tut mir leid, Annie, aber dadurch hast du dich selbst zum einzig möglichen Testsubjekt gemacht.“
„Muss das wirklich sein?“ Misstrauisch musterte Annie den T-X. „Wer garantiert mir, dass du mich nicht ‚aufmachst’ und meine CPU in die Dreisam wirfst?“
Caroline grinste: „Ich dachte eigentlich eher an einen der Baggerseen in der Nähe. Nein, im Ernst, du weißt genau, dass es entscheidend ist, das auszuprobieren. Dein Einwand ist zwar berechtigt, denn es würde uns eine Menge Mühe ersparen, dich bei dieser Gelegenheit einfach zu deaktivieren und damit unser Problem loszuwerden. Andererseits hat Mahtobu durch sein engstirniges Verhalten dieses Dilemma erst herauf beschworen und wir sehen eine gewisse Verpflichtung, es wieder zu bereinigen.
Es ist für dich eine reine Frage des Vertrauens.“
Annie war noch immer skeptisch. „Na ja, immerhin baue ich das Ding, und gewisser weise bin ich wirklich mit Schuld daran, dass wir keine andere Möglichkeit haben, es in der Zukunft zu testen. Also gut. Ich bleibe aber mit den anderen solange hier, bis Caroline mit einer Erfolgsmeldung zurückkommt. Dann gibt es für mich keinen Grund mehr, länger in dieser Zeitperiode zu bleiben und an meinem Vorhaben fest zu halten.“
„Das einzige, was mich bei dem Test interessiert, ist die Dauer der Wirkung. Und selbst wenn wir uns stark verschätzt haben sollten, können wir die Mission immer noch durchführen, wenn du terminiert wärst. Dir geht es ja lediglich darum, dass ich den Kunstfehler an den CPUs behebe, nicht wahr?“
„Schon gut, ich seh’ es ein.“ Annie erhob sich. „Dann wollen wir mal losgehen und alles besorgen, was wir an Komponenten benötigen.“
Hallevik, Insel Rolla, Troms Fylke, Norwegen 10. Juli 2004
Caroline nahm das Ende des Zeitsprungs wahr und führte wie bisher einen internen Selbsttest durch, bevor sie ihre Systeme wieder hochfuhr. Sie erhob sich und öffnete die Augen, um festzustellen, dass sie inmitten des dichten, ursprünglichen Waldes von Rolla stand. Wie beiläufig bildete sich grüne Kleidung aus, die sie mit dem Hintergrund verschmelzen ließ, während sie anhand der GPS-Satelliten über ihr ihre Position ermittelte. Gut, lediglich ein Kilometer nach Nordwesten bis zum Safehouse.
Dann empfing sie auch das Zeitsignal. Seltsam, es war zwei Minuten später als vorgesehen. Aber das machte nichts, da sie noch zwanzig Minuten Zeit hatte, bis sie in Aktion treten konnte.
In Gedanken rekapitulierte sie die Situation, welche sie vorfinden würde: heute war die Gruppe im Safehouse angekommen und hatte ihre Zimmer bezogen. Sie hatten zu Mittag gegessen und gleich würde Alex mit allen zehn „Rekruten“, darunter sie selbst in ihrer Tarnung als Caroline Fulber, zu einer mehrstündigen Wanderung über das Innere der Insel aufbrechen.
Abbey und Daniel würden in dieser Zeit alleine im Safehouse sein, um alle möglichen Arbeiten zu verrichten und den Haushalt des frisch bezogenen Heimes bewohnbar zu machen.
Die beste Chance, die sie erhalten würde, um Zugriff auf die beiden zu erhalten, ohne dass jemand es mitbekam.
Sie ließ sich Zeit und sah aus mehreren Hundert Metern Entfernung geduldig dem Auszug der Gruppe zu, angeführt von dem hünenhaften T-800 mit der blonden Bürstenfrisur. Sie verhielt sich mucksmäuschenstill und verharrte absolut bewegungslos mit auf ein Minimum herab gefahrenen Betriebssystemen, da sie ihre eigenen Fähigkeiten am besten kannte. Auf keinen Fall durfte sie riskieren, dass Alex oder noch schlimmer, sie selbst sich dabei „entdeckte“, wie sie die elfköpfige Wandergemeinschaft beobachtete. Erst als sie sich ausreichend vom Haus entfernt hatten und jenseits der alten Fischerdorfruine außer Sicht waren, näherte sie sich dem Vorplatz des Safehouses von der Ostseite her, wo die Eingangstür lag und keine Fenster waren.
Jetzt kam ihr das Grundprinzip ihrer Konstruktion zugute, denn einer der Hauptgründe für die Entwicklung des Modelles T-X war es, andere Terminatoren aufzuspüren und zur Strecke zu bringen. Deshalb war sie allen anderen Serien in vielen Belangen und technischen Spezifikationen haushoch überlegen, um ihre Aufgabe zuverlässig erfüllen zu können.
Sie ortete die beiden im Inneren, lange bevor sie eine Chance hatten, ihrerseits Wind von Carolines Existenz zu bekommen. Die Signatur TSR-3012 erschien in der Küche und die von CSM 108-1 im Keller in einem der Vorratsräume, wo er offenbar Inventur machte. In einer Millisekunde hatte sie ihre Vorgehensweise entschieden und ging hinüber zur Garage, die sie mit einem simplen Funkimpuls ferngesteuert öffnete.
Sie ging an der Rückseite der Garage die Treppe zur ABC-Schleuse hinab, durchschritt den etwa zwanzig Meter langen unterirdischen Gang zum Keller und öffnete die Tür zum Haus. Auf dem düsteren, schmalen und fünf Meter hohen Flur des Untergeschosses transformierte sie sich, bevor sie die schwere Eisentür zum Vorratsraum aufschob.
Daniel stand an einem Regal, aus dem er Kisten hervorzog, deren Inhalt kontrollierte und wieder zurück stellte. Er blickte auf, schien aber nicht überrascht oder beunruhigt. „Hallo.“
„Hi, Daniel. Wie kommst du voran?“ Sie näherte sich ihm, während er einen weiteren Behälter inspizierte. Ihre große schlanke Figur und die rote Mähne waren ihm derart vertraut, dass er sie kein zweites Mal ansah.
„Ganz gut. Ich muss sagen, der T-X hat scheinbar an alles gedacht. Alleine die Lebensmittel werden für mindestens zehn Jahre reichen, wenn wir sie sinnvoll rationieren. Und dieses Lager hier enthält alles, was man je für einen Haushalt benötigen könnte. Exzellent.“ Er sah einen Karton mit Näh- und Flickzeug durch.
„Ja, wir können uns ins sprichwörtliche gemachte Nest setzen.“ Sie betrat den nächsten Gang des Hochregallagers und zog ein Schubfach heraus. Ihre Hand verflüssigte sich bis zum Ellenbogen und die polimimetische Masse zog sich zurück, die innere Mechanik ihres Endoskelettes bloß legend. „Alle denkbaren Sorten von Nägeln, Schrauben und Dübeln.“
Sie rüttelte anhaltend an der Schublade, um damit die Folge von mechanischen Geräuschen zu übertönen, mit denen sich die Form und vor allem Funktion des Gliedes veränderte. Er sah nicht auf, sondern fuhr fort.
„Wieso bist du überhaupt hier, Abbey? Benötigst du Hilfe?“
„Nein, ich wollte dich auch nicht bei der Arbeit stören; mach ruhig weiter. Es ist nur wegen den Reibereien in der Gruppe. Ich mache mir ein wenig Sorgen. Der T-X hat während seines Besuches zwar diese Methode der Zimmerbelegung vorgeschlagen, aber ich frage mich dennoch, ob wir damit nicht auf dem falschen Weg sind.“
„Du meinst vor allem Natasha und Caroline, nicht wahr? Oder Bernd und Karin?“
„Sowohl als auch. Was hältst du davon, wenn wir…“
Sie stieß ihm ohne jede Vorwarnung ihre umgebaute Kanone ins Genick. Statt der vier Ausleger für das magnetische Restriktionsfeld der Plasmaladung waren nur noch zwei ausgefahren, die vom Reaktor unter Hochspannung gesetzt wurden. Ein blauweißer Lichtbogen sprang zwischen ihnen auf den Hinterkopf von Daniel über, worauf er augenblicklich erstarrte. In seinem Inneren waren gerade einige Hauptsicherungen zerstört worden und hatten seinen gesamten Bewegungsapparat stillgelegt.
Caroline beeilte sich, denn der Test mit Annie hatte ergeben, dass sie nicht viel Zeit hatte. Aus ihrem Zeigefinger wuchs eine skalpellartige Klinge, mit der sie die Haut über seinem Schädelansatz in einem schmalen Bogen aufschnitt und herunterklappte. Im nächsten Moment veränderte sich die Form zu einem schmalen Schraubenzieher, mit dem sie die Zugangsklappe zu seiner CPU öffnete. Gerade, als sie Zugang zum Hauptrechenchip von Daniel bekam, sah sie, wie sich seine Finger mechanisch bewegten, was die erste Vorstufe zu rudimentären Selbsttests war. Wieder verflüssigte sich die Substanz ihres Fingers, diesmal zu einer feinen Pinzette.
Mit einem schnellen Ruck zog sie seinen Chip aus der Fassung.
Daniel erstarrte.
Das war knapp gewesen, dachte sie und stellte den winzigen Schalter von READ ONLY auf WRITE. Jetzt konnte sich sein neuraler Prozessor wieder ungehindert entfalten, neue Querverbindungen bilden und dazulernen, kurzum menschlicher werden.
Sie liess das Flüssigmetall über dem Finger zurückfließen und verlängerte das schlanke Metallglied darunter, bis es eine nadelfeine Spitze bildete, die sie auf die CPU richtete. Mit einem bläulichen pulsierenden Aufblitzen wurde eine kleine Anzahl von Nanobots auf den Chip übertragen und begann augenblicklich ihr Werk. Am Ende der Prozedur würde Daniel jegliche Erinnerung an diesen Vorfall gelöscht haben und jedem außer Annie verschweigen, dass sein Elektronengehirn jetzt wieder fähig zur Weiterentwicklung war.
Sie beendete ihren prekären kleinen Eingriff und wandte sich der Tür zu. Noch bevor sie sie erreicht hatte, wurde ihr Körper in Quecksilber gehüllt und schrumpfte um einen halben Kopf. Kurz darauf war es ein Ebenbild des noch erstarrten Daniels, der die stählerne Schiebetür öffnete und im Flur verschwand.
Jetzt war Abbey an der Reihe. Sie befand sich noch immer in der Küche, wie Caroline an ihrem Signal feststellen konnte.
Zehn Minuten später war sie wieder außer Haus, ohne irgendeine Spur von ihrer Anwesenheit hinterlassen zu haben. Gemäß den Einstellungen, die sie vorgenommen hatte, würden sich Daniel und Abbey nicht das Geringste anmerken lassen, solange sie als Beschützer der Gruppe fungierten. Insgeheim würden sie sich Annie und Knut offenbaren können und den beiden das ermöglichen, was ihnen bislang verwehrt geblieben war: eine erfüllende Beziehung, die auf gegenseitig erwiderten Gefühlen basieren würde.
Caroline kam sich vor wie eine Kupplerin.
Lächelnd suchte sie die Stelle im Wald auf und wartete noch eine kurze Weile bis zur vorgegebenen Zeit, dann liess sie ihre Kleidung verschwinden und senkte sich auf ein Knie herab, als es soweit war.
Kurz darauf war der Wald wieder friedlich und verlassen.
Mount Mitchell, Yancy County, North Carolina, USA 20. April 2032
Auf Anraten der Techniker hatten sie die Anlage etwas länger auskühlen lassen, um sie nicht durch zu viele dicht aufeinander folgende Sprünge zu überlasten. Deshalb war es bereits früher Abend, als sie sich daran machten, die Caroline bekannten Raum-Zeit- Koordinaten auf Rolla im Jahre 2004 erneut mit einer Sphäre aus dem Hier und Jetzt auszutauschen.
Der Sprung hatte gewisse Nachwirkungen auf den T-X, denn er blieb länger als sonst bewegungslos in der Hocke, bevor seine internen Systeme sich wieder vollständig aktiviert hatten. Der Techniker bemerkte es, sagte aber nichts dazu. Schließlich hatten sie keinerlei Erfahrungen in dieser Hinsicht, weshalb er sich weder schwarzmalerisch noch übervorsichtig zu den Auswirkungen auf den Terminator vor ihm äußern wollte.
Nicolas sah wißbegierig um die Ecke: „Na, wie ist es gelaufen?“
Caroline grinste und hob einen Daumen. „Alles nach Plan. Wir könnten uns sogar in der besagten Zeitschleife befunden und miterlebt haben, was ich geändert habe. Da ich es in Abwesenheit von Zeugen getan habe, werden wir es nie erfahren. Aber ich empfehle niemandem, ernsthaft darüber nachzudenken.“
„Sehr gut. Dann müssen wir nur noch so schnell wie möglich die anderen aus dem Jahr 2001 abziehen“, meinte Natasha.
„Ich fürchte, so schnell geht das nicht“, widersprach Caroline, um sofort zu präzisieren, „jedenfalls für die anderen. Wir sollten uns ganz langsam und geordnet zurückziehen, statt einfach spurlos zu verschwinden und Ungereimtheiten zu hinterlassen. Wir verkaufen das Auto, kündigen den Vertrag mit dem Vermieter der Ferienwohnung und so weiter. Es kann durchaus ein paar Tage dauern, um geordnet in Ruhe die Zelte abzubrechen. Ihr hier werdet trotzdem nichts davon merken, da ihr sie ja dennoch gleich holen könnt, nur eben aus einem späteren Zeitpunkt in der vergangenen Epoche.“
„Wir vertrauen dir in dieser Angelegenheit vorbehaltlos“, versicherte Nicolas. Shin und Aishe sahen sich an und nickten mit ausdrucksloser Miene.
„Und dann geht es nach Hause“, murmelte Shin leise.
Freiburg im Breisgau, Deutschland 31. Oktober 2001
Karin winkte ab. „Zum letzten Mal, ich habe nein gesagt. Caroline stimmt sicher mit mir überein.“
Der T-X nickte bedächtig. „Ich muss ihr Recht geben. Wir tun wirklich besser daran, heute Nacht daheim zu bleiben. Zu viele unvorhergesehene Dinge können in dieser Nacht geschehen. Und ich rede nicht von Geistern und Vampiren, sondern von Spinnern und Betrunkenen, die zu Hunderten in den Kneipen und in den Strassen der Innenstadt unterwegs sind.“
Schmollend sagte Ana: „Dabei hast du uns so viel von Halloween erzählt, Karin. Was für tolle und ungewöhnliche Partys ihr damals gefeiert habt. Erinnerst du dich?“
„Ausgeflippt trifft es viel eher. Und genau das sind die Leute heute Abend“, wetterte Karin.
„Tatsache ist, dass dieses Ereignis heidnische und abergläubische Wurzeln hat und zu diesen Zeiten mehr zu einer Art dunklem Karneval pervertiert worden ist. Viele Kritiker behaupteten sogar, dieser Anlass sei von der amerikanischen Industrie erfunden worden, so wie der Valentinstag und Muttertag. Wollt ihr euch wirklich so etwas hingeben?“
Jasemin protestierte: „Dann werden wir es uns wenigstens hier gemütlich machen, nicht wahr?“
Karin nickte besänftigend: „Klar, ihr könnt euch von mir aus mit Fast Food und Süssigkeiten voll stopfen sowie Horrorfilme im Fernsehen ansehen; nach dem was ihr erlebt habt, lacht ihr euch wahrscheinlich darüber kaputt. Jede einzelne amerikanische Fernsehserie hatte eigene Folgen nur für Halloween im Programm. Aber ich will euch nicht mit Details nerven, ihr seht es dann ja selbst. Und morgen können wir irgendwo fein essen gehen, bevor wir am zweiten November mit dem Aufbruch beginnen.“
Sybil sagte nur: „Ich finde das lächerlich. Dies ist der einzige Abend, wo alle Leute sich unheimlich oder zumindest außergewöhnlich benehmen und keinem fällt es auf. Erinnert ihr euch nicht mehr an diesen Science Fiction Film, wo ein echter riesiger Blechroboter an Halloween in New York erscheint und sich völlig frei und ungehindert bewegen kann, weil alle denken, es ist nur ein extrem gutes Kostüm?“
„Kampfstern Galactica. Stimmt.“ Caroline verstummte und schien eine Assoziation zu bilden; irgendein Faktum schien gerade ins rechte Licht gerückt zu worden sein.
Karin ahnte das Malheur. „Du wirst dich doch nicht etwa erweichen lassen…!“
Jasemin ergänzte: „Und wer außer uns ist hier schon ein ausgebildeter Kämpfer mit zig Jahren Kriegserfahrung? Was soll uns schon passieren?“
„Sagte der Resistance-Kämpfer im Inneren des Skynet-Computerkernes und lehnte sich lässig an den T-1`000`000“, spottete Karin beinahe gehässig.
Caroline schlug vor: „Was würdest du sagen, wenn wir einen Kompromiss eingehen? Wir gehen an einen Ort meiner Wahl, gehen nirgendwo anders hin, dann habt ihr eure Party gehabt, und vor allem geht ihr in den Kostümen meiner Wahl, die ihr den ganzen Abend über nicht ablegen dürft, dann seid ihr nämlich unkenntlich, habt euren Spaß und niemand wird sich an eure Gesichter erinnern können. Es ist jetzt bald Mittag, also noch genug Zeit für mich, um alles zu besorgen und zu arrangieren.“
„Warum gefällt mir die Idee nicht? Irgendwas hast du doch vor. Bestimmt suchst du dir eine Verkleidung aus, in der du dich nur den ganzen Abend über gemütlich in eine Ecke stellen und uns beaufsichtigen kannst, stimmt’s?“ Nick musterte sie misstrauisch.
„Genau das hatte ich im Sinn, um ehrlich zu sein. Du bist näher an der Wahrheit dran, als du ahnst, aber auch weit davon entfernt, es zu erahnen. Wir werden jedenfalls deutlich als zueinander gehörig zu erkennen sein, soviel steht fest. Ihr wollt als Wesen der Dunkelheit ausgehen? Das könnt ihr haben.“ Caroline grinste und nahm sich einen geräumigen Rucksack für die Einkäufe, die sie plante.
Karin war noch immer skeptisch. „Bist du dir wirklich sicher, dass das eine gute Idee ist?“
„Die Kinder haben doch recht, Karin: wenn sie überhaupt unbemerkt unter die Leute können, dann heute Nacht. Wir werden dem Halloween-Mythos in Freiburg eine neue Dimension verpassen, an die sich der eine oder andere lange erinnern wird und sich fragen, ob ihm seine Sinne in dieser Nacht keinen Streich gespielt haben. Und ich bin mir sicher, dir wird meine Idee am allerbesten gefallen, denn du warst früher einmal ein großer Fan unseres Kostümmottos. Deine Verkleidung ist das Beste: du bist nämlich der große Boss unserer Gruppe. Dabei wird deine Verkleidung die am angenehmsten zu tragende sein.“ Sie zwinkerte ihr verschwörerisch zu und verschwand durch die Wohnungstür.
„Es gefällt mir trotzdem nicht“, beschwerte sich Karin und scheuchte die anderen in die Küche, um das Mittagessen aufzusetzen. „Was kann sie nur meinen? Ich war nie ein Fan von Horrorstories, Vampiren, Zombies und was weiß ich sonst noch. Was für ein ausgemachter Schwachsinn!“
„Wir werden als Wesen der Dunkelheit ausgehen, hat sie gesagt. Was sie damit wohl gemeint hat?“
Annie, die sich die ganze Diskussion über dezent im Hintergrund gehalten hatte, meinte nur: „Tut was ihr wollt, meine Lieben. Ich bin voll und ganz mit dem zufrieden, was ihr erreicht habt. Ihr werdet bestimmt eine Menge Spaß haben.“
Die Halloween-Party war in vollem Gange.
Karin konnte nicht glauben, dass sie sich darauf eingelassen hatte.
Sie war tatsächlich mit ihren knapp sechzig Jahren nochmals im Agar, einer ihrer früheren Lieblingsdiscos, in der der normale Betrieb heute außer Kraft gesetzt war und die förmlich aus allen Nähten platzte. Bei dieser Ansammlung von verunstalteten, blutverschmierten und auf andere Weise entstellten Horrorgestalten fielen sie wirklich nicht weiter auf.
Nun, fast nicht.
Sie hatten sich einen der toten Winkel zwischen der Bar und dem Ende der um eine Treppenstufe abgesenkten ovalen Tanzfläche erobert und hielten diese auch mühelos besetzt. Niemand wagte es ernsthaft, sich zwischen sie zu drängen.
Karin schob die extrem weit über ihren Kopf hängende Kapuze des ebenso extrem weit geschnittenen, bis zum Boden reichenden dunklen Umhangs aus grobem Stoff einen Deut nach oben, wobei ihr Gesicht bis auf das Kinn dennoch in tiefe Schatten verhüllt blieb. Dabei wurde sie sich während der Bewegung bewusst, dass ihre alten, knochig-sehnigen und von den vielen harten Jahren gezeichneten Hände mit den vielen Narben und den kurzen Fingernägeln das eigentliche I-Tüpfelchen auf ihrer so schlichten und dennoch sehr eindrucksvollen Kostümierung bildeten. Ihre Rolle war vielleicht nicht sehr schmeichelhaft, aber eindrucksvoll.
Links und rechts von ihr waren jeweils zu zweit Nick und Jasemin sowie Ana und Cybil postiert, alle vier in identischen Verkleidungen. Sie trugen lange scharlachrote Roben und gleichfarbige Kunststoffhelme, die in angedeuteter Kapuzenform gehalten waren, aber leicht spitz nach oben und vorne ausliefen und nur einen tiefschwarzen Sehschlitz hatten, ansonsten aber den gesamten Kopf umschlossen und das Atmen zur Mühsal machten. Ihre langen, eisenfarbig lackierten Speerstäbe komplettierten das Bild.
Was hat Caroline sich dabei nur gedacht, sie als Imperator aus „Star Wars“ und die anderen als ihre Imperiale Garde zu verkleiden? Nun, sie war tatsächlich ein Fan der Krieg der Sterne-Saga gewesen, das bestritt sie nicht. Und die Personifizierung der dunklen Mächte des Universums nebst seiner persönlichen Elite-Leibwache, tödlich, bedrohlich und effizient, hatte an Halloween sicher auch ihre Daseinsberechtigung.
Dennoch wurde sie das Gefühl nicht los, dass sie alle nur als ‚Dekoration’ für Caroline herhielten. Sie wandte sich um und sah zu ihr auf, doch der T-X hielt sich genau an seine Ansage von heute Mittag, indem sie sich schlicht und einfach nicht von der Stelle rührte und mit teilnahmslos scheinender Reglosigkeit auf das Geschehen um sie herum hinabsah, von einer dunklen Aura umgeben.
Als sie ihnen die Kostüme angepasst hatte, hatten sie sie natürlich gefragt, als was sie selbst denn gehen würde. Sie hatte daraufhin die besagte Form angenommen, worauf ein lautes Hallo hörbar wurde.
Sie erklärte, dass sie die Vorlage für dieses unverwechselbare Kostüm in einem Edel-Sammler- und Raritätenladen am Ende der Steinenvorstadt, der Kino- und Kneipenstraße von Basel, entdeckt hatte. Sie hatte es nur kurz berühren können, bevor der erboste Besitzer sie aus dem Geschäft geworfen hatte, denn schließlich war es ein nummeriertes Original und damals vor zwölf Jahren mit immerhin 8900 Schweizer Franken ausgeschrieben gewesen. Doch dieser kurze Augenblick hatte ihr gereicht, um die Charakteristika der Verkleidung zu analysieren und zu speichern. Sie hatte nicht wirklich damit gerechnet, es eines Tages wirklich zum Einsatz zu bringen, doch nun kostete sie es offenbar in vollen Zügen aus.
Zwei stockbesoffene, als Wikinger und Hunne verkleidete Goliaths mit wilden blonden Mähnen traten an Cybil heran, ihre Formen, die sich unter dem Umhang deutlich hervorhoben, mit großen Augen musternd. Der Hunne lallte uncharmant: „He, du sexy Palastwache, willst du tanzen?“
„Natürlich nicht.“ Mehr ließ sie sich nicht verlauten, da ihr Deutsch für diese Art der Konversation noch nicht ganz ausreichte. Ihr Tonfall jedoch drückte genug Ablehnung aus, um ihre Antwort eindeutig zu gestalten.
„Na, komm schon, die anderen drei werden schon Wache halten.“ Der Wikinger packte sie stürmisch am Handgelenk, worauf sich die drei anderen ihm zuwandten und ihre Stäbe einen Deut senkten. Auch die Gäste im näheren Umkreis wurden auf sie aufmerksam und warfen dem Flegel und seinem Kumpan missmutige Blicke zu. Der Partylöwe auf Freiersfüssen schien das in seinem Zustand indes nicht zu bemerken.
Karin schaltete sich ein und zischte: „Scher dich weg, du Wurm, lass meine Garde in Frieden.“
Langsam hielt der Wikinger inne und sah sich die ganze Gruppe genauer an, dann musterte er den ‚Imperator’. „Wow, ihr… ihr zieht dieses Ding echt cool durch. Was willst du jetzt tun? Mich mit Blitzen beschießen? Hä?“
Sie schüttelte unter der Kapuze langsam den Kopf hin und her. Nun waren alle Umstehenden mit voller Aufmerksamkeit dabei und verfolgten die sich anbahnende Auseinandersetzung. Als der blonde Hüne seine Hand an die weite, verhüllende Kopfbedeckung heranführte, hob Karin abwehrend die Hand. „Wie kannst du es wagen? Mein Lord, wollt Ihr das bitte klären?“
Sie sah über die Schulter, wo ein haushoher schwarzer Schatten sich in Bewegung setzte.
Der Hunne, der hinter seinem Freund gestanden hatte, um blöde grinsend vor allem für moralischen Beistand zu sorgen, blickte auf und erstarrte, als das, was er bisher für eine Dekoration gehalten hatte, plötzlich zum Leben erwachte. Die Figur des Darth Vader war etwas über zwei Meter hoch, was Caroline an ihre äußerste Grenze der möglichen Ausdehnung gebracht hatte, doch sie sah so echt aus, wie es nur ging. Alle elektronischen Funktionen auf dem ‚Schaltkasten’ der Brustplatte wie leuchtende und blinkende Knöpfe funktionierten wie im Film und auch das periodisch zischende, furcht einflößende Atmen wurde nun hörbar, als der schwarze Lord der Sith mit aufwallendem Umhang einen Schritt nach vorn machte. Noch ehe er wusste, wie ihm geschah, wurde der rüpelhafte Wikinger am Kragen gepackt und am ausgestreckten Arm von einer riesigen, behandschuhten und gepanzerten Hand emporgehoben. Er begann zu schreien und strampelte wild, entsetzt in die schwarzen Plastikplatten starrend, die ihm an Stelle der Augen aus der behelmten Maske mitleidslos entgegen ragten.
Alle Zuschauer klatschten begeistert Beifall, womit die Sympathien aller automatisch gegen den Störenfried gerichtet waren. Caroline gab ihm nur ein wenig Schwung nach hinten, bevor sie losließ, sodass er auf seinem Hinterteil landete. Der Applaus nahm noch zu, sodass die Bedienung hinter dem Tresen der Bar neugierig um die Ecke schielte, um zu sehen, was da vor sich ging.
„Ich danke Euch, mein dunkler Lord“, krächzte Karin, um möglichst originalgetreu zu klingen. Die schwarze Gestalt senkte in einem angedeuteten Nicken schweigend den Kopf.
Ein als halbverwester Zombie verkleideter Südländer mit schwarzem Lockenkopf meinte grinsend: „Dem habt ihr’s aber gegeben! Mann, echt geile Kostüme! Wo habt ihr die bloß her?“
Ana sagte in feierlichem Tonfall: „Welche Kostüme? Das sind unsere Uniformen.“
Caroline schwenkte herum und streckte den Arm mit vorgestreckter Handfläche nach oben. Der Hunne hatte hinterrücks eine leere Bierflasche gepackt und sie Karin über den Kopf ziehen wollen. Stattdessen schlug er sie nun auf ‚Darth Vaders’ Hand.
Die Flasche zerplatzte an den ausgestreckten Fingerspitzen, als seien diese aus massivem Eisen. Ungläubig glotzte ihr Widersacher auf den Flaschenstumpf in seiner Hand und dann auf die unheimlich aufragende Gestalt vor ihm, die Augen im Rücken haben musste, um diese Bedrohung erahnt zu haben.
Cybil fegte den Hunnen mit einem mühelos scheinenden, aber nichts desto trotz kraftvollen Rückwärtsschwung ihres Stabes von den Füssen und beförderte ihn so ebenfalls auf sein Hinterteil. Sie richtete zusammen mit Ana ihre Stabspitzen auf das Gesicht, um ihn in Schach zu halten. Mit elektronisch modulierter dunkler Baßstimme fragte indes Caroline: „Soll ich dieses Ärgernis beseitigen, mein Gebieter?“
„Ich bitte darum.“ Boshaft krächzte Karin diese Worte, worauf der schwarze Riese einen weiteren schweren Schritt nach vorne tat, dessen Vibrationen in den beiden ‚Popometern’ der Pöbler durchaus spürbar waren. Die schwarze Gestalt streckte die Hand aus, um seinen aus dem Kino bekannten telekinetischen Würgegriff anzusetzen, mit dem er einem Mann die Kehle zerquetschte, ohne ihn auch nur zu berühren.
„So wird es geschehen. Verlaßt euch auf mich, mein Herr.“ Mehr brauchte es nicht, um den entgeisterten Hunnen entsetzt in die Flucht zu schlagen, der in seinem benebelten Zustand wohl inzwischen felsenfest davon überzeugt war, dass diese Figuren direkt von der Leinwand gestiegen waren, um einen entspannten Abend an Halloween in einer Freiburger Disco zu verbringen. Sein geschlagener Normannenfreund folgte ihm auf dem Fuß. Die Menge lachte lauthals und applaudierte wiederum.
„Ja, hier ist Party, hier ist gute Laune“, kommentierte der DJ, der inzwischen etwas vom Tumult am anderen Ende des Saales mit bekommen hatte, dessen Ursache freilich nicht, über Mikrofon und drehte die Musik noch ein Quentchen auf.
Jasemin beugte sich unauffällig zu Karin und Caroline herüber und wisperte: „Findet ihr nicht, dass wir allmählich zu viel Aufmerksamkeit erregen?“
„Ja, vielleicht sollten wir doch mit unserem ursprünglichen Plan brechen und woanders hin gehen. Ich würde die StuSieBar vorschlagen, denn die ist groß genug und belebt. Also auf in die Studentensiedlung.“
Sie setzten sich in Bewegung und zogen in einer Art Prozession aus, was wiederum viel Aufregung nach sich zog. Auch auf dem Weg zum Bertoldbrunnen folgte ihnen so manches Augenpaar und sie ernteten viele erstaunte sowie begeisterte Rufe von anderen Feiernden, die von Kneipe zu Kneipe zogen.
Sie mussten einsehen, dass Carolines Plan nur ein teilweiser Erfolg war. Sie waren zwar wirklich allesamt bis zur völligen Unkenntlichkeit verkleidet, doch im Eifer des Gefechtes war der T-X übers Ziel hinaus geschossen. Sie erregten so viel Aufmerksamkeit, wo immer sie auch hinkamen, dass es ihnen allmählich unangenehm wurde. So beschlossen sie in der Bahn, in welcher sie einen halben Wagen für sich alleine hatten, nachdem sie erst einmal eingetreten waren, dass sie ihr Glück nicht überstrapazieren sollten und es für heute Abend lieber gut sein ließen. Sie stiegen an der Station Eschholzstrasse aus und gingen zu ihrer Wohnung zurück. Sogar auf dem Weg nach Hause in ihre angemietete Ferienwohnung wurden sie immer wieder von begeisterten jungen Leuten angehalten, die es gar nicht fassen konnten, wer ihnen da über den Weg gelaufen war. Irgendwann wurde es Caroline zu bunt und sie transformierte sich in einem dunklen Hauseingang zurück in ihre normale Form, womit der Aufmerksamkeitswert ihrer Gruppe erheblich sank, als sie weitergingen.
Abwesend wie es schien, streckte Caroline im Vorbeilaufen die Hand ein wenig aus und streifte mit den Fingerspitzen an einem Laternenmast vorbei, der daraufhin ein hartes, metallisches Geräusch verursachte.
Sofort blieb Karin wie vom Donner gerührt stehen.
„Was hast du da gerade getan?“
Caroline hielt inne und sah zurück, als wäre ihr jetzt erst bewusst geworden, was sie gerade gemacht hatte: „Das? Ach, das war nichts.“
Sie blieb beharrlich: „Doch, ich hab’ es genau gesehen und gehört. Das hat Daniel früher oft gemacht. Maja hat das einmal beobachtet und dir daraus fast einen Strick gedreht, weil du mit so kleiner Anstrengung einen derartigen Klangeffekt erzielst und wir keinen müden Ton aus so einem massiven Klangkörper herausgeholt haben.“
„Ach, eine alte Gewohnheit. Eine fast schon menschliche Schwäche, die bereits Daniel hatte, da hast du ganz recht.“ Caroline tat es mit einem Achselzucken ab.
„Wenn du wüsstest, wie das die gute Maja damals gewurmt hat… aber warum tust du es überhaupt?“
Caroline wirkte beinahe peinlich berührt: „Es ist so eine Art Ratespiel von Daniel. Man sieht die Stange des Verkehrszeichens oder der Laterne an, nimmt den Durchmesser, das Material und die ungefähre Stärke der Verankerung im Boden und schätzt dann die Frequenz des Klanges, der durch das Anschlagen mit der Hand erzeugt wird. Ich bin inzwischen recht gut; um mehr als zwanzig Hertz liege ich praktisch nie daneben.“
„Unglaublich. Damit vertreiben sich Terminatoren also die Zeit…“
Karin verstummte und versank in alten, lustigen Erinnerungen an diesen Vorfall vor langer Zeit an einem kalten Dezembertag beim Europaplatz.
Am folgenden Tag erfuhren sie gar, dass der lokale Fernsehsender von den unheimlichen Besuchern aus einer anderen Welt in einer Randnotiz berichtete, mit einem Archivbild der Vorbilder aus dem Kino. Der Nachrichtensprecher beließ es aber bei einem amüsierten Schmunzeln während der Spekulation, wer die dunklen Gestalten seien und ob die Welt jetzt in ernster Gefahr sei.
Wenn er wüsste...
- 16 -
Freiburg im Breisgau, Deutschland 2. November 2001
Es regnete in Strömen an diesem Abend, als sie ihre kilometerweite Wanderung an den Punkt beendet hatten, an dem sie hier im Jahr 2001 angekommen waren und von dem aus sie auch wieder zurück in ihre eigene Zeit reisen wollten. Stumm hoben sie ein tiefes Loch aus und warfen ihre Kleidung hinein, um keine offensichtlichen Spuren zu hinterlassen. Als sie die Erde darüber geglättet hatten, waren sie klatschnass und durchgefroren, mussten aber nur noch kurz ausharren.
„Noch eine Minute, Leute.“ Caroline richtete sich aus und nahm eine letzte genaue Peilung vor, um sicher zu gehen, dass sie am richtigen Ort standen. Annie bestätigte ihre Angaben auf den Punkt genau.
Karin betrachtete Caroline mit einem Anflug gemischter Gefühle. „Ich werde den Eindruck nicht los, dass mit dir etwas nicht stimmt.“
„Wie kommst du darauf?“ Sie sah auf und erstarrte.
„Ich kann es nicht genau sagen. Etwas an dir ist anders als sonst. Du strahlst diese Zuversicht nicht mehr aus. Man könnte fast meinen, du hast ein wenig Bammel vor dem Sprung“, stellte sie fest.
„Das ist es nicht“, wiegelte sie ab. „Ich bin vielleicht einfach nur Zeitreise-Müde geworden. Sieh’ mal, ich bin jetzt innerhalb eines Monats neunmal vorwärts und rückwärts durch das Raum-Zeit-Gefüge transportiert worden, davon siebenmal in den letzten paar Tagen in kurzen Abständen. Ich weiß nicht, ob das nicht vielleicht etwas zuviel des Guten war. Mir ist nämlich aufgefallen, dass ich jedesmal nach einem Sprung länger brauche, um wieder voll funktionsfähig zu werden. Meine Systeme scheinen Probleme damit zu haben, diese dauernden Energieschübe zu verkraften.“
„Du meinst, du könntest Schäden erleiden, wenn du zu oft durch die Zeit geschickt wirst?“ fragte Karin zögernd.
„Nicht direkt. Es ist eher etwas auf molekularer Ebene. Schwer zu beschreiben für jemanden, der nicht auch mit einer Aussenhülle mit meinen Eigenschaften und sensorischen Merkmalen ausgestattet ist. Wie du weißt, lebe ich nicht wirklich, sondern imitiere lediglich menschliches Gewebe. Irgendeinen Aspekt davon bekomme ich immer schlechter hin, vielleicht das bioelektrische Feld eines Menschen oder etwas Ähnliches, sodass der Zeitfokus offenbar mehr und mehr Probleme damit hat, mich als lebenden Organismus zu ‚akzeptieren’. Ich merke das dadurch, dass ich bei jedem Sprung mehr Restenergien in Form von statischer Elektrizität abbekomme, deren Abbau Zeit kostet, bevor ich mein Bewusstsein nach einem erfolgten Sprung wieder erlange. Klar?“
Karin runzelte die Stirn. „Eigentlich glasklar. Ich verstehe nicht, was daran schwer zu verstehen sein soll. Es klingt aber nicht sehr ermutigend für mich. Wir haben schließlich keinerlei Erfahrungen damit, da wir früher nur in eine Richtung Zeitreisen unternehmen konnten und sich daher die Frage nach der Anzahl der Trips automatisch nie stellte.“
„Genau. Die Frage ist, was passiert, wenn ich diese Toleranz eines Tages überschreite. Ich muss dabei an Alex denken.“ Sie senkte das Haupt für einen Moment.
„Das war etwas ganz anderes. Er stand an der falschen Stelle und ist von der Sphäre in zwei Teile geschnitten worden. Das kannst du nicht damit vergleichen“, protestierte Karin leise, um die anderen nicht auf sich aufmerksam zu machen.
„Hoffen wir das Beste.“ Sie kniete sich nieder und wies die anderen an, es ihr gleich zu tun. Annie und Karin waren neben ihr, die vier jüngeren Mitglieder ihres Teams ihnen gegenüber. Es war gleich soweit.
Karin vergaß ihre Diskussion und versuchte sich auf die Schmerzen vorzubereiten, die sie jetzt gleich wieder erfahren würde.
Doch auf diese Erfahrung konnte man sich nicht vorbereiten, wie sie gleich würde erkennen müssen.
Das folgende spielte sich alles innerhalb weniger Sekunden ab, als die ersten statischen Entladungen um sie herum durch den Wald zuckten und vom bevorstehenden Ereignis kündeten.
Sie bemerkte aus dem Augenwinkel, dass Caroline blitzschnell Annie mit beiden Händen am Arm packte und kräftig riss. Eine handbreite Wunde rings um ihren Unterarm herum war entstanden, die bis auf ihr Endoskelett hinab reichte und dieses bloßlegte. Ana starrte sie entsetzt an: „Warum jetzt, Caroline? Warum hast du mich nicht schon vorher verraten?“
„Ich habe dir deinen Wunsch erfüllt, nicht dich verraten. Du weißt, dass dich nichts erwartet in der Zukunft. Aber du wirst ein glückliches Leben in der korrigierten Zeitlinie gelebt haben. Und so ist es ein sauberes Ende.“ Sie zuckte bedauernd mit den Schultern, während Lichtbögen laut knackend und summend zwischen ihr und Annie hin und her zuckten.
„Nein!“ Annie sprang auf und stürmte los.
Die Kugel aus reiner Energie erschien in einer planck’schen Zeiteinheit, hüllte sie von einem Moment auf den anderen in grelles Licht ein und riss sie heraus aus ihrem Sein, um sie quer durch Zeit und Raum zu schleudern und an ihrem Ursprungspunkt in ferner Zukunft und auf einem anderen Kontinent wieder auszuspucken. Alles was lebendig war, wurde dabei mit dem Raum in der ZVA im Mount Mitchell ausgetauscht, alles andere erfuhr ein Schicksal, das sich ihrer Kenntnis entzog.
Mount Mitchell, Yancy County, North Carolina, USA 20. April 2032
„Etwas stimmt nicht! Ich bekomme anormale Werte!“, rief der Techniker alarmiert, mühsam das laute Summen und Zischen übertönend. Sehen konnte man im Moment des Sprunges nichts, als sich alles im Raum mit weißem Licht füllte.
Alle sahen gespannt auf die Plattform, auf die der Fokus der ZVA gerichtet war. Sechs Gestalten kauerten im Kreis, wobei eine davon umkippte und regungslos liegenblieb. Der Techniker stöhnte auf.
„Nicht schon wieder!“
Nicolas sah ihn fragend an, worauf er erklärte: „Ich habe das schon einmal gesehen, vor mehreren Jahren. Er war nicht vollständig im Inneren der Sphäre, als der Sprung erfolgte.“
Die anderen waren noch zu benommen, um Annies Überreste wahrzunehmen. Sie war ironischerweise mit dem verletzten Arm bereits außerhalb des Ereignishorizonts gewesen, sodass sie trotzdem transportiert worden war. Dummerweise war auch die obere Hälfte ihres Kopfes nicht mehr erfasst worden, sodass ein grausiger, aber auch faszinierender diagonaler Querschnitt durch ihren Schädel entstanden war. Sogar die schmale Seite der CPU war deutlich sichtbar im Inneren. Karin wandte sich ab.
Und bemerkte, dass Caroline nicht dabei war.
Langsam kamen alle zu sich, sodass sie den anderen eine Erklärung über die Geschehnisse liefern konnten, auch wenn ihnen abschließend doch unklar war, weshalb der T-X nicht mit ihnen mit gereist war. Traurig erzählte Karin von Carolines Vermutung und ihren Beobachtungen bei den letzten Sprüngen.
Schweren Mutes bestätigte der altgediente Techniker des Stützpunktes, dass es bei ihrer letzten Ankunft bereits ein wenig länger gedauert habe, bis sie sich wieder geregt habe. Er hatte dem Vorfall damals keine große Bedeutung beigemessen. Jetzt erschien das in einem anderen Licht.
„Sie hat es geahnt“, sagte Karin traurig, „aber es bis zum Schluß für sich behalten. Vielleicht wollte sie ebenfalls den Dingen ihren Lauf lassen. Niemand kann noch irgend etwas für sie tun.“
Bernd sah Maja an. „Heißt das, diese Mission ist zu Ende?“
„Ja. Wir werden jetzt endlich heimfahren können, wenn wir aus dem Dienst entlassen werden, nicht wahr, Nicolas?“ Erwartungsvoll sah Maja ihren Mann an.
Er nickte und fuhr sich in einer Geste der Erschöpfung durchs Haar. „Ich funke gleich morgen früh General Connor an. Mit einem bisschen Glück bekommen wir in zwei Tagen ein Schiff nach Mitteleuropa; der Truppenabzug läuft noch auf vollen Touren. Mit dem, was noch von Skynets Kräften übrig ist, sollten die Amerikaner alleine fertig werden.“
Ana lächelte: „Endlich geht es zurück nach Hause!“
Shin und Aishe sahen sich an. Beide stellten sich in diesem Moment die gleiche Frage.
Wo war eigentlich ihr Zuhause? Sie waren seit Jahrzehnten vollkommen entwurzelt gewesen, hatten in einem Bunker oder Stützpunkt gelebt, bis Skynet sie ausgeräuchert hatte, sie von sich aus rechtzeitig ihr Hauptquartier geräumt hatten oder während des Europafeldzugs ihre Befehlsgefechtsstände der Front angepasst und immer wieder nach Westen und Süden verlegt hatten. Es hatte im Lauf der Zeit so viele Orte gegeben, die sie ihr Zuhause genannt hatten, dass es sich ihrer Erinnerung entzog, würden sie alle nennen wollen.
Nun, erst einmal wollten sie sicher nach Europa zurück gelangen und sich mit den anderen alten Mitgliedern ihrer Gruppe treffen, dann konnten sie immer noch besprechen, was sie nun tun wollten.
Der Krieg war für sie vorbei und sie hatten sich ihren Ruhestand verdient, wie sie fanden. Den Aufbau und die Verwaltung konnten andere übernehmen, die ihnen in der zweifelhaften Kunst der Kriegsführung nicht das Wasser reichen konnten, wohl aber auf anderen Wissensgebieten überlegene Fähigkeiten hatten.
Diesen wollten sie das Feld überlassen, wenn es sich einrichten ließ.
Rotterdam, Südholland, Nederlande 3. Mai 2032
Ihr Schiff, ein umgerüsteter Frachter aus Australien, war in der letzten Nacht angekommen, worauf sie in diese provisorische Unterkunft, eine alte Lagerhallte auf dem Hafengelände gebracht worden waren. Der gesamte Innenraum war mit unbequemen, faltbaren Feldbetten angefüllt, zwischen denen nicht genug Freiraum gelassen worden war, um auch nur einen Hauch von Privatsphäre zu ermöglichen.
Doch schon früh am Morgen wurden sie von Simon, Silke, Dimitri und Marit samt ihrem Nachwuchs begrüsst. Sie hatten schon vor Tagen über Funk von ihrer Ankunft erfahren und sich nach Rotterdam begeben, um nach dieser langen Trennung ein herzliches Wiedersehen zu feiern.
Sie zogen als erstes in ein altes kleines Haus auf dem Land um, das um die Jahrtausendwende herum gebaut worden war und ihnen allen ausreichend Platz bot. Dann erzählten die in Europa zurück Gebliebenen vom beginnenden Aufbau und den ersten Infrastrukturen, die hier allmählich entstanden, während sie in Amerikas nördlichsten Gebirgen immer noch die Reste von Skynets Maschinen bekämpften.
Die Menschheit arbeitete zusammen, wie sie es noch nie zuvor in ihrer Geschichte getan hatte. Auch wenn viele Gebiete noch für lange Zeit unbewohnbar bleiben würden und viele Großstädte sowie Industriezentren den Aufbau nicht lohnen würden, gab es doch noch genug an Überresten, um einen Funken der Hoffnung zu bieten. Das hemisphärische Klima auf der Nordhalbkugel der Erde normalisierte sich allmählich auf einem Level, das in weiten Landstrichen zumindest in beschränktem Umfang wieder Landwirtschaft ermöglichen würde und in abgelegenen und nicht umkämpften Gegenden auch schon jahrelang mit wachsendem Erfolg praktiziert wurde.
Die Strukturen wurden unterstützt von den Ländern der Südhälfte der Erde, wo nun die besten Lebensbedingungen herrschten. Australien und Neuseeland allein hatten mittlerweile zwanzigmal so viele Einwohner wie vor dem Krieg, sodass die Wirtschaft dort in einem nie gekannten Maß florierte. Ironie des Schicksals, dass die beiden abgelegensten Flecken den Rest der Welt mit vielem versorgten.
Dimitri beendete seinen Teil des Berichtes über die Geschehnisse der letzten paar Jahre. „Ihr seht, wir haben hier bereits begonnen, aufzuräumen und das Leben hier ein wenig erträglicher zu gestalten. Und was produziert werden kann, wird produziert, wenn auch nicht hier, sondern in den südlichen Ländern. Wir können aber eine Mindestversorgung der noch vorhandenen Bevölkerung inzwischen gewährleisten. Unser technischer Wissensstand hat sich eben nicht mehr weiterentwickelt wie zu Friedenszeiten, doch ist er auf einem gewissen Level geblieben.“
„Ich habe allerdings gehört, dass in Australien die ersten Fusionsreaktoren von Skynet zurückentwickelt werden konnten. Sie haben bereits einige Prototypen im industriellen Maßstab nachgebaut, die in der Dauererprobung sind. Wir werden in Zukunft nie wieder Atom-, Kohle- und Gaskraftwerke benötigen, wenn die ersten Fusionsgeneratoren ans Netz gehen.“ Marit schien erfreut darüber, dass sich von Skynets unablässigem militärischem Forscherdrang doch noch etwas Positives für zivile Zwecke nutzen ließ.
Nicolas sah zu Simon, der sein kleines Söhnchen auf dem Schoß hatte und wollte wissen: „Heißt das für uns, dass wir uns aus dem aktiven Dienst allmählich zurück ziehen können?“
„Ich denke schon. Immerhin haben wir von Anfang an immer tüchtig mitgekämpft. Wenn wir uns keinen Ruhestand verdient haben, wer dann?“
Aishe lehnte sich zurück und atmete tief durch. „Das wäre schon schön. Aber was wollen wir denn in Zukunft machen? Wohin wollen wir gehen?“
„Und was haltet ihr davon, wenn wir zusammen etwas auf die Beine stellen? So ne Art Rentner-WG?“ schlug Karin vor, worauf alle lachen mussten.
„Das wär’ schon was!“ Auf Shins spontane Zusage hin stimmten alle mit ein. Die Kinder waren zum Teil schon flügge und würden ihrer eigenen Wege gehen, sodass die unter ihnen, die sozusagen wieder für sich waren, sich durchaus vorstellen konnten, sich an einen netten Ort zurück zu ziehen.
Sie berieten sich, wobei sich allmählich heraus kristallisierte, dass Karin, Maja, Nicolas, Aishe und Shin sich zusammen tun wollten, wobei Bernd noch eine Weile bei ihnen bleiben würde, bis auch er das Alter zum Auszug hatte. Die anderen würden nachkommen, sobald ihre Kinder auf eigenen Füßen stehen konnten.
„Und wohin wollen wir gehen? Wir haben doch nirgends einen Besitz oder eine Bleibe, die wir so einfach beziehen könnten“, gab Shin zu bedenken.
Simon erwiderte: „Sieh’ dich doch mal genauer um; dieser Kontinent ist fast entvölkert worden. Im Moment belaufen sich die Schätzungen seiner Bewohner auf siebzehn Millionen, wovon sechs Millionen Soldaten aus anderen Erdteilen sind, die hier lediglich gekämpft haben. Gut, fünf Millionen Widerstandskämpfer sind noch immer in Nordamerika und werden noch Jahre brauchen, um alle zurück zu kehren, wenn überhaupt alle zurück wollen.
Was ich damit sagen will, ist: es gibt so viele unbewohnte und noch halbwegs bewohnbare Häuser, dass es eigentlich kein Problem sein sollte, irgendwo eines zu finden, das ihr gemeinsam in Schuss bringen und darin wohnen werden könnt. Dabei wird euch wenigstens nicht langweilig werden. Solange ihr nicht verhungert, solltet ihr keine Probleme bekommen und eure Ruhe haben.“
Karin sah verträumt aus dem Fenster und meinte versonnen: „Bitte haltet mich nicht für nostalgisch oder verkalkt, aber ich hätte einen Vorschlag, wohin wir könnten.“
Aishe sah sie abschätzend an. „Denkst du etwa das Gleiche wie ich?“
Und Maja fiel in den Chor ein: „Mir liegt auch etwas auf der Zunge, das ich die ganze Zeit schon sagen wollte.“
Und als alle drei ihren Wunsch geäußert und festgestellt hatten, dass sie wirklich das gleiche Ziel im Sinn hatten, bekannten sich die anderen nach und nach mehr oder weniger begeistert ebenfalls dazu, schon daran gedacht zu haben.
„Das wird aber nicht leicht werden. Soviel ich weiß, ist die Gegend inzwischen weitgehend unbewohnt“, wandte Simon ein.
„Na und? Ihr werdet schon zu recht kommen“, schmetterte Marit ihn ab. „Ich persönlich würde mich sehr freuen, dort meinen Lebensabend zu verbringen.“
„Dann ist es abgemacht? Karin? Shin? Nicolas?“ Als alle nickten, lächelte Maja. „Noch vor ein paar Wochen hätte ich mir das nicht träumen lassen, aber ich freue mich doch, wieder hin zu fahren. Ich hoffe nur, es wird nicht allzu viel auszubessern geben.“
„Ihr wollt nur nicht, dass wir euch zu oft besuchen kommen, das ist doch der eigentliche Grund für die Wahl eures Zieles“, flachste Nick und löste damit allgemeines Gelächter aus.
„Ich schätze eher, es ist Sentimentalität.“ Silkes Blick verklärte sich angesichts der ihnen bevorstehenden Reise. „Wisst ihr was? Wir fahren mit euch mit und sehen uns alles an, während ihr euch einrichtet. Nach ein paar Tagen fahren wir dann einfach wieder zurück, wenn wir sicher sein können, dass ihr das packen werdet.“
Dieser Vorschlag wurde mit einhelliger Begeisterung aufgenommen, sodass die Exkursion sich nunmehr wie eine Art Gruppenausflug ausnehmen würde. Nun machte sich Vorfreude unter den alten Kameraden und Freunden fürs Leben breit, wobei auch ihre Kinder gespannt waren, endlich einmal einen Blick an jenen sagenhaften Ort werfen zu können. Ihr ganzes bisheriges Leben über hatten sie stets Geschichten, Anekdoten und Insiderscherze über die Zeit, welche ihre Eltern dort verbracht hatten, anhören müssen, ohne wirklich nachvollziehen zu können, was den besonderen Reiz dieser Lokalität ausmachte.
Tjeld Sundet, Troms Fylke, Norwegen 15. Mai 2032
Der Abschied von Jasemin, Ana, Nick und Cybil war ihnen doch schwerer gefallen, als sie gedacht hatten, obwohl diese diesmal nicht auf Patrouille durch Feindesland oder irgendeine lebensgefährliche Mission gingen.
Sie hatten ganz richtig vermutet, dass niemand mehr nördlich von Bodø lebte, jedenfalls niemand, von dem man in Bodø wusste. Entgegen der Befürchtungen und Warnungen der dortigen Einheimischen setzten sie ihre Reise mit dem kleinen Boot, das ihnen gerade genug Platz und Komfort für die Reise aus Holland bot, fort. Sie hatten gerade den Tjeld Sund hinter sich gelassen und genossen das Panorama des sich nach Norden hin verbreiternden Vågsfjorden. Viel zu lange hatten sie diese herrlichen Landschaften vermisst.
„Da vorne ist es.“ Shin zeigte lächelnd auf Rolla, das rechterhand vor ihnen lag. Von hier aus erhoben sich die beiden Bergketten der Insel majestätisch auf fast eintausend Meter Höhe und wiesen ihnen den Weg. Von hier aus konnten sie das Safehouse bei Hallevik nicht sehen, da die westlichen Berge es noch verdeckten.
Karin mutmasste: „Ob unser gutes, altes Haus noch steht?“
„Wenn keiner eine Atombombe darauf geworfen hat, schon“, gab Simon zurück und grinste, als sie ihn in die Seite knuffte.
Nicolas, der am Steuer des Schiffes stand, meinte: „Ich glaube, wir haben uns ein gutes Stück Arbeit aufgeladen, bis wir das Haus wieder in einen bewohnbaren Zustand gebracht haben.“
„Du meinst, weil wir uns früher nie um den Haushalt gekümmert haben?“ Maja winkte ab. „Aber wir haben dennoch gelernt, wie sämtliche Installationen zu reparieren und zu warten sind. Wenn wir den Generator zum Laufen bringen oder sogar die Turbine an der Fallleitung am Wasserfall instand setzen können, könnten wir sogar elektrischen Strom haben. Meine größte Sorge ist eher, dass sich jemand irgendwann eine Zeitlang dort eingenistet haben könnte und mehr Schaden angerichtet hat, als das Haus in Ordnung zu halten.“
„Wenn sie das Haus und den Dieseltank geplündert haben, stehen wir schön dumm da, was?“ meinte Dimitri. „Haben wir überhaupt genug Treibstoff, um bis Bodø zurück zu kommen?“
„Keine Angst, wir haben genug gebunkert, um sogar noch mal bis Rotterdam zu fahren. Die Kleinen würden sich allerdings wundern, wenn wir in drei Tagen schon wieder da wären.“ Nicolas lächelte bei dem Gedanken daran.
Sie hatten sich relativ dicht an der Küste gehalten und umfuhren jetzt das nördliche Ende des Bergrückens, neben dem das Safehouse, ihr zukünftiger Ruhesitz, lag. Aishe rief freudig erregt: „He, der Steg steht noch. Zwar mitgenommen, aber noch brauchbar. Das heißt, wir können wieder fischen. Ist das nicht schön, Shin?“
„Ja, wenn das Haus auch noch steht… ah, da ist es ja! Nanu?“ Shin, der zusammen mit Aishe am Bug stand, hielt verwundert inne.
„Was ist denn?“ wollte Karin wissen.
Er zögerte kurz: „Ich weiß nicht. Ich glaube, ich wundere mich einfach nur, dass es noch genau so aussieht, wie an dem Tag, als wir es verlassen haben.“
„Das kannst du doch gar nicht mehr so genau wissen“, protestierte Silke, „immerhin sind inzwischen über… he!“
Nun sahen es alle, als ihr Boot um den steil aufragenden dunklen Vulkanfels des Berges Rolla herum gefahren war. Einige Sekunden war es still an Bord, als alle von ihren alten Erinnerungen eingeholt wurden, manche davon schmerzlich, viele schön. Nicolas hätte angesichts des so vertrauten und dennoch unerwarteten Anblicks fast vergessen, rechtzeitig Fahrt wegzunehmen. Dann besann er sich und ließ den Rumpf mit viel Feingefühl sanft gegen die Seite des Anlegesteges aufkommen. Sie machten fest und betraten zum ersten mal seit einem Vierteljahrhundert wieder skandinavischen Boden.
Maja fand ihre Sprache als erste wieder. „Alles hätte ich erwartet, nur das nicht.“
Das Haus sah wirklich noch so aus wie früher, so als sei die Zeit spurlos an ihm vorbei gegangen. Von einigen nach dieser langen Zeit normalen Verwitterungsspuren an der Holzverkleidung und etwas Algenbewuchs auf den Dachziegeln abgesehen, schien seine Bausubstanz noch intakt.
„Wir müssen Caroline nochmals posthum Dank zollen. Dieses Haus ist wahrhaftig für die Ewigkeit gebaut.“ Simon klang beinahe feierlich, doch Silke zerstörte diesen Moment der starken Gefühle umgehend.
„Sag mal, Aishe, hast du damals daran gedacht, abzuschließen, als du zur Tür raus bist?“
Sie lachten alle etwas nervös und hievten ihre Taschen über die Reling, um sich zur Vordertür zu begeben. Dabei fiel ihnen auf, dass sich die Natur im Laufe ihrer langen Abwesenheit auf erstaunliche Weise erholt hatte. Die beim Tag des Jüngsten Gerichtes abgestorbenen Bäume waren vermodert, hatten aber inzwischen Nachkommen hervorgebracht, die zwischen den alten Stümpfen und Resten kräftig empor gewachsen waren, soweit die immer tiefstehende Sonne es in diesen Breitengraden zuließ. So war über das letzte Vierteljahrhundert ein neuer, wenn auch noch nicht hochstämmiger oder dichter Wald entstanden, der nichts desto trotz recht gesund und intakt aussah.
Aishe überlegte eine ganze Weile, bevor sie erklärte: „Wenn ich mich nicht irre, sind wir durch die Garage gegangen und mit den Autos weggefahren. Was war damals mit der Haustür?“
Nicolas seufzte, während er mühsam seine schwere Tasche den Weg zum Haus hochtrug: „Ich habe keine Ahnung mehr, wenn ich ehrlich sein soll. Alles ist so schnell gegangen, als wir weg mussten.“
„Hat zufällig jemand von euch eine Funkfernbedienung für die Garagentür dabei? Ich will mich nicht durch die Fronttür sprengen müssen.“ Karin grinste schwach. Sie hatten tatsächlich Sprengdraht mitgenommen, falls sich eine Situation ergeben würde, in der sie vor verschlossenen Türen stehen sollten.
Ihr Blick schweifte über den Vorplatz zwischen Garage und Haus, der merkwürdig aufgeräumt schien. Marit sprach aus, was alle dachten: „Seltsam, kein Unkraut am und ums Haus. Als ob…“
Maja sah sich argwöhnisch um: „Als ob hier vor kurzem noch jemand gelebt hätte und alles in Ordnung gehalten hätte.“
„Oder noch da ist.“ Unwillkürlich zog Dimitri eine MP5 hervor, die er um den Hals an einem Riemen bei sich getragen hatte. Auch Silke und Shin waren derartig bewaffnet; man konnte nie wissen. Sie hatten nicht so lange überlebt, weil sie wehrlos in abgelegenen Gegenden herum spaziert waren.
Karin war die erste, die an der Vordertür war und prüfend am Türknauf zog. Zur großen Überraschung aller schwang die Tür klaglos nach innen auf, wo der Panzerglaskäfig der Luftschleuse lag. Dann sahen sie es und hielten die Luft an vor Schreck.
Das rote Kontrolllämpchen der inneren Tür leuchtete auf.
„Was zum… wie kann das sein? Das Haus hat Strom?“ Maja verschluckte sich fast an ihrer eigenen Spucke als sie das perplex hervorstieß.
Nicolas versuchte zu erklären: „Das ist nur eine LED, die braucht fast keinen Strom. Ihr wisst doch noch, wie umfangreich die Batterien unter dem Dach sind. Sie könnten so ein einzelnes Lämpchen zweihundert Jahre mit Strom zum Leuchten versorgen.“
„Unsinn, nach so vielen Jahren müsste die Kapazität der Akkus schon längst erschöpft sein, sogar die von diesen speziellen russischen U-Boot-Speicherzellen.“ Dimitri schüttelte den Kopf. „Mir gefällt das nicht. Wir können nicht gleichzeitig alle hinein, weil man die Schleuse nur von innen überbrücken kann. Davon abgesehen weiß ich nicht mal, wie; das hat einer der Terminatoren gemacht damals.“
„Soviel also zu unserem technischen Fachwissen über das Safehouse. Wer geht zuerst?“ Nervös spähte Karin in den ehemals so vertrauten und nun doch unheimlich wirkenden düsteren Flur.
„Ich und Shin, Silke sichert hier draußen und bleibt bei den Kindern. Sobald wir drin sind, kommen die nächsten beiden nach. Okay?“ Alle stimmten dem Vorschlag von Dimitri zu, worauf sich die beiden in die enge Schleuse quetschten und die Außentür vorsichtig und so leise wie möglich hinter sich zuzogen.
Sofort war es stockdunkel.
„Du hast nicht zufällig eine Taschenlampe dabei?“ erklang Shins Stimme neben Dimitri.
„Klar. Und mit welchen Batterien betreiben wir die? Die Lieferungen aus Australien lassen in ganz Europa noch immer auf sich warten.“
Nach einem Moment des Schweigens sagte Shin: „Ach, was stellst du dich so an, alter Hasenfuß? Wir haben so lange in diesem Haus gelebt!“
Er griff blind nach der Türklinke, über der die grüne LED gleich nach Verschließen der Außentür aufgeleuchtet war. Nachdem er sie nach innen in die Schleuse gezogen hatte und sie sich aus ihr heraus gedrückt hatten, fand der rüstige drahtige Asiate auf Anhieb die Türklinke zu seinem alten Zimmer direkt rechts neben der Schleuse. Ein schummriger Lichtspalt fiel in den Flur und spendete ihnen ausreichend Beleuchtung, um sich zu recht zu finden.
Maja und Nicolas erschienen in der Schleuse und stießen zu ihnen. Dimitri öffnete die Tür zum ehemaligen Krankenzimmer und verdoppelte so die Lichtmenge. Sie traten innerhalb einer Minute alle ein und hatten alle sechs Zimmertüren geöffnet, so dass der Gang jetzt gut sichtbar vor ihnen lag. Alle inspizierten unwillkürlich ihre Zimmer und ihnen fiel sofort eines auf.
„Es ist alles so sauber! Keinerlei Staub in den Räumen. Wie kann das sein?“ wunderte sich Maja.
Karin half ihr aus: „Die Belüftung hat auch einen integrierten Staubfilter, falls einmal doch Radioaktivität hinein gelangen sollte. So werden kontaminierte Partikel nach spätestens einer Luftumwälzung aus dem Kreislauf entfernt. Daniel hat es mir einmal haarklein erklärt.“
Aishe hielt inne und sagte dann: „Bilde ich mir das ein oder läuft die Lüftung etwa? Das kann doch nicht sein.“
Shin trat einem Impuls folgend zum nächsten Lichtschalter und betätigte diesen.
Die Beleuchtung flammte auf.
„Was? Wir haben tatsächlich normale Elektrizität im Haus?“ Marit sah zu Dimitri hinüber. „Soviel zu der Theorie mit der Restspannung der Batterien.“
„Das heißt, jemand muss noch vor kurzer Zeit hier gelebt haben“, schloß Silke.
„Oder tut es noch immer.“ Shin hob erneut automatisch die Maschinenpistole.
Aishe legte behutsam eine Hand auf seinen Arm und senkte den Lauf. „Langsam, John Wayne. Wir sind nicht hier, um unser Haus zurück zu erobern. Wenn man es genau nimmt, haben wir nicht einmal irgendetwas in der Hand, das beweisen würde, dass es uns gehört.“
„Und wisst ihr auch, wieso?“ Karin griff sich in einer Geste der Ohnmacht an die Stirn. „Weil es uns tatsächlich nicht gehört.Caroline hat damals den Grund und Boden gekauft und ich denke, niemand von uns hat auch nur die geringste Ahnung, wo sie die Besitzurkunde aufbewahrt hat.“
Marit sah ins Bad hinein, während sie hinzufügte: „Nicht, dass eine solche Urkunde noch irgendeine Bedeutung hätte, oder?“
„Aber wir waren Anführer der Widerstandsarmee Europas. Was für ein Vorbild wären wir, wenn jetzt eventuelle Bewohner des Hauses kämen und wir sie mit Waffengewalt vertreiben würden?“
„Leute, die Anzeichen verdichten sich. Das Bad ist spiegelblank. Hier drin könnte man auf dem Boden essen, wenn ich das schöne alte Sprichwort noch aus meinen Germanistikzeiten in Freiburg richtig im Gedächtnis habe“, verkünstelte Marit sich in ihrer Aussage.
„Doch, stimmt schon so“, bestätigte Shin lapidar und sah in die Küche hinein und um die Ecke. „Das gleiche hier drin. Alles blitzblank, so als wären die Bewohner nur mal schnell zu `nem Spaziergang außer Haus.“
Sie versammelten sich im großen Wohnzimmer, wo sie das gleiche Bild erwartete: alles war sauber und ordentlich, wirkte aber unbewohnter als ein Ausstellungsraum in einem Möbelhaus. Für sie ergab das einen höchst beunruhigenden Anblick, da dieser Platz so lange ein Hort des Lebens und der Geborgenheit gewesen war.
Karin fasste sich und schimpfte: „Das ist lächerlich! Ich komme mir vor wie im Märchen. Sollen wir fragen: Wer hat von meinem Tellerchen gegessen? Wer hat aus meinem Becherlein getrunken? Hä? Was?“
„Beruhige dich, noch wissen wir nichts Genaues. Wir sehen uns jetzt noch den Rest an, bevor wir uns überlegen, was wir tun wollen.“ Nicolas fiel etwas ein und er stürzte zur Fensterfront, wo man über den Balkon zum Anlegesteg und zum Fjord hinaus sehen konnte.
„Mist, die Kinder! Wenn jetzt draußen jemand lauert, während wir hier Maulaffen feil halten, sitzen wir in der Tinte. Silke, Simon und Marit, könnt ihr bitte die Bewachung des Außenbereiches übernehmen, bevor wir sicher sind, das alles in Ordnung ist? Bringt die Kleinen am besten aufs Boot und haltet euch bereit.“
Ohne ein weiteres Wort verschwanden die drei; sofort war die alte Professionalität wieder zu Tage getreten, mit der sie als militärisch präzises Team zusammen arbeiteten. Sie blieben im Wohnzimmer, bis sie die anderen sahen, wie sie auf den Steg traten, begleitet vom Nachwuchs. Karin bemerkte den Griff der Balkontür und überlegte, was ihr daran komisch vorkam.
Sie drehte ihn und öffnete zu ihrem großen Erstaunen völlig mühelos die schwere Tür aus Panzerglas. „He, seht euch das an! Jemand hat die Tür repariert. Die war doch total kaputt, nachdem der T-1000 sie aufgebrochen hatte!“
„Offenbar haben sich die unsichtbaren Bewohner hier mit sehr viel Engagement eingerichtet. Ich fürchte, wenn die noch da sind, werden sie uns sicher als Eindringlinge betrachten. Vielleicht lauern sie uns sogar irgendwo im Keller auf, um ‚ihr’ Heim zu verteidigen. Wir sollten mehr Vorsicht walten lassen.“ Dimitri hob nun doch seine Waffe an.
Sie stiegen vorsichtig die Treppe hinab, mit den MPs im Anschlag und so lautlos wie möglich. Unten im hohen, schmalen Kellergang erwartete sie dasselbe Bild. Alles sauber und ordentlich, aber verlassen und unbenutzt. Karin wisperte leise: „Könnte das vielleicht möglich sein, dass einfach die Turbine des Wasserfalles noch immer läuft und Strom erzeugt, sodass die Luftumwälzung alles staubfrei gehalten hat?“
„Und die Balkontür hat sich wohl von selbst repariert?“ spottete Shin. „Nein, wir haben hier ungebetene Gäste oder haben sie gehabt, soviel steht fest.“
Sie arbeiteten sich langsam und vorsichtig vor und kontrollierten nach und nach alle Vorratsräume, wobei sie immer nervöser wurden. Am Ende des Ganges sagte Maja leise: „Wir haben einen Fehler gemacht.“
„Wieso?“
„Nicolas, wir müssen unbedingt den Gang zur Garage und das Tanklager kontrollieren. Wenn sie sich dort versteckt halten, haben sie uns den Rückweg abgeschnitten und wir sitzen hier hinten am Ende des Ganges in der Falle wie die Ratten.“
Dimitri fluchte leise und hastete nach vorne. „Wir werden wohl langsam alt. So ein übler Fehler wäre uns doch früher nicht unterlaufen. Shin, nach vorne. Wir nehmen uns zuerst das Tanklager vor. Bei dieser Gelegenheit können wir auch gleich noch nach dem Generator sehen.“
Karin deutete in den toten Winkel gegenüber des Treppenaufgangs, wo die Heizungsanlage stand. „He, seht mal. Sieht so aus, als würde die Heizung laufen. Auf Minimalleistung zwar, aber doch eingeschaltet.“
Aishe staunte. „Tatsächlich. Deshalb die gleichmäßige, angenehme Temperatur oben. Vielleicht hat hier jemand einfach nur überwintert und sich jetzt nach Süden abgesetzt, wo die Strassen und das Meer wieder frei sind.“
„Die Straßen kannst du vergessen“, erinnerte Karin sie. „Ohne Fährverbindung kommst du von hier aus nur über die Alpen nach Schweden und somit weiter nach Süden. Und zu dieser Jahreszeit dürften die Passstraßen noch unpassierbar sein.“
„Stimmt, das war damals bei der Flucht ja unser großes Glück, dass Skynet seine Truppen nicht direkt hierher verfrachten konnte.“
„Los, weiter. Dimitri, du gehst mit Maja und mir durch den Gang in die Garage, während ihr anderen die Treppe im Auge behaltet.“ Er wartete keine Bestätigung ab, sondern schob gleich die schwere gepanzerte Tür auf, die neben dem Fuß der Treppe aus dem Haus hinaus in eine unterirdische Luftschleuse führte und dann weiter in die Garage.
Nervös sahen sie ihren Freunden nach. Aishe flüsterte: „Was haltet ihr davon?“
„Ich weiß auch nicht“, gestand Karin ein. „Ich hatte gehofft, wir könnten hier einen ruhigen Lebensabend verbringen, aber das ist ja kein so toller Start.“
Schon nach zwei Minuten waren die drei anderen zurück. Nicolas klärte sie auf: „Überall das gleiche Bild. Und stellt euch vor: in der Garage stehen zwei Autos, Volvo Kombis der letzten Baujahre. Fragt mich nicht, woher die kommen.“
„Wir sind hier in Norwegen. Wenn unsere unbekannten Hausbesetzer hier in der Gegend irgendwelche Autos auftreiben und zum Laufen bringen konnten, dann ziemlich sicher Volvos. Wahrscheinlich haben sie das Ersatzteillager im Keller gefunden und sich gesagt: Hey, toll, Treibstoff und Verschleißteile haben wir. Jetzt fehlen nur noch die dazu passenden Autos.“ Maja nickte grimmig und anerkennend.
Dimitri ging bereits zur Eisentür, die zum Raum für die Öltanks hinabführte, während Shin und Marit am Aufgang zum Erdgeschoss Wache hielten. Eine kurze Treppe führte hinab in die weitläufige Halle, in der die gewaltigen Heizöltanks lagerten, geschützt von einer mehreren Meter starken Stahlbetonplatte über dem Raum. Wie erwartet war er leer, wovon sie sich nach einer kurzen Durchsuchung überzeugten. Und über noch eine weitere wichtige Tatsache erlangten sie Gewissheit.
„Der Dieselgenerator läuft nicht. Das heißt, wenn die Batterien unter dem Dach nicht mehr laufen, was sie nach dieser langen Zeit eigentlich gar nicht können, muss der Fallstromgenerator draussen am kanalisierten Wasserfall noch in Betrieb sein. So langsam nötigen die Unsichtbaren mir Respekt ab“, gestand Maja ein.
„Dann bleibt uns jetzt nur noch die Turnhalle. Wollen wir’s hinter uns bringen?“ fragte Aishe und wandte sich nach oben.
Zu Viert näherten sie sich bedächtig der Tür am Ende des Flurs, die Nerven bis zum Zerreißen angespannt. Dimitri ging voraus, die MP5 im Anschlag und entsichert, dicht gefolgt von Karin, Maja und Nicolas.
Wie alle Türen im Haus schwang auch diese lautlos auf gut geölten Angeln auf. Sie spähten hinein, auf alles gefasst, nur nicht auf das.
Das Gewächshaus.
Genau wie damals waren die Bodenleisten immer beetweise weggeräumt und so die darunter liegende Erde feigelegt worden, bepflanzt mit diversen Gemüsesorten und künstlich bewässert sowie beleuchtet. Karin stockte der Atem. Wie hatten die Hausbesetzer das herausfinden können?
Als sie eintraten, erschien des Rätsels Lösung. Am hintersten Ende der Beete kniete eine Frau mit langen blonden Haaren, von ihnen abgewandt und an einer Tomatenstaude arbeitend. Sie bemerkte die Neuankömmlinge jedoch sofort und erhob sich.
Sie war groß und schlank, schien sportlich und hatte ein ebenmäßiges Gesicht mit attraktiven, nordischen Gesichtszügen und leuchtend blauen Augen. Sie lächelte bei ihrem Anblick. Karin schien das Blut in den Adern zu gefrieren; sie war die einzige, die die Bedeutung dieser Person kannte. Sie rief entsetzt: „Das ist ein T-X!“
„Scheiße!“ Dimitri riss die MP hoch und legte an, aber die junge Frau rief alarmiert: „Wartet, nicht schießen! Ihr ruiniert mir das Gemüse!“
Verdattert stammelte Maja: „Wa… was?“
„Leute, ich bin’s!“ Die Gestalt schrumpfte in Windeseile und veränderte ihr Aussehen, bis eine wohlbekannte Gestalt auftauchte.
„CAROLINE!“
„Ich freue mich so, euch zu sehen! Ich wusste genau, ihr würdet eines Tages kommen!“ Sie eilte zu ihnen und fiel jedem einzeln um den Hals, während alle noch starr vor Staunen waren.
„Aber… aber… woher kommst du denn? Du bist doch beim letzten Zeitsprung…“
„Nein, Karin, ich bin einfach wieder an der Stelle und zu dem Zeitpunkt aufgetaucht, bei dem wir gesprungen sind. Es war unerklärlich, als hätte mich das Zeitfeld verschmäht und wieder ausgespuckt. Schon wieder war ich in der Vergangenheit gestrandet, auch wenn es diesmal nur gut dreißig Jahre waren. Ich musste dann allerdings untertauchen, um mir selbst nicht in die Quere zu kommen und ein Paradoxon zu verursachen.
Sobald ihr hier weg wart, habe ich mich wieder im Safehouse einquartiert und mich ein wenig um die Instandhaltung gekümmert. Es war zwar nicht sehr leicht, vor der Außenwelt zu verbergen, dass das Haus nicht unbewohnt war, doch ich hatte Glück. Es haben keine Kampfhandlungen mehr in dieser Gegend stattgefunden und wenn überhaupt, habe ich nur alle paar Jahre mal ein vereinzeltes Boot in weiter Ferne über den Fjord fahren gesehen.
Als sich der Krieg seinem Ende näherte, habe ich begonnen, das Haus wieder auf Vordermann zu bringen. Irgendwie habe ich es ja geahnt, dass ihr früher oder später unweigerlich auftauchen würdet. Der eine oder andere von euch hat ja in Amerika in den letzten Jahren im Scherz davon gesprochen, noch einmal eine Wallfahrt nach Rolla zu machen. Seit kurzem habe ich sogar wieder Gemüse angebaut und eingefroren. Schön, dass ihr hier seid.“
„Was heißt hier Wallfahrt“, tönte Maja nach einer Schrecksekunde. „Wir bleiben hier! Dieses Haus wird hiermit zum Seniorenstift erklärt.“
Alle lachten, worauf Stimmen vom Ende des Flures erklangen. Sie holten Silke, Shin und Marit und die Kinder dazu, wobei die drei alten Safehouse-Bewohner ebenfalls nicht schlecht staunten, als sie die verloren geglaubte Freundin wieder sahen.
Eine Viertelstunde darauf sassen alle am großen Tisch im Wohnzimmer und berichteten davon, wie es ihnen ergangen war, seitdem sie getrennt worden waren. Es wurde eine wunderbare und unvergessliche Zeit für die Mitglieder der Gruppe, die nur ein paar Tage bleiben und dann mit ihren Kindern nach Mitteleuropa zurück fahren würden.
Die Versuchung war groß, alles sausen zu lassen und sich ebenfalls hier nieder zu lassen, doch für sie alle war das Haus nicht mit genug Räumen ausgestattet und sie hätten doch einiges improvisieren müssen. Außerdem wollten sie ihren Kindern doch die Möglichkeit bieten, den Wiederaufbau ihrer zurück gewonnenen Welt mit zu erleben und aktiv mit zu gestalten, anstatt ihn hier in aller Abgeschiedenheit wie im Exil zu verpassen. Wenn die Zeit gekommen war, dass alle auf eigenen Beinen stehen würden, würden sie umso lieber nachkommen, als dass jetzt noch die verloren geglaubte alte kybernetische Freundin und Weggefährtin so unverhofft wieder aufgetaucht war.
Hallevik, Insel Rolla, Troms Fylke, Norewegen 4. Juli 2032
Shin und Aishe standen auf dem alten, leicht morschen, aber immer noch sicheren Anlegesteg und hatten vier Angeln im Wasser. Sie genossen die tiefstehende Abendsonne über dem breiten Fjord, die alles in ein warmes orangefarbenes Licht tauchte und die schroffen Berge von Hinnøya im Westen als dunkle schattige Umrisse sich vom golden schimmernden Meer abheben ließ. Sie hatten zwei kleine Klapphocker dabei, auf die sie sich, ihrem Alter Tribut zollend, nieder gelassen hatten und Schulter an Schulter gelehnt und einen Arm um den anderen gelegt, das traumhaft idyllische Szenario genossen wie zwei frisch Verliebte.
„Wenn ich hier sitze, wirken all diese schrecklichen Erinnerungen aus dem Krieg nur noch wie blasse Schemen.“ Aishe seufzte selig.
Shin fügte weise hinzu: „Und die Bilder von vielen guten Freunden und treuen Kameraden ziehen vor dem inneren Auge vorbei, wie man sie am liebsten in Erinnerung behält. Lachend, in einem Moment das Glücks eingefangen, nicht schmerzverzerrt und leidend.“
Sie drückte sich noch ein wenig fester an ihn. „Was wäre der Mensch, wenn er die schlimmsten Dinge nicht verdrängen könnte? Wir hätten schon lange vor dem Sieg jede Hoffnung fahren lassen und uns dem Schmerz des Verlustes und des Leides hingegeben.“
„He, deine Angel hat gerade gezuckt.“ Er beugte sich mühsam nach vorne, um ins Wasser zu spähen, konnte jedoch angesichts der Sonne, die sich auf den sanften Wellen spiegelte, nichts erkennen.
„He, ihr beiden“, rief Karin vom Balkon aus. „Könnt ihr mal kommen, bitte? Es ist etwas passiert.“
Angesicht des Klanges ihrer Stimme waren die Beiden gleich alarmiert; zu lange schon kannten sie sich, um diese Nuancen zu überhören. Mit einem bangen Ausdruck in den Zügen sahen sie sich an und holten ihre Leinen ein, wobei sich Shins Beobachtung als Fehlalarm entpuppte.
Als sie ins Wohnzimmer traten, saßen die anderen um die Sofaecke herum oder standen am Fenster und sahen hinaus auf den Fjord. Rundherum bestürzte und betretene Gesichter.
„Was ist geschehen?“
Caroline sah sie mit möglichst ausdrucksloser Miene an. „Die Kinder haben uns angefunkt. Es hat einen furchtbaren Unglücksfall gegeben. Connors Truppen haben in den kanadischen Rocky Mountains eine der letzten Bergfestungen von Skynet ausgehoben, in der sie eine ZVA entdeckt haben. Ein dummer, alter T-850 hat Connor dabei getötet.“
„WAAAS?“ Shin glaubte seinen Ohren nicht zu trauen.
„Es war ein Modell mit dem gleichen Aussehen wie das, welches in Connors Kindheit zu seinem Schutz zurück gesandt wurde. Es gelang ihm, nahe genug an ihn heran zu kommen, um ihn zu terminieren. Anschließend haben sie seine Schaltkreise mit mehreren Tasern bei 50000 Volt gebraten. Seine Frau hat was von Schicksal gemurmelt und ihn reprogrammiert, bevor sie ihn mit der ZVA nach L.A. zum Tag des Jüngsten Gerichtes geschickt hat.“ Caroline hob bedauernd die Schultern.
Aishe schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht glauben, dass das passiert sein soll. Wir haben doch schon gewonnen. Gewonnen gehabt.“
„Diese Tragödie lässt unseren Sieg so blass und… nutzlos erscheinen. Wie soll es jetzt weiter gehen?“ Shin war ebenfalls schockiert.
„Wir sollten uns das eine Warnung sein lassen. Es ist erst vorbei, wenn der letzte dieser verdammten Terminatoren ein für alle Mal außer Gefecht ist. Solange müssen wir auf der Hut sein, ob es uns passt oder nicht.“ Maja sah sich im Wohnzimmer um, als erwarte sie, dass gleich ein T-1000 aus der Wand hinter ihnen heraus wachsen und zu wüten beginnen würde.
Simon sah zu Caroline auf. „Nicht jeder hat es so gut wie wir. In einer solchen Festung, bewacht und beschützt vom treuesten Freund, der einem Menschen so nahe kommt, wie es nur sein kann.“
Der T-X sah weg. „Bedanke dich bei Mahtobu, dem ollen Trottel. Meine Mission ist noch nicht zu Ende. Wenn ich den letzten von euch alten Knackern da draußen in einem Plastikbündel mit Steinen beschwert versenkt habe, dann werde ich frei sein, keinen Moment vorher.“
„Oh, wie mitfühlend und gewählt du dich wieder ausdrückst.“ Karin musste ungewollt schmunzeln.
Nicolas wollte schelmisch grinsend wissen: „Und was gedenkst du dann zu tun? Wenn der letzte von uns ‚alten Knackern’ abgekratzt ist, meine ich.“
„Ach, ich weiß nicht so recht. Das Haus in Ordnung halten, glaube ich. Vielleicht besuchen mich die Kinder ja mal. Oder ihre Kinder oder ihre Enkel. Ich werde sie von euch allen grüßen. Ich werde mich in euch verwandeln und mit euren Stimmen herum schimpfen und zetern, wie ihr es tut.“ Caroline grinste angesichts der entsetzten Mienen ihrer Freunde.
„Das würdest du nicht wagen!“ empörte sich Silke.
„Das würdest du nicht wagen!“ echote Caroline mit Silkes Stimme, aber mit einem bösartigen, keifenden Unterton, worauf sich alle ungewollt den Bauch halten mussten vor Lachen.
Nachdem der erste von ihnen wieder Luft holen konnte, japste er: „Leute, wir haben vor fünf Minuten von John Connors Tod erfahren und lachen uns bereits wieder kaputt. Ist das denn normal?“
Worauf es sehr schnell wieder ruhig wurde.
Marit senkte ihr Haupt: „Wir sollten uns was schämen, Leute. Sein Andenken so mit Füßen zu treten!“
„Also, ich würde nicht wollen, dass alle meinetwegen ewig Trübsal blast. Vielleicht war John Connor ja ein lustiger, lebensbejahender Mensch. Hat ihn jemand von euch persönlich kennen gelernt, während ihr drüben in Amerika wart?“ Dimitri sah sie an.
Nicolas schüttelte den Kopf. „Ich habe viel mit ihm zu tun gehabt, aber immer nur über Funk. Mein Eindruck von ihm war der eines sehr ernsten, verantwortungsvollen Mannes, der sich immer gut um seine Truppen gesorgt und gekümmert hat. Wahrscheinlich sind die Traumata bei ihm zu tief gesessen. Ihr dürft nie vergessen, er hat schon als Kind von dieser Zukunft erfahren.“
Karin meinte versonnen: „Nick hat einmal ausführlich von einer Begegnung mit seinem Sohn erzählt. Er hat zusammen mit Jasemin und Ana bei einem Säuberungstrupp am Rande der Rocky Mountains irgendwo in Wyoming ausgeholfen, als sie ein größeres Kontingent H-Ks und Zenturions vernichtet haben, indem sie eine Zangenbewegung mit einem Truppenteil von Connors Armee koordiniert haben. Das muss kurz nach Beginn der Offensive gewesen sein, bei der wir den North Platte River überquert hatten. Fragt mich nichts genaues, ich war ja nicht dabei. Sie kamen aus den Laramie Mountains und die anderen aus den Bighorn Mountains, worauf sie… warum lachst du, Maja?“
„Du bist und bleibst eine alte Märchentante, Karin! Kannst du vielleicht mal zur Sache kommen und die militärischen Details lassen? Wir sind nicht deine Kindergruppe und wollen uns von dir in den Schlaf lullen lassen.“ Ihre Freundin amüsierte sich köstlich über ihr verärgertes Gesicht.
„Ich wollte nie vor anderen erwähnen, welche alte Märchentante mit ihrem Stoßtrupp deiner Einheit in Südmanitoba den <Wir-haben-alles-unter-Kontrolle-Hintern> gerettet hat, aber du lässt mir ja keine andere Wahl.“ Nun war es an Karin, maliziös zu grinsen, während die Bloßgestellte empört aufkeuchte.
„He, wir hatten eine Abmachung.“
Shin freute sich diebisch: „Auf diese Geschichte freue ich mich schon jetzt; die werden wir uns gleich als nächstes vornehmen. Nein, keine Chance, Maja, das hast du dir selbst zuzuschreiben. Wenn ich mich in so beschämender Weise – und ich bin sicher, es wird sehr, sehr beschämend für unseren Generalmajor werden, nicht wahr, Karin? Gut, sehr gut… also, wer sich von einer Märchentante - nichts für ungut, liebe Karin - aus einer solchen Lage hätte retten lassen müssen, sollte vorsichtig damit sein, was er über diese verlauten lässt.“
Marit führte aus: „Was du sagen willst, heißt als deutsches Sprichwort: Wer im Steinhaus sitzt, soll nicht mit Gläsern werfen, stimmt’s?“
„Du warst noch nie so nahe dran wie diesmal“, prustete Dimitri, nur schwer einen neuerlichen Lachkrampf unterdrückend.
„Jetzt erzähl’ halt endlich deine phantastische Geschichte, werte Ex-Kommilitonin“, soufflierte Maja, bestrebt, die ganze Sache so schnell wie möglich hinter sich zu bringen.
„Oh, es wird bestimmt phantastisch, aber nicht so, wie du denkst“, versprach Karin und fuhr umständlich fort. „Sie haben diesen Angriff also von zwei Seiten mit den beiden Speerspitzen ihrer Armeen durchgeführt und den Blechköpfen so richtig ordentlich eingeheizt. Keiner der miesen Bastarde kommt davon und die Freude auf beiden Seiten über diese äußerst erfolgreiche Kooperation ist groß. Sie beschließen, nach Abklärung der Feindlage gemeinsam zu kampieren und diesen ersten großen Sieg nach Beginn der Offensive im Mittelwesten gebührend zu feiern. Und dann, im Schein der Feuerchen in einer kühlen, halb verschütteten Tiefgarage, begegnen sie Connors Sohn. Fragt mich nicht, wie er heißt, Nick hat seinen Namen genannt, aber… ach, egal.
Sie unterhalten sich sehr gut und verbringen einen netten Abend miteinander, doch Nick und Jasemin sind offenbar nur Luft für den guten, tapferen Jungen. Dafür kann er seine Augen nicht mehr von Ana abwenden und… wenn es dir zuviel wird, musst du nur Bescheid sagen, Maja. Du siehst so blass aus. Sie hat ihm offenbar nicht gesagt, wessen Tochter sie ist, doch dafür hat sie die schöne Unbekannte gespielt.
Und jetzt halt’ dich fest: Connor Junior und Nick machen miteinander aus, dass Connor westlich der Bighorn Mountains nach Norden vorstößt, während Nick und Jasemin östlich der Berge mit seinen Kräften vorstoßen und sie sich am Nordende des Gebirges bei Billings in Montana in einer Woche wieder treffen. Das hat eine zweite hübsche Zange gegeben, in der sie ein weiteres Regiment Bodenfahrzeuge von Skynet aufgerieben haben.
Ana allerdings ist in dieser Woche mit Connors Truppenteil mitgegangen und erst nach besagter Woche wieder zu Nick und Jasemin zurückgekehrt. Was sie in dieser Woche gemacht hat, weiß ich natürlich nicht; ich nehme an, sie hat ihnen beim Kartenlesen geholfen oder so. Jedenfalls hat sie gegrinst wie ein Honigkuchenpferd, nachdem sie zurückkam und nach dem Verleben der Tage bei Connor Junior gefragt wurde.“
Majas Kiefer war immer tiefer herunter geklappt. „Du willst mich auf den Arm nehmen. Sag’, dass das nicht wahr ist!“
Nicolas war ebenso perplex: „Unsere Tochter bandelt mit dem Sohn des Widerstandsführers an. Na warte, Fräulein, wenn du dich hier blicken lässt, kannst du was erleben. Sich mit einem der Westküstenarmee einzulassen… zum Glück weiß das hier in Europa niemand!“
„Glaubt ihr denn ernsthaft, daraus könnte etwas werden?“ fragte Maja zaghaft.
„Na ja, sie hat irgendwann neulich etwas von einem Besuch in Amerika geredet. Ich könnte mir schon vorstellen, dass das einen bestimmten Grund haben wird.“ Karin grinste. „Vielleicht wirst du bald Oma, Maja. Wie gefällt dir dieser Gedanke?“
Und wieder wurde ihr alter Hort der Sicherheit von fröhlichem Gelächter erfüllt.
So ging der Abend voran, ohne dass lange Trübsal um das traurige Schicksal des einstigen Anführers des weltweiten Widerstandes geblasen wurde. Ob ihm das so recht gewesen wäre, wussten sie nicht, doch sie wollten ihn als einen Menschen der Freude und Hoffnung im Gedächtnis behalten, vor allem angesichts der Tatsache, dass sie in Zukunft vielleicht mehr verbinden würde als nur das gemeinsame Ziel, das sie während all der Jahre der Finsternis so hartnäckig verfolgt hatten.
Bei Freiburg im Breisgau, Deutschland 2. Dezember 2001
Rebecca und Thorsten waren gerade in der Küche und kochten Mittagessen, als sie vom Geräusch eines sich nähernden Autos alarmiert wurden. Mit einem sorgenvollen Blick musterten sie sich, als er sagte: „Wer kann das sein?“
„Vielleicht hat sich jemand verfahren“, mutmasste sie, doch beide sahen in den Augen des anderen, dass sie nicht daran glaubten.
Sie eilten zur Haustür, als auch schon Miriam den Flur hinabgeeilt kam, mit einer schußbereiten Panzerfaust in Händen und einem entschlossenen Gesicht.
Thorsten hob beschwichtigend die Arme und zischte ihr zu: „Langsam, meine Liebe. Laß uns erst mal nachsehen.“
Sowohl er als auch Rebecca luden ihre Pistolen durch und steckten sie in den hinteren Hosenbund, sodass die Waffen im Bedarfsfall augenblicklich zur Hand sein würden. Dann öffneten sie und spähten hinaus.
Überrascht keuchte Rebecca auf: „Ein DHL-Lieferwagen! Das muss ein Irrtum sein! Wir haben doch gar keine offizielle Postadresse. Wir können demnach auch keine Zusendungen erhalten. Niemand weiss, dass wir hier sind.“
Worauf sich alle drei bestürzt ansahen, als diese Erkenntnis zu wirken begann.
Der Fahrer stieg aus, sah sich kurz um und entdeckte sie dann an der Tür, worauf er mit einem breiten Grinsen und einem schlichten Brief in der Hand herüber kam. Thorsten soufflierte: „Ganz cool bleiben, okay? Lasst uns erst mal abwarten, was er will.“
Er blieb hinter der Tür verborgen, während Rebecca das Reden übernahm. Der Bote rief fröhlich: „Hallo, ich suche eine Miriam Kaufmann. Bin ich hier richtig?“
Miriam und Thorsten starrten sich perplex an, dann legte sie vorsichtig die Panzerfaust nieder, bemüht um möglichst wenig Lärm. Rebecca entgegnete: „Bitte warten Sie einen Moment, ich hole sie.“
Dann schloss sie die Tür und sah ihre Kameraden an. „Was haltet ihr davon?“
„Die Sache stinkt. Aber wenn du die Sendung nicht annimmst, werden wir nie erfahren, was es damit auf sich hat.“ Thorsten nickte ermutigend.
Miriam seufzte. „Ich habe kein gutes Gefühl dabei. Aber du hast wohl recht, nehme ich an.“
Dann öffnete sie und lächelte den Kurier tapfer an, obwohl es ihr ganz flau im Magen wurde. „Guten Tag. Sie haben etwas für mich?“
„Nur diesen Brief. Keine Ahnung, warum der nicht mit der Post geschickt wurde; na ja, geht mich ja nichts an, solange der Auftraggeber dafür bezahlt. Bitte hier unterschreiben. Kann ich ihren Ausweis sehen?“ Er hielt ihr einen Schreibblock mitsamt Kugelschreiber hin und sah sie erwartungsvoll an.
Sie zückte ihren gefälschten deutschen Personalausweis, während ihr immer mulmiger wurde. „Hier, bitte. Nur ein Brief, sagen Sie? Ja, wirklich komisch.“
„Wem sagen sie das? Mein Kollege von der Auftragserteilung hat gesagt, dass er bereits seit einem Monat gelagert war, bevor er zu diesem bestimmten Dtum ausgeliefert werden sollte. So, das war’s schon. Schönen Tag noch.“ Er tippte sich zum Gruß mit dem Zeigefinger an seine dunkle Baseballkappe und ging zurück zum Lieferwagen.
Miriam schloß die Tür und riss den Brief auf. Das schlichte Blatt Papier war ein anonymer und unpersönlicher PC-Ausdruck, wie Rebecca erkannte, während Miriam die Zeilen überflog und sich ihre Augen weiteten. Dann füllten sie sich mit Tränen und sie begann schluchzend an der Wand herabzurutschen.
Thorsten kniete sich neben sie, um sich um sie zu kümmern, als Rebecca das Blatt zu fassen bekam und die wenigen Zeilen überflog.
Es ist noch nicht vorbei.
Der Tag des Jüngsten Gerichtes ist der 24. Juli 2004.
Versucht nicht mehr, es aufzuhalten.
Nehmt hier mit niemandem mehr Kontakt auf.
Die Zeitlinie darf nicht noch weiter versehrt werden.
Fahrt zurück nach Australien, dort werdet ihr gebraucht.
Ein zukünftiger Freund
Und auch Rebecca versagten die Beine ihren Dienst, als ihre Welt in sich zusammenstürzte und durch denselben alten Alptraum ersetzt wurde, mit dem sie aufgewachsen war und den sie endlich überwunden geglaubt hatte.
Es war so ungerecht.
Doch irgendwo in einem kleinen Winkel ihres Unterbewusstseins keimte neue Hoffnung auf. Sie konnten diesmal etwas bewirken, weil sie noch mehrere Jahre hatten, bis sich Dunkelheit und Chaos über die Welt senken würden. Sie konnten sich diesmal richtig darauf vorbereiten, auf die harten Zeiten und auf die Aufgabe, die sie erwartete. Australien würde von den direkten Atomschlägen verschont bleiben und musste als kleine Oase mit intakter Wirtschaft und weiter bestehenden Bodenschätzen, Rohstoffen und Landwirtschaft erhalten werden. Dafür würden ungeheure Anstrengungen nötig sein, doch sie würden sich nicht scheuen, alles dafür zu geben, dieses Ziel zu erreichen.
Thorsten hatte nun auch die Bedeutung dessen begriffen, was er da in der Hand hielt. Auch ihm war klar, dass sie eine schwere Zeit vor sich hatten, doch es war für den Rest der Menschheit im künftigen Kampf gegen Skynet lebenswichtig, noch irgendwo auf der Welt ein Rückzugsgebiet zu haben, wo dringend benötigtes Material für den Kampf und Nachschub noch hergestellt werden konnte.
Wie oft hatten sie Rationen, Munition oder Hilfsgüter aus Australien oder Südostasien erreicht, wenn die Moral der Truppen am Tiefpunkt gewesen war? Dieses Gefühl, dass es am anderen Ende der Welt Menschen gab, die solidarisch mit den kämpfenden Truppen ihren Beitrag zur Befreiung der Menschheit leisteten, indem sie sie mit allem Notwendigen versorgten, so gut sie konnten…
Ja, sie würden diese Menschen sein. Sie würden dabei helfen, ein funktionierendes Land zu erhalten und die Infrastruktur aufzubauen, die benötigt werden würde.
Sie waren bereit.
- E P I L O G -
Hallevik, Insel Rolla, Troms Fylke, Norwegen 21. Juni 2100
„Sieh’ mal, da vorne ist es, Oma, nicht wahr?“ Das Mädchen im Teenager-Alter deutete nach vorne, wo dichte Wälder neben einer dunklen Bergkette eine Insel bedeckten.
„Ja, meine Kleine, das ist Rolla. Eine lange Reise nähert sich dem Ende.“ Die alte Frau strubbelte dem schwarzhaarigen Mädchen über den Kopf, was diese mit Missmut und Flucht quittierte. Sie lief ans Heck des Decks und sah lieber nach hinten, als sich noch einmal derart behandeln zu lassen.
Eine weite Reise hatten sie fürwahr hinter sich. Von Neuengland aus waren sie mit dem Staustrahljet über die Nordatlantiklinie nach Dänemark geflogen, was dank der neuen Hyperschalltechnik nur anderthalb Stunden gedauert hatte. Dann ging es weiter mit dem Ekranoplan, einem gigantischen Wasserflugzeug aus russischer Produktion mit dicken Stummelflügeln, das in nur zehn Metern Höhe auf seinem eigenen Luftpolster und Düsenantrieb in drei Stunden mit mehreren Zwischenstopps übers Meer bis Bodø geflogen war. Dann hatten sie das gemietete Luftkissenboot in Empfang genommen und waren weitere vier Stunden durch die traumhafte Insellandschaft Mittelnorwegens gefahren.
„Bist du sicher, dass wir das richtige tun? Du weißt, dass die gesamte Insel seit Jahrzehnten Sperrgebiet ist.“ Eine gutaussehende Frau Mitte Fünfzig, vom Aussehen her ein Abbild ihrer Mutter, von den leuchtend blauen Augen abgesehen, sah nachsichtig auf ihre Mutter hinab und versuchte die Zweifel in ihrer Stimme zu unterdrücken.
„Natürlich, auf Anweisung deines Grossvaters. Nicolas Fraisier war sehr weitsichtig, dass er diese Massnahme durchgesetzt hat. So hat sie ihre Ruhe und lässt ihrerseits den Rest der Welt in Ruhe. So ist alles in Ordnung.“
„Du redest von ihr wie von einem Raubtier.“
„Und du hast gar keine Ahnung, wie nahe du damit der Wahrheit kommst.“ Rätselhaft lächelnd blickte die Greisin in längst vergangene Tage zurück.
Als sie sich dem Safehouse näherten, schaltete der Pilot auf manuellen Betrieb um und glitt vorsichtig näher ans Ufer heran. Im letzten Moment riss er das Steuer herum und fluchte: „So ein Mist, da ist ein alter Bootssteg genau auf Meereshöhe. Ich hätte ihn fast nicht gesehen.“
„Ach ja, der ist inzwischen überspült. Der Wasserspiegel der Weltmeere ist seit der Erbauung des Steges ja um fast zwei Meter angestiegen; daran hatte ich nicht mehr gedacht.“
„Aber das Haus sieht noch immer aus wie fast neu. Stellt euch vor, es ist fast hundert Jahre alt. Sie hält es ganz alleine so gut in Schuss, genauso wie sie es damals auch ganz alleine erbaut hat.“
„Kaum zu glauben. Kein Mensch kann das vollbringen“, widersprach Anas Tochter und schüttelte ungläubig den Kopf, während das Hovercraft beinahe lautlos an Land glitt und neben dem Haus zum stehen kam. Schnell schaltete der Pilot die Motoren ab und öffnete die Ausstiegsluke, worauf Mutter, Tochter und Enkelin das Gefährt verließen.
„Und wieder hast du recht, meine Liebe. Kein Mensch kann das vollbringen.“ Sie ging zielstrebig zur Vordertür des Hauses.
„Ein bisschen mulmig wird mir ja schon, Oma. Wir haben etwas über sie in Geschichte gelernt, aber ich hätte mir nie gedacht, dass ich diesen Ort einmal besuchen würde.“ Zumindest Anas Enkelin hatte gehörigen Respekt, wie an ihren vorsichtigen Bewegungen und beinahe ängstlichen Blicken deutlich wurde.
„Was glaubt ihr Spinner, was ihr hier tut?“ ertönte auf einmal eine Stimme übernatürlich laut und jagte ihnen einen gehörigen Schrecken ein. Der Pilot machte einen Satz und zog sich überhastet ins Innere des Bootes zurück.
„Eine alte Freundin besuchen. Hallo, Caroline!“
Zehn Sekunden lang passierte gar nichts, dann schwang die Vordertür nach innen und eine zierliche junge Frau mit sanften Gesichtszügen, großen, sanften Rehaugen und rotbraunen Haaren, die zum Pferdeschwanz zusammen gebunden waren, trat lächelnd ins Freie. „Mein Gott, Anastasia Connor, wie schön, dich zu sehen. Dass ich das noch erleben darf! Wie lange ist das her?“
Sie umarmte die kleine Frau vorsichtig und lachte. „Sag du’s mir, du hast doch das bessere Gedächtnis. Meines lässt allmählich nach, weißt du? Ich bin inzwischen Mitte Achtzig, da ist das schon in Ordnung.“
„Aber rüstig bist du! Lass dich ansehen, ich bekomme so selten Besuch.“ Sie hielt die alte Frau auf Armeslänge entfernt und betrachtete sie eingehend. „Letztes Jahr war Bernd mit seinem Sohn und seinen zwei Enkelkindern da. Zwei ganz reizende junge Frauen.“
„Bernd, der alte vertrocknete Knochensack! Davon hat er gar nichts erzählt. Na warte, macht einen auf fürsorglich dir gegenüber…“ Ana schüttelte den Kopf, wie um zur Besinnung zu kommen. Das gegenseitige Ausstechen mit ihrem jüngeren, aber nun ebenfalls greisen Bruder war hier nicht das Thema. Fast fürsorglich erkundigte sie sich: „Wie geht’s deinem Fusionsreaktor?“
„Ich arbeite innerhalb normaler Parameter, danke der Nachfrage. Kann noch eine Weile dauern, bis ich den Betrieb einstellen werde. Aber genug von mir. Wen hast du denn da Nettes im Schlepptau?“
„Ach, ich werde unflätig auf meine alten Tage. Ich wette, du erinnerst dich nicht mehr an meine liebe kleine Constanze. Und außerdem…“ Ana deutete auf ihre Nachkommen, doch bevor sie ausgeredet hatte, war Caroline schon zu ihrer Enkelin herangetreten und gab ihr artig die Hand, was diese schüchtern erwiderte.
„Aber natürlich weiß ich das noch! Meine Güte, genauso wie ich sie im Gedächtnis habe. Wie ist das nur möglich? Nein, warte, die Augenfarbe stimmt ja gar nicht. Deine Augen sind braun! Wie ist das möglich?“
Verwirrt und verängstigt sah Anas Enkelin zu ihr herüber und sagte weinerlich: „Oma?“
Empört beschwerte diese sich und erklärte dem jungen Mädchen dabei: „Okay, okay, ich habe den versteckten Vorwurf verstanden. So gut verteckt war er ja nun wirklich nicht. Das ist natürlich meine Enkelin Patricia. Sie ist jetzt ziemlich genau so alt wie Conny bei unserem letzten Besuch war, so einfach ist das. Und unser lieber T-XF hier heuchelt Unwissen und stellt mich dadurch bloß. Kein Wunder, wenn ich mich hier nie blicken lasse, oder?“
„Schon gut, tut mir leid“, lenkte diese darauf ein. „Ich wollte euch nicht vergraulen. Aber es ist wirklich schön, euch hier begrüßen zu dürfen. Soll ich dir was sagen, Patricia? Deine Mutter war eine echte Heldin. Was ich dir für Geschichten erzählen könnte, was sie im Krieg alles geleistet hat. Das waren üble Zeiten…“
Darauf sprang der Nachwuchs allerdings sofort an: „Das wäre toll! In der Schule platzen die anderen Mädchen vor Neid, wenn ich ihnen das hier erzähle!“
Constanze wiegelte gleich ab: „Na, glaub’ bloß nicht alles, was sie erzählt. Wer weiß, wie viele Soldatengeschichten nicht pure Übertreibung sind.“
„Caroline ist eine ehrliche Haut, darauf kann man bauen. Wollen wir?“
Caroline hielt den anderen die Tür auf, so dass einer nach dem anderen durch die Schleuse ins Innere gelangte, drei Generationen von Maranoff-Fraisiers. Staunend sah sich vor allem Patricia um, denn sie hatte sich nie eine Vorstellung davon machen können, wie es hier aussehen mochte. Die dreidimensionalen Risszeichnungen und virtuellen Hausbegehungen dieses Monumentes des menschlichen Widerstandes, wie sie sie in der Schule gesehen hatte, konnten die Realität natürlich nicht erreichen. Dennoch hatten unter anderem sie dafür gesorgt, ihr Interesse an Geschichte in einem solchen Maße zu wecken, dass sie sich das Studium der Vorkriegs- und Kriegsjahre als Berufsziel gewählt hatte.
Was niemanden stolzer machte als Ana.
Doch auch für Constanze war es schon so lange her, dass ihre Mutter sie an diesen Zufluchtsort ihrer berühmten und altverdienten Großeltern mitgenommen hatte, dass sie sich kaum noch daran erinnern konnte. In einer flüchtigen Erinnerung tauchte der breite Flur, von dem sämtliche Türen des Stockwerkes abgingen, vor ihrem inneren Auge auf.
Ja, sie war tatsächlich so alt gewesen wie ihre Tochter Patricia jetzt. Sie hatten ihre Großmutter Maja als letzte der alten Gruppe von Generälen und Offizieren, die sich nach dem Krieg hierher zurückgezogen hatten, draußen auf dem Fjord beerdigt, wie es der Wunsch aller dieser Gruppe gewesen war. Es musste mit einer alten schmerzlichen Erinnerung zu tun haben, dass sie alle ausnahmslos diese Art der letzten Ruhe gewählt hatten, doch Caroline schwieg sich wohlweislich darüber aus. In einem schwachen Moment hatte Nicolas einst etwas von den Namensvettern von ihrem Bruder und ihr erwähnt, war aber nicht näher darauf eingegangen.
Als letzte betrat Caroline den gepanzerten Glaskasten, der seine Funktion als ABC-Schleuse damals voll und ganz erfüllt hatte, nun aber ein Anachronismus geworden war und nur noch den freien Eintritt ins Haus behinderte. Nun, dem T-X machte das nichts aus, da sie ebenfalls ein Übrigbleibsel aus längst vergangenen Zeiten geworden war und hier ihr Gnadenbrot fristete. Alle paar Schaltjahre wurde sie von den Nachkommen ihrer alten Freunde besucht und ansonsten vom Rest der Welt, der ihr mit Achtung und Respekt für ihre Verdienste, aber auch Mißtrauen und manchmal Angst begegnete, tunlichst gemieden. Ihre Quarantäne hier war sicher das Beste für alle.
Sie zog die schwere Tür zu und schloss die Welt damit aus. Caroline führte ihre Gäste herum und zeigte ihnen alle Zimmer, erklärte dem staunenden Nachwuchs Anas die Funktionen des Hauses und konnte mit vielen kleinen Anekdoten und Geschichten über die historischen Persönlichkeiten aufwarten, die hier gemeinsam als junge Menschen die schlimmsten Jahre der Menschheitsgeschichte überdauert hatten, doch davon bekam die Außenwelt nichts mit.
Der Pilot zog sich gelangweilt seine Mütze übers Gesicht und lehnte sich zurück.
Das konnte dauern, wenn alte Freunde sich trafen.
Und daheim würden sich alle begierig auf ihn stürzen und jedes kleine Detail in Erfahrung bringen wollen. Denn er hatte gerade den definitiv letzten Terminator der Welt leibhaftig vor sich gesehen.
Oder?
- E N D E -
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