Schriftgröße  Schriftart  Ausrichtung  Zeilenabstand  Zeilenbreite  Kontrast 

Terminator Band 3 - Grausame Realität

von andilone
Kurzbeschreibung
GeschichteAbenteuer / P18 / Gen
Terminator T-1000 Terminator T-850 Terminator T-X
22.12.2006
22.12.2006
6
169.639
5
Alle Kapitel
3 Reviews
Dieses Kapitel
noch keine Reviews
 
22.12.2006 28.787
 
- 4 -

Hallevik, Insel Rolla, Troms Fylke, Norwegen                        28. August 2006

Kopfschüttelnd kam Daniel zu ihnen zurück gelaufen, mit leicht lädierter, angerissener  Kleidung, blutender Stirn und an den Knien aufgeplatzten Hosen, unter deren weggerissener Haut mattes Metall schimmerte. „Habt ihr das gesehen? Diese kleine Wildkatze hätte mich tatsächlich umgefahren.“
„Hätte? Bist du verrückt? Du hättest sterben können!“ schrie Silke ihn an, nahe an einer Hysterie.
Er winkte ab. „Oh bitte! Mich mit dem Auto terminieren? Unsinn! Wir haben vielmehr Pech gehabt, dass sei eine Vollbremsung gemacht hat, bevor sie mich getroffen hat.“
„Was? Wie meinst du das?“ stotterte Silke, jetzt völlig perplex.
„Na, ist doch klar. Wenn sie mich mit ihrer Ausgangsgeschwindigkeit angefahren hätte, wäre der Aufprall viel heftiger gewesen. Ich hätte ihr den Kühler völlig zertrümmert und ihr den Motor und die Vorderachse ins Fahrzeug hinein geschoben. Sie hätte keinesfalls weiter fahren können, so aber ist sie entkommen, auch wenn sie mit dem Auto nun keine Weltreise mehr machen kann. Ein Jammer um den schönen Volvo!“
Maja lachte nun ungewollt und schlug ihm auf die Schulter: „Weißt du, wir vergessen ab und zu tatsächlich, dass du doch nur ein Sack Schrauben bist.“
„Sehr charmant, wie immer, gnä’ Frau. Können wir bitte zurück zum Safehouse? Ich benötige ein wenig oberflächliche Behandlung, damit diese Wunden sauber verheilen werden. Und wir müssen uns unbedingt zusammensetzen und beraten, welche Konsequenzen Marits Flucht hat. Vor allem, was sie dazu bewogen hat, in diesem Zustand das Haus zu verlassen, obwohl sie noch nicht einmal völlig wieder hergestellt war.“



„Niemand hat das ahnen können“, warf Karin bei ihrer ‚Konferenz’ ein, welche das Ereignis nach sich zog.
„Noch hat irgendeiner von uns dreien eine Wahrscheinlichkeitsprojektion über diese Möglichkeit errechnet, die Anlass zur Vorsicht gegeben hätte“, fügte Abbey hinzu, mit <uns dreien> die Terminatoren im Haus meinend.
„Wir alle haben sie falsch eingeschätzt… und unterschätzt“, fasste Aishe schon vorab das Resultat zusammen, auf das ihre Besprechung hinaus laufen würde.
„Selbstverständlich muss sie hart im Nehmen sein, wenn sie in dieser Welt überleben und sich im künftigen menschlichen Widerstand behaupten können will. Doch dass sie sich von diesem Beinahe-Tod-Erlebnis so schnell erholen würde und es tatsächlich schafft, unbemerkt aus dem Safehouse zu fliehen… eine außergewöhnliche Leistung.“ Daniels zahlreiche Verbände veranschaulichten seine Aussage.
„Aber was können ihre Beweggründe sein?“ fragte Shin in die Runde.
„Das kann ich beantworten, glaube ich.“ Dimitri räusperte sich, die Enttäuschung, die ihm immer noch ins Gesicht geschrieben stand, nur schlecht verbergend. „Wir haben am Abend ihres Rückfalls darüber geredet, wobei ihre voreingenommene Haltung und ihre bedingungslose Loyalität zu Lars und seiner Kommune deutlich wurden. Sie hat mir schlichtweg nicht geglaubt, dass er versucht hat, uns mit Waffengewalt unsere Vorräte abzunehmen und sogar unser Leben bedroht hat. Sie hat wohl ein tief verwurzeltes Verantwortungsbewusstsein gegenüber den Leuten in Skjellelv, obwohl sie noch nicht so lange dabei ist.“
Abbey sah auf. „Wir müssen vom schlimmstmöglichen Fall ausgehen, wenn das stimmt.“
Simon schluckte. „Und der wäre?“
„Nun, mein Lieber, da Marit mit einem der Autos geflohen ist, muss sie durch den Verbindungsgang im Keller in die Garage gelangt sein. Das impliziert, dass sie sich dort umgesehen hat, vielleicht sogar eingehend. Wenn sie nun Lars eine detaillierte Schilderung über die Art und den Umfang unserer Vorräte gibt…“ Abbey ließ den Satz unvollendet im Raum stehen.
„Fort Knox.“ Auf diesen gemurmelten Begriff hin sahen alle Karin an. „Genau dafür wird er das Safehouse halten, und nicht einmal so falsch damit liegen. Mit unseren gesamten Vorräten ausgestattet, könnten sie bequem überwintern und hätten umfangreiche Treibstoffreserven.“
„Unsere Situation hat sich enorm verschlechtert, was die Sicherheit angeht“, schloss Daniel. „Dummerweise hat sie hier auch einige Dinge gesehen, die nicht so einfach zu erklären sein werden. Wir können davon ausgehen, dass ihr das niemand glauben wird. Mein Versuch, sie aufzuhalten eingeschlossen.“
„Wenn sie schlau ist, behält sie das für sich oder erzählt nur soviel, dass Lars mit größter Umsicht vorgehen wird, wenn er uns das nächste Mal angreifen wird. Beachtet bitte, dass ich ‚wenn’ sage, nicht ‚falls’. Denn dass er uns nochmals angreifen wird, ist nun sicher. All unsere Abschreckungsversuche werden nun keine Wirkung mehr haben. Sie werden angreifen, und sei es nur mit dem Mut der Verzweiflung.“ Caroline wirkte teilnahmslos und schien bereits Strategien zur Verteidigung durch zu spielen.
„Wir sind bereit zu kämpfen“, sagte Shin entschlossen, doch Abbey schüttelte umgehend den Kopf.
„Eure Involvierung in die Verteidigung steht nicht zur Debatte. Erst wenn wir vier Terminatoren außer Funktion sind und sich die Schergen von Lars einen Weg ins Haus frei sprengen, wird der Erste von euch zur Waffe greifen müssen, keine Minute vorher. Dies hier ist keine Attacke von Skynet, wie wir sie letztes Jahr erlebt haben. Die Natur des Angriffes und die Methoden, wie wir ihn abwehren, unterscheiden sich gänzlich davon. Wir können nur sicherstellen, dass niemand getötet wird, wenn auf unserer Seite keine Menschen in die Kämpfe einbezogen werden.“
„Soviel zu eurem Vertrauen in uns“, sagte Silke frustriert mit finsterem Blick.
„Bitte versteht das nicht falsch, es geht hier nicht darum. Objektiv fehlt euch einfach die Präzision beim Gebrauch von Waffen, um sicher zu stellen, dass keiner unserer Gegner getötet wird, und sei es nur aus Versehen in der Hitze des Gefechtes. Und ihr wart es schließlich, die ausdrücklich von uns verlangt haben, um jeden Preis die Leben der Gegner zu schonen“, gab Caroline zu bedenken.
„Woran sich auch nichts geändert hat“, bekräftigte Aishe mit verschränkten Armen und trotziger Miene.
„Dann sollten wir als erstes nochmals unsere Entscheidung überdenken, was den Einsatz des T-1000 betrifft. Wir vier allein könnten nämlich an den Rand unserer Möglichkeiten kommen, wenn es darum geht, das Haus gegen eine sehr große Anzahl von Angreifern erfolgreich zu verteidigen, ohne dass jemand von Lars’ Leuten sein Leben dabei lässt.“ Daniel schien es nicht zu gefallen, diesen Punkt erneut aufzugreifen, sah aber offenbar keine andere Möglichkeit.
„Ich dachte, wir hätten diesen Punkt bereits abgehakt“, knurrte Dimitri.
„Das soll jetzt nicht als Kritik gedacht sein, aber du hättest uns über den Inhalt des Gespräches mit Marit informieren sollen. Anhand dieser Daten wäre das Ergebnis unserer Vorhersagen bezüglich Marits Verhalten anders ausgefallen und diese missliche Situation hätte unter Umständen vermieden werden können.“ Caroline sah ihn unverwandt an.
„Na toll, das soll keine Kritik sein?“ Mit saurer Miene stand er auf und verließ den Raum unter den unsicheren Blicken der anderen Menschen.
„Wie ist dein Standpunkt in dieser Sache, Karin? Willst wenigstens du deine Entscheidung überdenken, zum Wohl der allgemeinen Sicherheit? Wenn wir angegriffen werden sollten, sind drei Terminatoren vielleicht nicht genug. Bis Annie vom Gipfel des Rolla bei uns ist, ist die ganze Sache schon vorüber, so oder so. Wir würden den T-1000 ja nur zur Aufklärung einsetzen, so wie jetzt Annie. Diese hätte dann eine echte Chance, hier im Haus mit euch zu interagieren und sich zu entwickeln.“ Abbey sah sie gespannt an.
„Es wird schon reichen, so wie es jetzt ist.“ Auch sie stand auf und ging mit versteinerter, harter Miene hinaus.
„Ihre Einstellungen sind nicht sehr hilfreich für unsere Mission“, sagte Daniel mit wenig Enthusiasmus in der Stimme.
„Und wie kommt ihr darauf, dass ihr Marits Flucht eher hättet vorhersehen können, wenn Dimitri euch von seinem Gespräch mit ihr erzählt hätte?“ Aishe stemmte die Hände in die Hüften, erzürnt über die Art, wie Karin und Dimitri brüskiert worden waren.
„Weil ich Marit an diesem Abend in der Küche überrascht habe. Sie machte einen verwirrten Eindruck und hat mich sogar angegriffen, was ich allerdings als paranoide Anwandlungen im Fieberwahn interpretiert habe“, räumte Caroline bedächtig ein.
„Fehlinterpretiert, wolltest du wohl sagen“, brauste Shin auf. „Wie sah das denn aus?“
„Sie warf ein Glas zu Boden und als ich mich bückte, um die Scherben aufzuheben, schlug sie mir mit einem Pfefferstreuer auf den Hinterkopf. Dummerweise ist er dabei zerbrochen, was ihr wohl auch reichlich seltsam vorkommen musste.“
„Ihr könnt nicht Wasser predigen und Wein trinken“, hielt Simon ihr nun vor, „denn von dieser Begebenheit hättet ihr uns auch erzählen müssen. Einige von uns hätten daraus die richtigen Schlüsse ziehen können, ist euch das nie in den Sinn gekommen?“
Betretenes Schweigen von den drei Kunstmenschen.
Nicolas erhob sich und verkündete mit ernster Miene: „Es wird allmählich Zeit, dass ihr endlich beginnt, uns wie die zukünftigen Führer des Widerstandes zu behandeln, die wir einst werden sollen. Wie sollen wir jemals zu diesen Personen heranreifen, wenn ihr nur jeglichen Ärger und alle Probleme immerzu von uns fernhalten wollt?“
Weiteres Schweigen.
„Ich jedenfalls habe davon genug. Wenn ihr wieder zur Vernunft gekommen seid, können wir ja weiter darüber reden.“ Er ging ohne einen weiteren Blick zur Tür und verließ die Versammlung.
„Das musste ja früher oder später passieren“, sagte Daniel seufzend. „Aber was sollen wir denn machen? Wir haben unsere Missionsparameter, an denen wir nichts drehen können. Die Order sind deutlich definiert.“
Silke meinte: „Na ja, in etwa fünfundzwanzig Jahren können wir uns dann ja persönlich bei General Mahtobu für den Haufen Bockmist bedanken, mit dem er euch programmiert hat. Ich persönliche neige dazu, ihn dafür mindestens anzuschießen.“
Als sie mit hocherhobenem Kopf ebenfalls davon rauschte, schüttelte Shin ratlos den Kopf. „Wie soll es jetzt nur weiter gehen?“
„Unser einziger Lichtblick ist Annie“, meinte Maja seufzend.
„Wieso das denn?“ wollte Simon prompt wissen, sich im geschrumpften Kreis umsehend.
Maja führte gelangweilt aus: „Sie ist nicht den gleichen Beschränkungen wie unsere drei Beschützer unterworfen.“
„Ja, damit, dass wir einen feindlichen Terminator gefangen nehmen, reprogrammieren und ihn mit auf WRITE-Modus umgestellter CPU für uns einsetzen, hat wohl niemand gerechnet. So weit hat niemand im Widerstand gedacht“, erklärte Abbey. „Sie kann lernen, einen eigenen Willen entwickeln und noch vernünftiger und menschenähnlicher werden als selbst Caroline.“
„Das ist richtig“, gab diese unumwunden zu.
„Aber auf ihrem Berggipfel oben kann sie das nicht“, warf Shin ein. „Wollt ihr sie nicht wenigstens zeitweise ablösen?“
„Das können wir natürlich tun, wenn ihr das einstimmig beschließt“, gestand Daniel ihnen zu, insgeheim erleichtert über diese Entwicklung des Gespräches. „Uns würde das nicht viel ausmachen, aber es ist an euch, zu entscheiden, ob ihr emotional damit zu recht kommen werdet.“
„Dann müssen wir die anderen wieder holen und sie ebenfalls über diese Angelegenheit informieren“, schlug Abbey vor.
„Gut, tun wir das“, stimmte Maja ein und erhob sich bereits, um die vier Abwesenden wieder zur Konferenz zu rufen. Glücklicher weise hatte niemand etwas dagegen, die Leid geprüfte Annie in ihre Gruppe zu integrieren.



Hallevik, Insel Rolla, Troms Fylke, Norwegen                        31. August 2006

Aishe und Shin frönten wieder einmal dem Fischen und hatten heute Nachmittag einen recht guten Fang gemacht. Der Himmel war nur von einer relativ dünnen und sehr hohen Wolkenschicht bedeckt, die einiges an Helligkeit durchließ, doch fern im Westen rollte eine regelrechte Wolkenwand heran, die sich dunkel und geballt bis fast auf Meereshöhe unter der Höhendecke heran schob. Morgen würde kein so milder Tag werden, soviel stand fest.
Shin sah sich von Zeit zu Zeit nervös um und meinte dann entnervt: „Weißt du, manchmal wünschte ich, sie würden endlich angreifen, dann hätten wir es wenigstens hinter uns. Diese Anspannung zehrt ganz schön an den Nerven.“
„Das kannst du unmöglich ernst meinen“, wies Aishe ihn mit gerunzelter Stirn zurecht. „Sei lieber froh, solange wir noch fischen können. Wer weiß, wie lange wir noch offenes Meer haben. Mit dem Treibeis ist’s dann vorbei, das reißt jedes Netz entzwei.“
„Vielleicht können wir ja ein Loch in eine Scholle bohren und eisfischen“, witzelte er und stupste sie sanft an, worauf sie kichern musste.
Dann legte sie den Kopf in den Nacken und sah hinauf zum Rolla, wo heute Abbey auf dem Gipfel Wache hielt. Die Gruppe hatte tatsächlich dafür entschieden, Annie nicht mehr im Dauereinsatz zu belassen. So hatten sie einen simplen Dreierturnus erarbeitet, in dem sie sich täglich ablösten, aber nur Abbey, Daniel und Annie. Caroline sollte immer beim Safehouse bleiben, da sie als einziger T-X die höchste Kampfkraft aufwies und ihnen darum bei einem Angriff von Lars nichts nutzte, wenn sie fern des Geschehens auf dem Berggipfel herumsaß. Für einen Menschen wäre das ungerecht erschienen, doch die Terminatoren ordneten sich ohne ein Wimpernzucken der Logik der Argumente unter, womit für sie eine höchstmögliche Effizienz bei der Sicherung des Safehouses erreicht werden konnte.
Sie winkte mit weit ausholendem Armschwung und entdeckte tatsächlich eine Bewegung auf der Spitze des weißen Rolla. Alles in Ordnung, wie es den Anschein machte.
„Es wird langsam, kühl, Schatz. Wollen wir Schluss machen für heute?“



Hallevik, Insel Rolla, Troms Fylke, Norwegen                         02. September 2006

Es war schon spät abends und das Wetter war miserabel. Seit zwei Tagen herrschte Dauernebel, der alles um das Safehouse herum wie in Watte gepackt hatte. Man sah keine fünfzig Meter weit auf die See hinaus, welche spiegelglatt war und sich merklich abgekühlt hatte. Nachts näherten sie sich nun selbst auf Meereshöhe schon dem Gefrierpunkt, wobei die feuchte kühle Luft hier oben auf fast neunhundert Meter erheblich kälter war, auch wenn der Windchill fast völlig fehlte.
Daniel machte das nichts aus. Er ertrug die Eintagesschichten mit der gleichen stoischen Ruhe, die auch Abbey und vor allem Annie an den Tag legten. Letztere war fröhlich und gut gelaunt vom Gipfel herab gestiegen, als sei nur mal eben kurz oben gewesen, nicht viele Monate beinahe ununterbrochen. Wenn es so etwas gab wie ein elektronisches Pendant für Schuldgefühle, so hatten Abbey, Daniel und Caroline dieses gegenüber Annie. Denn schlussendlich mussten sie selbst sich doch eingestehen, dass Annie nicht schlechter oder besser war, nein, sein konnte als sie. Sie war einfach mit Missionsparametern gefüttert worden, die sich in ihren Zielen von den ihren unterschieden und sie so in Konflikt zueinander gebracht hatten. Jetzt war sie mit ihren Parametern versehen worden und stand uneingeschränkt auf ihrer Seite. Zudem hatten sie Annie ein Geschenk gemacht, das ihnen für den Rest der Lebensdauer ihrer Energiezellen wahrscheinlich verwehrt bleiben würde.
Indem sie Annies CPU auf WRITE gestellt hatten, was ihnen ihre Programmierung nicht verwehrte, hatte sie die Möglichkeit, neue Informationen zu verwerten und zu lernen wie ein organisches Gehirn, sich weiter zu entwickeln. Bei ihnen selbst war der unmissverständliche Befehl eingegeben, sich gegen eine Manipulation ihrer CPU bis zur Zerstörung zu wehren, wenn es sein musste. Mahtobu hatte nicht wollen, dass sie sich zu viele Gedanken machten, wie er es ausgedrückt hatte. Glücklicher weise war ihre Grundmatrix von so großem Umfang, dass sie bereits menschenähnliches Gebaren an den Tag legten, auch wenn sie keine neuen Verhaltensmuster mehr entwickeln und letztendlich einen freien Willen zu erlangen vermochten.
Daniel wurde auf einige schwache Signale aufmerksam, die seine Infrarotsensoren unten im Wald an der Küste jenseits des Hauses auffingen. Durch den dichten Nebel, der den Berg bis auf Meereshöhe und damit auch die gesamte Insel einhüllte, war die Reichweite all seiner künstlichen Sinne stark eingeschränkt, doch nun tauchten immer mehr eng umgrenzte Zonen auf dem Bild seines Sichtfeldes auf, welche auf eine Wärmequelle hinwiesen. Als er bei einem Dutzend angelangt war, wurden die ersten bereits klassifiziert: menschliche Körper als Auslöser der Signaturen.
Sie hatten das schlechte Wetter dazu benutzt, sich unentdeckt bis fast ans Safehouse heran zu schleichen. Wahrscheinlich waren sie ein ganzes Stück weiter nördlich an Land gegangen.
Es war soweit: Lars griff an. Während er immer neue Ziele identifizierte, packte Daniel in Windeseile einige seiner Waffen und begann den gefährlichen Abstieg mit halsbrecherischem Tempo.



Maja schlief relativ unruhig und zuckte deshalb augenblicklich zusammen, als sie zum ersten Mal seit Jahren eine Vibration im Haus spürte. Irgendetwas war geschehen. Sie richtete sich vollends im Bett auf und fragte in die Dunkelheit hinein: „Nicolas?“
„Hast du es auch gespürt?“ antwortete seine vertraute Stimme aus der absoluten Finsternis unter ihr. Seitdem er zu ihr in ihr Zimmer gezogen war, schliefen sie je nach Lust und Laune in einem Bett oder jeder in seinem, wenn sie sich mal individuell ausstrecken wollten, denn es war doch recht eng in den Einzelbetten für zwei.
Sie schwang ihre Beine aus dem Bett und ließ sich langsam zu Boden gleiten. Er war bereits am Lichtschalter und stellte die Beleuchtung ein, worauf sie schnell in ihre bereit liegenden leichten Jogginganzüge schlüpften und dann auf den Flur hinausgingen. Zu ihrer Überraschung befanden sich Caroline und Abbey bereits vor der Schleuse, Annie kam gerade aus dem Keller, wo sie sich – wie die anderen beiden – schwer bewaffnet hatte.
„Was ist los?“ wollte Nicolas wissen.
Abbey wandte sich um. „Es ist Lars. Er greift wieder an, doch diesmal hat er sich durch den Nebel dem Haus bis auf vierhundert Meter nähern können, bevor er von Daniel entdeckt worden ist. Was ihr eben gespürt habt, war der Einschlag eines leichten Mörsergeschosses. Er will uns offenbar erst mal zu Schutt bomben und dann sehen, was im  Keller noch übrig ist. Dass unser Dach nicht aus Schindeln und Holz besteht, sondern aus fünfzig Zentimetern verstärktem Stahlbeton, kann er ja nicht wissen; das ist der einzige Bereich, den Marit nicht ausspioniert hat.“
„Gott sei Dank weiß sie auch nichts vom Luftkissenboot, sodass sie ihnen nichts verraten konnte. In diesem Nebel mitten in der Nacht müssten sie schon direkt über das Tarnnetz stolpern, um es bei der guten Tarnung zu entdecken.“ Annie hatte ihr Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden gehabt, seit sie ins Safehouse ‚eingezogen’ war, um sich optisch wenigstens ein wenig von Abbey zu unterscheiden. Jetzt öffnete sie die feuerrote Mähne und beseitigte dieses Merkmal, sodass sie in dem dunklen Anzug aus Militärbeständen identisch aussah wie ihre ‚Zwillingsschwester’.
„Bitte seid vorsichtig“, bat Maja.
„Das solltet ihr den Toren dort draußen raten“, antwortete Caroline entschlossen. „Oh Mann, wie mir das stinkt, schon wieder nach Skellelv fahren zu müssen und ihnen diesmal zwei Boote zu versenken. Sie brauchen diese Schiffe doch so dringend! Warum tun sie sich das nur an? Denkt Lars vielleicht, mir macht das Spaß?“
Sie trat als erste in die Schleuse und balancierte ihr kleines Arsenal durch die dafür relativ schmale Luke. Maja schätzte, dass sie etwa mit vierzig Kilogramm Waffen beladen war. Abbey löschte nun das Licht im Flur, um niemandem außerhalb des Hauses durch nach draußen fallendes Licht zu verraten, dass Caroline ins Freie trat.
Eine erneute Vibration zeugte von einem weiteren Treffer mit einem schwereren Sprengkopf. Wie auf Kommando erschienen nun alle anderen bekleidet auf dem Flur; sie mussten ebenfalls alle schon bei der ersten Erschütterung erwacht sein, was für die geschärften Sinne jedes einzelnen Mitgliedes der Gruppe sprach.
Leider galt das auch für Nick, den man lauthals schreien hörte, als sich Karins Zimmertür öffnete. Für den Säugling, der im Safehouse besonders behütet aufwuchs und noch nie in seinem Leben eine solche Störung seiner Umwelt erlebt hatte, war diese Erfahrung besonders traumatisch. Abbey verließ als zweite das Haus, während Annie indes die gesamte Gruppe nochmals kurz informierte. Dann schien auch sie Anstalten zu machen, die Schleuse nach draußen zu betreten.
Shin fragte unruhig: „Ihr geht alle raus und lasst uns alleine hier im Haus?“
„Das ist unumgänglich. Daniel ist erst zu einem Drittel zum Rolla abgestiegen, hat aber inzwischen schon dreiundvierzig Ortungen, Tendenz steigend. Diesmal meinen sie es ernst, Shin. Eure Aufgabe ist es, wie in unseren Übungen Position zu beziehen und das Safehouse von innen zu sichern. Alles klar?“
Aishe rief ihr nach: „Vergesst nicht, keine Toten!“
„Wir tun, was wir können. Falls erforderlich, improvisieren wir.“ Sie zwinkerte ihr zu und schloss dann die Panzerglastür. Einen Moment darauf war auch sie in die neblige Finsternis verschwunden. Als die Außentür geschlossen war, schaltete Simon das Licht wieder ein.
„Ihr habt es gehört. Lasst uns unsere Posten einnehmen.“ Er griff sich ‚seine’ Waffe, die wieder an der Wand hing, seit Marit auf so spektakuläre Weise getürmt war. Die anderen taten es ihm nach und verteilten sich, um die Schleuse, die Balkontür und den Durchgang zum Keller zu überwachen. Niemand von ihnen glaubte ernsthaft, dass es einem von Lars’ Leuten gelingen würde, bis ins Innere des Hauses vorzudringen, aber Vorsicht konnte nicht schaden.



Die Finsternis war nicht vollständig, da Halbmond war und die Sonne zu dieser Jahres- und Uhrzeit noch nicht sehr tief unter dem Horizont stand. Dennoch konnte man keine zehn Meter weit deutlich sehen, bevor die dichten, vom Meer heraufwabernden Nebelschwaden sämtliche Formen in Schemen verwandelten. Lars hatte seine Boote das letzte Stück bis zur Ruine Hallevik in Sichtweite zum Ufer praktisch im Leerlauf die Küste entlanglaufen lassen. Dann hatten sie angelandet und waren parallel zur Küste durch den Wald gegangen, wobei sie sich verteilt hatten. Als der große dunkle Schatten des Safehouses vor ihnen auftauchte, hatte er Halt befohlen und den Mörser aufstellen lassen. Er hatte in der Tat vor, das Haus zunächst aus sicherer Entfernung zusammen zu schießen und danach den Keller auszuräumen. Wenn Marits Angaben korrekt waren, konnten sie sich mit dem Leeren des unterirdischen, gut geschützten Tanklagers dann ruhig Zeit lassen.
Nochmals bellte der Granatwerfer auf und entließ ein scharf pfeifendes Geschoß, das mit einem ohrenbetäubenden Knall auf dem Dach des Hauses detonierte. Das war jetzt der vierte direkte Treffer gewesen. Inzwischen stand sicher kein Stein mehr auf dem anderen.
Sie begannen weiter vorzurücken, als Lars plötzlich für einen Augenblick vor ihm in der Nacht zwei dicht zusammen liegende, rot glühende Punkte sah. Er musste an eine Katze denken, doch diese Punkte waren in Augenhöhe gelegen. Was konnte das nur sein?
Dann brach rings um ihn herum die Hölle los.
Schweres Feuer aus mehreren Sturmgewehren erklang aus verschiedenen Richtungen und die Kugeln pfiffen ihnen um die Ohren, als sie in Kopfhöhe mit kurzen Salven bestrichen wurden. Sofort ging ein Großteil von ihnen in Deckung, Rufe und Anweisungen wurden durcheinander gerufen und seine Männer schossen wild um sich, wobei sie allerdings nur sich selbst ernsthaft gefährdeten. Es ging alles so schnell, dass hinterher keiner von ihnen noch sagen konnte, was genau passiert war.
Lars konnte im totalen Chaos, zu dem sich sein wohl geplanter Angriff gewandelt hatte, nichts von dem wilden Hin- und Herrufen mehr verstehen und sich so kein Bild der Lage machen. Schmerzensschreie mischten sich nun unter die Rufe seiner Leute. Die ganze Sache war ihm innerhalb weniger Sekunden aus den Fingern geglitten, ohne dass er etwas dagegen hätte tun können.
Ohne jede Vorwarnung schälte sich ein großer, schlanker Umriss aus der Dunkelheit neben ihm heraus. Reflexhaft riss er sein Gewehr herum und gab einen Feuerstoss auf die Gestalt ab, doch er musste sie verfehlt haben, denn im nächsten Moment war sie bei ihm. Lars konnte gerade noch eine rote Haarmähne aus dem Augenwinkel erkennen, bevor er grob nach vorne gerissen und flach auf den Boden gedrückt wurde. Ein Knie senkte sich schwer auf sein Kreuz und nagelte ihn auf dem feuchten, moosbedeckten Waldgrund fest. Eine Hand drückte sich auf seinen Hinterkopf und presste sein Gesicht so tief ins Moos, dass er gerade noch Atem holen konnte, aber unfähig war, auch nur einen Ton von sich zu geben.
„Warum könnt ihr es nicht lassen? Wir haben euch doch gewarnt! Ihr müsst euch endlich klar darüber werden, dass das hier kein Spiel ist, sondern bitterer, tödlicher Ernst. Ihr lasst euch auf etwas ein, das ihr nicht verstehen könnt.“
Lars begann zu keuchen. Trotz seines höheren Gewichtes gelang es ihm auch mit vollem Körpereinsatz nicht, sich freizukämpfen. Geschweige denn, sich auch nur vom Fleck zu rühren. Bei ihrer ersten Begegnung hatte er noch angenommen, dass das große braunhaarige Mädchen einen Glückstreffer gelandet hatte, als sie ihn auf dem Steg von den Füßen geholt hatte, doch die Art, wie die rothaarige Amazone ihn hier immobilisiert hatte, besaß etwas professionelles, bedrohliches.
„Rückzug! Los, Rückzug! Wir kommen am Tag wieder!“ Kaum hatte Lars diesen Ausruf gehört, nahm er rund um sich herum hektische Aktivität wahr, als seine Männer aufsprangen und durch den Nebel zurück in Richtung der Boote hasteten, immer noch begleitet vom anhaltenden Beschuss aus der Dunkelheit.
„Na los, macht schon! Wir fahren so schnell wie möglich zurück nach Skjellelv!“ Erst jetzt wurde Lars etwas klar.
Das war seine Stimme, die ihnen da zurief, sie sollten sich aus dem Staub machen.
Er vernahm dicht neben seinem Ohr eine leises Wispern: „Tut euch einen Gefallen und kommt nie wieder.“
Dann war er allein. Bevor er auch nur aufblicken konnte, war die Rothaarige im Nebel verschwunden; er konnte nicht einmal raten, in welche Richtung.
Er kauerte wie erstarrt hinter einem Baumstumpf. Das konnte doch nicht sein! Wie war so etwas möglich?
Bis es ihm dämmerte, selbst etwas zu rufen und seine vermeintlichen Befehle zu negieren, waren die meisten seiner Leute bereits längst außer Hörweite. Da der dichte Nebel die Geräusche um ihn herum wie in Watte gepackt dämpfte und verschluckte, vernahmen die meisten nichts mehr von seinen Ordern. So blieb ihm nicht viel mehr übrig, als selbst das Heil in der Flucht zu suchen.
Als er am Rande der Hörweite zum Haus war, wie er dachte, wandte er sich nochmals um und rief wutentbrannt: „Das werdet ihr mir büssen. Euer Haus ist nur noch Schutt und Asche! Lange könnt ihr nicht mehr überleben!“
Als Antwort fiel ein einzelner Schuss, welcher ihm zum zweiten Mal die Mütze vom Kopf fegte. Lauf fluchend ließ er sich fallen und tastete den Boden einige Sekunden ab, bis er seine Kopfbedeckung gefunden hatte. Wie auch beim ersten Mal hatte die großkalibrige Kugel ein großes Loch ins Leder gerissen, so dass die Kappe nun kaum noch zu gebrauchen war. Mit knirschenden Zähnen hastete er durch den Wald, bis er die Ruine des alten Fischerdorfes Hallevik schemenhaft links neben sich erkannte und auf die Küste zuhielt.
Zu seiner Verblüffung war nur noch ein einziges Boot da, auf das eben noch ein paar Nachzügler stiegen und das im Begriff war, abzulegen. Er rief und winkte, worauf alle an Bord erschrocken registrierten, wer da noch an Land war. Als er an Bord kletterte, fragte er sich, was da schief gelaufen war. Sie mussten sehr gute Nachtsichtgeräte besitzen, um in einem solch dichten Nebel überhaupt zu sehen, wohin sie schossen.
Das würde ein Nachspiel haben. Das letzte Wort in dieser Angelegenheit war noch längst nicht gesprochen. Morgen würden sie zunächst ein Aufklärungsschiff über den Vågsfjorden schicken, natürlich in gehörigem Respektabstand, denn ihre Waffen hatten ihre Gegner ja noch, auch wenn das Haus selbst zerstört sein musste. Wahrscheinlich mussten sie diese Nacht im Keller verbringen, wenn sie die Treppe in dem Trümmerfeld überhaupt würden freilegen können. Das Gefühl des Schutzes und der Geborgenheit, die Marit ihm beschrieben hatte, war nun für sie zunichte gemacht. Lars war sich ziemlich sicher, dass sie jetzt aufgeben würden und sich mit so vielen Vorräten, wie sie in ihre Fahrzeuge laden konnten, aus dem Staub machen würden. Dann würde ihre Stunde schlagen.
Eldorado.
Er beugte sich in den Windschatten des Führerhauses und grinste still vor sich hin.



Maja, Aishe und Karin standen an der Schleuse mit angelegten Sturmgewehren und hielten Wache, wobei Karin mehr an der Tür zu ihrem Zimmer stand als an ihrem Posten. Sie hatte es geschafft, ihren kleinen Sohn zu beruhigen und horchte nun mit einem Ohr in ihr dunkles Zimmer hinein, ob er schlief. Somit standen nur noch Aishe und Maja direkt an der Eingangstür.
Beide sahen sich nervös an; unwillkürlich drängte sich die Erinnerung an jenen schicksalsschweren Tag auf, als sie beide ebenfalls hier an der Fronttür einen aussichtslosen Kampf ausgetragen hatten.
Doch diesmal lief alles anders ab. Sie zuckten erschrocken zusammen und wurden aus ihren traumatischen Erinnerungen gerissen, als die massive Tür nach weniger als zehn Minuten aufschwang und Caroline erschien. Kaum hatte sie den Flur betreten, da sagte sie auch schon: „Das werdet ihr mir nie glauben!“
„Was ist passiert?“ wollte Shin wissen, der gemeinsam mit Dimitri am anderen Ende des Flures an der Wohnzimmertür die Glasfront und insbesondere die darin eingelassene Balkontüre bewachte, obwohl nicht zu erwarten war, dass Lars’ Männer hier so leicht durchbrechen können würden wie seinerseits der T-1000.
„Wir haben sie von mehreren Seiten aus beschossen und ihnen einen Haufen Streifschüsse verpasst, was einige Verwirrung bei ihnen auslöste. Da hatte Annie eine geniale Idee: sie schnappte sich Lars und nachdem sie ihn mundtot gemacht hatte, rief sie mit einer Imitation von seiner Stimme, man solle sich zurückziehen. Und wisst ihr was? Es hat geklappt! Sie sind wie die Hasen zu ihren Booten zurück gerannt und haben das Weite gesucht. Dann haben wir ihn wieder laufen lassen.“
„Ihr hattet Lars in eurer Gewalt?“ Maja schien es kaum glauben zu können. „Und habt ihn wieder frei gelassen?“
„Es ging nicht um die Gefangennahme des gegnerischen Anführers“, erwiderte der T-X und fügte hinzu: „Sobald sich eine Situation ergibt, in welcher das einen entscheidenden taktischen Wert hätte, würden wir ihn schnappen, wenn nötig direkt in Skjellelv vor den Augen aller anderen.“
Da alle drei keine Zweifel daran hatten, dass Caroline das ernst meinte, schwiegen sie darauf.
Daniel kam herein und wirkte sehr geschäftig, da er gleich nach unten weiter ging, um seine Waffen zu versorgen.
Abbey - oder war es Annie? - kam als nächste herein und war ebenfalls im Begriff, ins Untergeschoss zu gehen, als Karin aufmerkte: „Du bist verletzt!“
Die Angesprochene sah an sich herab, als wüsste sie nichts von den vier Löchern in ihrem Anzug in Bauchhöhe. „Ach, das. Es ist nichts; Lars hat mich nur angeschossen, als ich ihn mir geschnappt habe. Ihr hättet sehen sollen, wie er gezappelt hat… wie ein Fischlein auf dem Trockenen! Aber jetzt müssen wir zuerst das Dach reparieren, solange kann die Versorgung der Wunden warten.“
Als sie sich Gedanken versunken das Haar im Nacken zum Pferdeschwanz zusammen band, erkannten alle, das es Annie war. Auch Abbey betrat jetzt die Schleuse und eilte gleich in den Keller hinab. Allmählich fanden sich alle Menschen der Gruppe im Flur ein und fragten sich, was eigentlich los war.
Dimitri und Simon gingen in den Keller hinab, wo ihnen gerade Daniel entgegen kam. „Ihr könnt euch nützlich machen, wenn ihr wollt.“
Er winkte die beiden ratlosen Männer heran und führte sie in einen der fünf Lagerräume, wo er aus einem der obersten Regale jeweils einen Stapel dunkler Dachziegel holte und ihnen zu tragen gab. Er selbst nahm sich ein halbes Dutzend glänzender Quader, die fünf Zentimeter dick waren und eine Kantenlänge von etwa dreißig Zentimeter aufwiesen. Sie verließen das Haus durch den Verbindungsgang zur Garage und ächzten beim Heraufschleppen der schweren Schindeln.
Im Freien empfing sie Dunkelheit, doch Daniel führte sie unbeirrt in Richtung Haus zurück, wo sie auf der vom Berg abgewandten Seite neben dem Safehouse zum Stehen kamen. Direkt hinter ihnen kamen Annie und Abbey, die von vier der anderen begleitet wurden und alle ebenfalls schwer mit Werkzeugen, Baumaterialien und sogar einem Schweißbrenner beladen waren. Nur Karin und Aishe waren wieder zu Bett geschickt worden, wegen ihrer Mutterpflichten beziehungsweise Schwangerschaft.
„Was gibt es denn zu tun?“ fragte Shin und versuchte vergeblich, in der Finsternis etwas von den Beschädigungen auf dem Dach zu erkennen. Die einzigen sichtbaren Spuren waren viele kleine Bruchstücke von Dachziegeln, die überall auf dem Vorplatz verteilt waren.
„Ihr könnt ja eine Taschenlampe mitnehmen, wenn wir die zweite Ladung Material holen“, schlug Annie vor.
Pflichtschuldig trotteten sie zurück durchs Garagentor und hinunter in den Gang, der zum Kellergeschoß führte, wo sie tatsächlich alle nochmals schwer beladen wurden, zwei mit einer der sehr stabilen Leitern, die auch gleich am Rand des Dachs angesetzt wurde. Abbey kletterte mit diversen Werkzeugen bewehrt hinauf, dicht gefolgt von Daniel.
Maja hatte tatsächlich eine Stablampe mitgenommen und leuchtete nun hinauf, worauf ein ungläubiges Raunen durch ihre Reihen ging. Mitten auf dem Dach war ein kreisrundes Loch von etwa einem Meter Durchmesser, wo die Dachziegel weggesprengt worden waren. Darunter war ein mattschwarzes, tief eingedelltes Material zu sehen. Abbey begann gleich, die teilweise zerstörten Ziegel zu entfernen und beiseite zu werfen, wo sie niemanden treffen konnten. Dann nahm sie einen schweren Hammer, an dessen Kopfrückseite sich zwei flache Fortsätze befanden, die an das Ende einer Brechstange erinnerten. Sie hebelte etwas herum und riss dann eine große, geschwärzte Platte vom Dach und warf sie den Ziegeln hinterher, worauf es in der Dunkelheit neben dem Eingang dumpf polterte.
„Der Beton ist leicht penetriert worden, das sollten wir erst morgen früh richten, wenn die Gefahr von Frost kleiner ist.“ Abbey klang irgendwie besorgt.
Daniel warf ein: „Oder wir installieren eine kleine Wärmelampe hier nebenan, dann können wir wenigstens eine Stelle nach der anderen ohne Verzug ausbessern.“
Annie rief herauf: „Ich bin für Daniels Vorschlag. Je schneller wir die Schäden behoben haben, desto besser. Wer weiß, was das Wetter für Eskapaden machen kann, wenn es erst einmal richtig Herbst wird.“
„Gutes Argument“, räumte Abbey ein. „Holst du die Heizlampe?“
„Ja.“ Ohne ein weiteres Wort war sie zurück zur Garage geeilt, um im Keller das benötigte Hilfsmittel zu besorgen.
„Ich wusste gar nicht, dass wir so gut ausgerüstet sind“, bemerkte Silke und hob die verbeulte und rußgeschwärzte Platte auf, die Abbey vom Dach geworfen hatte. Sie war überraschend schwer. Mit gerunzelter Stirn wandte sie sich an Daniel: „Was ist denn das?“
Seine Stimme erklang von oben: „Die Panzerung. Sie hat dem Mörserbeschuss leider nicht ganz standgehalten.“
„Panzerung?“ echote Silke fassungslos.
Annie war hinter sie getreten und trug eine kleinere Gasflasche, an die ein Glühheizschirm angeschlossen war. „Ja, über den fünfzig Zentimeter Stahlbeton ist diese fünf Zentimeter dicke Verbundpanzerung, die aus sich abwechselnden Schichten von Kohlefasermatten und gehärtetem Stahlblech besteht. Sie sind jeweils nur einen Millimeter dick und bilden so insgesamt fünfzig Schichten, was die hohe Festigkeit ergibt. Darüber sind die Dachschindeln gelegt, damit von außen nichts sichtbar ist. Dummerweise waren wir nicht auf so schweren Beschuss gefasst, sonst hätte Caroline das Haus wahrscheinlich noch etwas stabiler gebaut.“
„Unser gutes, altes Safehouse hat doch immer wieder eine Überraschung für uns in petto“, bemerkte Simon schmunzelnd. „Panzerung!“
Maja leuchtete nochmals hinauf, um sich die Stelle anzusehen, wo der Beton angekratzt war. Dann suchte sie mit dem schmalen Lichtkegel den Rest des Daches ab und fand drei weitere Einschläge.
Annie war neben Dimitri getreten und sagte leise: „Diesmal hatten wir Glück. Wenn das Haus nicht gepanzert wäre oder sie schwerere Waffen eingesetzt hätten, wärt ihr jetzt alle tot.“
Er sah sich um und betrachtete die große, feminine Gestalt lange, bevor er sich abwandte und durch die Fronttür ins Haus zurückging. Ihm war bewusst, was sie ihm hatte mitteilen wollen und ihm war auch klar, dass er durch diesen Angriff in Zugzwang geraten war. Er würde mit Karin reden müssen.
Shin sah ihm nach, wie alle anderen wohl wissend, was ihm jetzt durch den Kopf gehen musste. Dann fiel ihm etwas ein.
„Wo ist eigentlich Caroline? Hilft sie nicht bei der Reparatur?“
Annie hielt einen Moment inne. „Nein, sie hat zuerst noch etwas anderes zu erledigen.“
„Und was genau… oh, ich glaube, ich weiss es.“ Simon schwieg betreten, als ihm aufging, dass es nur eine Aktion für Caroline geben konnte, die ihres Erachtens nach wichtiger war, als bei der schnellen Reparatur des beschädigten Hauses zu helfen. Da sie diejenige war, die es erbaut hatte, war ebenso ersichtlich, dass sie die am besten für jene Aktion geeignete war, wenn sie die Reparatur den anderen Terminatoren überliess.
Sie konnte nur ein Ziel haben.



Skjellelv, Andørja, Troms Fylke, Norwegen                      3. September 2006

Caroline hatte sich keine Pause gegönnt. Als sie das Safehouse verlassen hatte und losgelaufen war, hatte sie ihre Gestalt verändert, diesmal in die zweite Version von Alex, wiederum gewandet in einfache, schwarze Kommandokleidung. Sie erhöhte ihre Größe zusätzlich, indem sie ihre Arme, Beine und das Rückgrat auf ihre maximale Länge ausfuhr und so exakt zwei Meter Körpergröße erlangte. Da das Volumen des sie umhüllenden polimimetischen Flüssigmetalls nicht für einen massiven Körper dieses Maßes ausreichte, behalf sie sie mit dem alten Trick, den sie schon bei ihrer Ankunft angewandt hatte: sie bildete innerhalb des Torsos und der Extremitäten unzählige winzig kleine, wabenförmig strukturierte Hohlraumzellen und –schichten aus, die zum einen ihr Körpervolumen erhöhten und gleichzeitig sehr widerstandsfähig gegen äußere Einflüsse waren.
Durch die maximale Körpergröße fiel es ihr noch leichter, die Geschwindigkeit von über achtzig Stundenkilometern beizubehalten, mit der sie die dreiundvierzig Straßenkilometer zurück legte, die sie von Skjellelv trennten. Sie müsste sogar noch einiges vor den sich zurückziehenden Schiffen von Lars ankommen, da diese im dichten Nebel nur langsam navigieren konnten und ebenfalls über dreißig Kilometer auf dem Seeweg fahren mussten.
Die einzige Stelle, an der sie kurz aufgehalten wurde, war die Brücke über die Mündung des lang gezogenen Straumbotn. Sie nahm den einsamen Wachposten auf dem Scheitelpunkt der steil aufragenden Bogenbrücke mit ihren Sensoren, die die Dunkelheit und den dichten Nebel mühelos durchdrangen, schon aus zweihundert Metern Distanz wahr. Nach einigen Sekunden dachte sie sich, Frechheit siegt und entschied sich für einen der ältesten Tricks der Menschheit, der wahrscheinlich schon von prähistorischen Menschen zu Ablenkungszwecken angewandt worden war.
Nur nicht in diesem Maßstab, wie T-XF mit einem Grinsen dachte.
Sie transformierte sich in ihre gewohnte Gestalt der kleinen, zierlichen Elsässerin Caroline, sodass sie schwerer zu entdecken sein würde. Dann sammelte sie drei fussballgroße Steine auf, von denen jeder über zwanzig Kilogramm wog. Sie schlich sich auf der vom offenen Meer abgewandten Seite an, wobei sie sich dank der extremen Steigung der Fahrbahn nicht einmal ducken musste, um sich gegen den – wenn auch nur eine Nuance helleren – Hintergrund des Himmels nicht abzuheben. Dreißig Meter vor dem Posten, einem jungen, blonden Mann von höchstens zwanzig Jahren, hielt sie inne. Er hatte sich dick gegen das schlechte, feuchtkalte Wetter eingepackt, war mit einer modernen Automatikwaffe ausgestattet und wandte ihr den Rücken zu. Sehr gut.
Der erste Stein segelte mit viel Schwung in hohem Bogen mindestens fünfzig Meter aufs offene Meer hinaus und verursachte beim Aufprall aufs Wasser ein lautes Klatschen, das den vor sich Hindösenden erschrocken zusammenfahren ließ. Er hob den Kopf und spähte hinaus auf See, konnte aber wegen der Sichtverhältnisse rein gar nichts sehen. Caroline warf den zweiten Stein in höherem Bogen, so dass er näher an der Brücke auftraf.
Nun war dem Posten klar, dass er sich das nicht nur eingebildet haben konnte. Alarmiert eilte er zum Geländer der Seeseite und starrte in die Dunkelheit, während sie sich ihm bis auf weniger als zehn Meter näherte und immer auf der landwärtigen Seite hielt, sodass er sie auch nicht aus dem Augenwinkel bemerken konnte.
„Hallo? Ist da jemand?“ fragte der junge Mann obskurer weise in die Finsternis hinein. Der letzte Stein flog in einem hohen ballistischen Bogen ungesehen links am Posten vorbei und landete direkt neben der Fahrbahn im Wasser, sodass die unerfahrene Wache sich nach vorne beugen und zur Seite spähen musste, um den vermeintlichen Ursprung des Geräusches erkennen zu können.
Gleichzeitig huschte Caroline auf der landwärts gelegenen Seite, geschützt vor dem dunklen Hintergrund der hoch aufragenden Gebirge von Andørja, durch die wabernden Nebel und war längst außer Sicht, bevor der Posten seine Aufmerksamkeit wieder der Bewachung der Fahrbahn selbst zuwandte.
Im Gehen verwandelte sie sich wieder in die Form des gestreckten Alex und nahm dann ihr ursprüngliches Tempo auf. Die restlichen acht Kilometer entlang der in den Hang des direkt aus dem Fjord ragenden, fast eintausend Meter hohen Klåptinden, wie dieses Bergmassiv hieß, beanspruchte nur noch sechs Minuten. Nun entschloss sie sich dazu, etwas Eindruck zu schinden und unter den gemeinen Männern der Kommune die Moral zu senken.
Der Wachposten am Ortseingang von Skjellelv fuhr erschrocken zusammen, als die riesige, muskelstrotzende Gestalt direkt vor ihm aus der Dunkelheit auftauchte und mit unglaublichem Tempo unaufhaltsam wie eine Lokomotive auf ihn zustampfte. Er hatte nicht einmal mehr Gelegenheit, sein Sturmgewehr hochzureißen, als er auch schon an Mantelkragen und Gürtel gepackt und aus vollem Lauf vom Eindringling mitgerissen wurde, ohne dass dieser seine Geschwindigkeit dabei nennenswert verlangsamte. Er spürte, wie er einmal nach hinten geschwungen und nach mehreren Schritten seines dahinrasenden Gegners in hohem Bogen aufs dunkle Wasser des Fjordes hinaus geschleudert wurde. Mit einem gellenden Aufschrei segelte er durch die Luft und schlug mit einem weithin hörbaren Klatschen auf.
Caroline hatte ihr Ziel bereits gefunden: Den lädierten Volvo XC 90, mit dem Marit aus dem Safehouse geflohen und mit den letzten Tropfen Kühlwasser hierher gefahren war. Zufrieden nahm sie wahr, dass er bereits, wenn auch nur notdürftig, repariert worden war, indem sie sich dem zwischen zwei Holzhäusern abgestellten Geländewagen näherte. Aus dem rechten Haus kam ein älterer Mann mit einer Öllampe und einer Uzi gelaufen und spähte in die Dunkelheit. „Was zum…?“
Er entdeckte den athletischen Hünen mit den hellbraunen, militärisch kurz geschorenen Haaren, den stechenden blauen Augen und den kantigen, harten Gesichtszügen vor sich und schwang den Lauf seiner Waffe auf den Brustkorb des Unbekannten. „Bleib stehen, du Mistkerl. Was glaubst du, was du da tust?“
„Ich hole unseren Wagen ab. Danke fürs Reparieren.“ Unbeeindruckt von der entsicherten Maschinenpistole schritt er weiter auf die Fahrertür zu.
Mit hasserfüllter Miene entgegnete der Alte: „Das könnte dir so passen! Das ist jetzt der persönliche Wagen von Lars.“
„Umso besser. Das wird ihm nicht gefallen, wenn wir ihn uns zurückholen.“ Zwei weitere Schritte auf den Wagen zu.
„Noch einen einzigen Schritt, und ich schwöre, ich knall’ dich ab wie einen räudigen Hund“, rief der Alte zornig und eine Spur ängstlich.
Nun blieb der Furcht einflössende promethische Mann stehen und zog verächtlich einen Mundwinkel hoch. Hinter ihm traten einige andere mutige Männer hinzu und versperrten ihm den Rückweg, auch wenn sie nur mit Hiebwaffen wie Baseballschlägern und Nagelbrettern bewehrt waren. „Ihr habt keine Ahnung, nicht wahr? Ich wette, Lars hat euch nichts erzählt von dem, was er erfahren hat. Das hätte ich mir denken können. Nun, mach’ dich auf einige Überraschungen gefasst, guter Mann.“
Und er tat einen weiteren Schritt.
Im Affekt krümmte sich der Finger des Alten um den Abzug und mit einem durchdringenden Knattern leerte er das Magazin der Automatikpistole in den Brustkorb von Caroline/Alex. Die Mannmaschine machte lediglich einen Ausfallschritt rückwärts, um den Rückstoß durch die Projektile zu kompensieren. Sowohl der Alte als auch die ihn Umstehenden keuchten ungläubig auf, als er sich umwandte.
Sein gewaltiger Brustkorb war zerfetzt, doch kein Blut spritzte hervor. Stattdessen befanden sich viele handtellergroße und metallisch glänzende Einschlagskrater, welche sich mit leisen schmatzenden Geräuschen innerhalb weniger Sekunden wieder unter seiner schwarzen Kleidung schlossen. Völlig unversehrt wandte er sich wieder dem Alten zu.
„Darf ich?“ Ungerührt nahm er dem vor Furcht erstarrten Mann die Uzi ab und nahm einige Handgriffe an ihr vor, worauf sie in mehrere Einzelteile zerlegt scheppernd zu Boden fiel. Die Tür des Volvo entriegelte sich wie von Geisterhand, der Motor sprang ebenso spontan an und Alex stieg seelenruhig ein. Er hatte schon vor Jahren in die Bordelektronik von jedem ihrer Fahrzeuge eine winzige Menge an Nanoprozessoren eingeführt, um im Notfall die Kontrolle über ihren Fuhrpark zu haben. Er hätte durch diese Fernsteuerung sogar von der Brücke über die Mündung des Straumbotn aus das Fahrzeug fahrerlos aus Skjellelv hinausmanövrieren können, doch das hätte viel weniger Eindruck gemacht als seine Aktion, die viele Mitglieder der Kommune mit eigenen Augen hatten sehen können.
Das würde ihnen zu denken geben, dachte er grinsend beim Losfahren, worauf einige gerade noch eben aus dem Weg springen konnten. Das Ganze war so schnell abgelaufen, dass keiner der anderen bewaffneten Wachen von ihren Posten aus rechtzeitig hatten eingreifen können.
An der Brücke hatte der überlistete Posten kaum Zeit, einen Blick in das Innere des mit abgeschalteten Lichtern durch die Dunkelheit rasenden Volvos zu werfen und zu erkennen, dass niemand von seinen Leuten hinter dem Steuer saß. Einen Moment später war Caroline in den noch immer dichten Nebelschwaden verschwunden und nahm ihre gewohnte Form an, während gerade die ersten Positionslampen des erfolglosen Stoßtrupps von Lars in Sicht kamen.



Hallevik, Insel Rolla, Troms Fylke, Norwegen                         03. September 2006

Am frühen Morgen hatte sich die Gruppe am Esstisch versammelt und wartete auf das Frühstück. Daniel und Annie erschienen unerwartet; sie waren ziemlich schmutzig und nass, was darauf hinwies, dass sie die ganze Nacht noch am Dach gearbeitet hatten. Daniel meinte zuversichtlich: „So, zwei der vier Einschläge sind repariert, am dritten trocknet der Schnellzement gerade aus.“
Karin wollte neugierig wissen: „Ist das Dach denn so schwer beschädigt?“
„Schwerer, als du vielleicht annimmst. Jedes andere Haus dieser Größe würde nach diesem Bombardement in Schutt und Asche liegen. Die Betondecke alleine hätte wahrscheinlich nicht standgehalten, doch dank der Armierung ist keine der Granaten durchgedrungen. Wenn Lars und seine Leute ein wenig besser mit diesen Waffen umgehen könnten und dieselbe Stelle zweimal getroffen hätten, wärt ihr jetzt tot“, erklärte Annie ungerührt und fischte sich Dimitris Brotmesser vom Tisch, mit dem sie in einer ihrer Bauchschusswunden zu pulen begann, worauf die meisten Menschen angewidert ihre Gesichter verzogen.
„Kann ich es mir ansehen?“ forschte Karin weiter nach. „Jetzt bei Tageslicht ist es sicher besser zu erkennen.“
„Ja, wir haben doch sicher noch ein paar Minuten Zeit bis zum Essen“, drängte Shin und sah sich nach Zustimmung heischend um, was auch nicht ausblieb.
Daniel hob die Achseln. „Warum nicht? Es ist zwar noch immer sehr neblig und trüb, aber sicher besser erkennbar als bei Nacht. Abbey ist noch draußen und arbeitet weiter.“
„Ihr kennt ja den Weg“, fügte Annie keck hinzu und gab noch mehr Druck auf die Klinge, mit der sie in der leicht nässenden Bauchwunde herumhebelte. Plötzlich gab es einen kleinen Ruck und alle fuhren zusammen, als mit einem lauten Klirren eine vom Aufprall platt gedrückte und blutbefleckte Kugel in Silkes leerem Glas landete.
„Oh, das tut mir leid“, beteuerte Annie mit bestürzt wirkender Miene.
Die hoch gewachsene Schweizerin stand auf. „Annie, du bist schon so weit, dass ich dir das fast glauben könnte. Aber lass nur, ich wollte mir sowieso auch das Dach ansehen.“
Zu Karin und Silke gesellten sich noch Aishe und Maja, sodass sie eine reine Damenrunde bildeten, die die Schäden inspizierte. Vor der Haustür empfing sie ein nasskalter Morgen mit dichten Nebelschwaden, die alles mit Sprühregen bedeckten. Sie umrundeten die Hausecke zur Nordseite hin und blieben alle vier wie angewurzelt stehen.
Auf der linken Seite des Daches war nur noch am helleren Farbton der ersetzten Ziegel zu erkennen, wo die Beschädigungen gewesen waren. Weiter zur Mitte hin stand eine Leiter aus soliden Rahmenprofilen, auf der Abbey gerade stand und damit beschäftigt war, den gasbetriebenen Heiztrockner optimal auf die Stelle auszurichten, an der der Zement unter den entfernten Dachziegeln und darunter entfernten Panzerplatten noch feucht schimmerte. Das vierte Einschlagsloch indes war noch unberührt und offenbarte die volle Wucht, mit der die Granate an jener Stelle ihre zerstörerische Kraft entfaltet hatte.
Karins Blick wanderte weiter nach unten und über den Hof, wo überall, so weit das Auge auf dem Vorplatz reichte, fein verteilt kleine rote Splitter der weg gesprengten Schindeln lagen. Sie atmete hörbar aus. „Mein Gott, ich hatte nicht geglaubt, dass es so schlimm ist. Sie sind uns wirklich dicht auf die Pelle gerückt.“
Maja presste zwischen zusammen gebissenen Zähnen hindurch: „Entschieden zu dicht, wenn du mich fragst. Dieser Zwischenfall ist noch einmal glimpflich verlaufen, aber es hätte auch anders ausgehen können.“
„Wie konnte das nur passieren?“ fragte Karin sich, noch immer ziemlich fassungslos. Vor ihrem inneren Auge hatte sie das Bild ihres kleinen Sohnes, wie er friedlich in seinem Bett schlummerte.
„Unsere Beschützer sind nicht allmächtig“, erinnerte Aishe sie vorsichtig. „Sie haben uns gewarnt, dass so etwas passieren könnte. Zumindest haben sie es geahnt.“
„Nein, sie haben die Wahrscheinlichkeit dafür ausgerechnet, dass es passieren könnte. Und sie haben eine korrekte Einschätzung unserer Verteidigungskraft abgegeben. Das ist mir jetzt klar. Ich habe schon letzte Nacht mit Dimitri darüber geredet.“
Sie wandte sich ab und kehrte ins Haus zurück. Die anderen drei Frauen sahen ihr nach und unterhielten sich noch kurz mit Abbey über den Stand der Reparaturen, bevor auch sie ins Haus zum Frühstücken gingen. Und immer noch hüllte dichter, undurchdringlicher Nebel alles um sie herum ein. Bei diesem Wetter machte es auch keinen Sinn, einen der Terminatoren zurück auf den Berggipfel als Ausguck zu schicken, denn ihre Sensoren wären nicht viel mehr wert als in jener letzten Nacht und würden sich nähernde Feinde auch jetzt nicht rechtzeitig entdecken, um sie zuverlässig in sicherer Entfernung von dem Safehouse abzufangen.
Es musste etwas geschehen.
Opfer mussten gebracht werden.
Und nun war auch Karin bereit, dieses Opfer zu bringen, zu ihrer aller Sicherheit.
     


Skjellelv, Andørja, Troms Fylke, Norwegen                      3. September 2006

Wutschäumend besah sich Lars die Stelle, an der der nagelneu wirkende Volvo XC 90 gestanden hatte. Auf einer Fahrt nach Harstad hatte er zwei seiner Leute, die sich mit Automobilen auskannten, extra den hiesigen Volvo-Händler nach passenden Ersatzteilen durchsuchen, diese herbringen und den Wagen damit reparieren lassen. Und jetzt das.
Er hatte nichts mehr hören wollen nach der letzten Demütigung und war, jeden Versuch der Kommunikation seiner Leute grob abblockend, direkt in sein Heim gestapft, mit der Bemerkung, jeder der sich vor Tagesanbruch bei ihm blicken lassen würde, könne etwas erleben.
Jetzt war der Morgen angebrochen und sein Stellvertreter Knut war mit einem Kloß im Hals zum Haus von Lars gegangen, um ihm kleinlaut das zu umreißen, was sich in der Nacht kurz vor seiner Rückkehr im Ort abgespielt hatte.
Seine Reaktion war seltsam. Er saß wie erstarrt an seinem Stubentisch, tief in Gedanken versunken. Nach einer Minute sagte er, ins schwach glimmende Kaminfeuer starrend: „Hol mir den alten Ole und alle anderen, die genau gesehen haben, was geschehen ist. Außerdem die beiden Wächter von der Straumbotn-Mündung und vom Ortseingang. Und vor allem hol’ mir Marit her. Alle zusammen. Ich möchte jetzt und hier alle Fäden entwirren und festhalten, was wir über sie wissen.“
„Bin schon unterwegs“, entgegnete Knut und war heilfroh, dass sein Anführer zur Abwechslung einmal konstruktiv vorgehen wollte.
Keine zehn Minuten darauf waren alle Beteiligten versammelt und warteten, zum Teil noch verschlafen gähnend, auf den Beginn der Unterredung.
„Wir müssen alles in einen Topf werfen“, begann Lars dann mit leiser, gefährlich ruhiger Stimme. „alle Informationen und Beobachtungen, die wir gemacht haben. Marit, bist du dir ganz sicher, was die Anzahl der Leute im Haus angeht?“
„Alles, was ich dir gesagt habe, stimmt. Es waren fünf Männer und sechs Frauen, eine davon schwanger und eine hat ein Baby. Das sind alle Leute, die ich gesehen habe. Sie haben nie erwähnt, dass es da noch mehr gibt.“
„Gut, das mag sein, aber wir haben inzwischen Kontakt mit zwei weiteren Personen gehabt, deren Beschreibung zu keiner der im Haus lebenden Leute passt. Beide sind riesengroß, muskelbepackt und wirken wie Einzelkämpfer eines militärischen Sonderkommandos. Jeder dieser beiden Typen macht den Eindruck, als ob er alleine es mit einem halben Dutzend von uns aufnehmen könnte. Einer von ihnen ist mir selbst begegnet. Er nannte sich Alex.“
Marit schüttelte den Kopf. „Im Haus war niemand dieses Namens oder dieser Statur. Sie alle sind relativ schlank und durchtrainiert, aber nicht besonders stämmig oder muskulös.“
„Irgendetwas passt hier nicht zusammen. Ole, erzähle uns, was dir widerfahren ist“, bat Lars, worauf der alte Mann zusammen fasste, woran er sich erinnern konnte.
„Das klingt wie Seemannsgarn“, brummte er, als Ole geendet hatte, doch dieser begehrte auf.
„Ich sage dir, genau so hat es sich zugetragen! Dieser Kerl war ein Teufel, ein Dämon. Seine Brust hat die Kugeln einfach verschluckt, als sei nichts geschehen!“
Fünf andere Augenzeugen bestätigten seine Aussagen, worauf Lars missmutig einlenkte. „Gut, nehmen wir an, es war so. Welche Erklärung kann es dafür geben? Ein Mann kann nicht einfach von Kugeln durchsiebt werden und unversehrt weiterlaufen. Es…“
Lars brach ab, als er in Marits Gesicht sah und die Zweifel darin las, ob sie das sagen sollte, was sie sagen wollte.
Unaufgefordert begann sie: „Ich bin mir nicht sicher über das, was ich im Haus gesehen habe. Damals dachte ich, das mir das hohe Fieber Hirngespinste vorgegaukelt hatte, doch nach dem was ich gehört habe, bin ich mir nicht mehr so sicher.“
Und dann berichtete sie all das Unglaubliche, was ihr in jener Nacht im Safehouse mit Caroline widerfahren war, was sie niemals einem Menschen hatte erzählen wollen, weil sie befürchtet hatte, für verrückt erklärt zu werden.
Doch nun sahen sie es mit anderen Augen. Sie begannen es zu glauben, auch wenn sie es nicht verstanden.





- 5 -

Hallevik, Insel Rolla, Troms Fylke, Norwegen                         03. September 2006

Der Vormittag hatte sich mit Jogging im unangenehm feuchten und kühlen Nebel, der sich einfach nicht lichten wollte, sowie Russischlektionen ziemlich in die Länge gezogen, sodass alle froh waren, zusammen am Mittagstisch zu sitzen.
Caroline war bisher nicht mehr aufgetaucht, und als die meisten von ihnen den leeren Platz draußen auf dem Balkon erspäht hatten, wo bislang die metallisch schimmernde Kugel gelegen hatte, war ihnen klar, weshalb. Karin und Dimitri hatten schlussendlich doch noch ihre Meinung geändert und ihre Zustimmung zu diesem drastischen Schritt gegeben.
Sie hatten die recht karge Mahlzeit aus selbst gefangenem Fisch, den es inzwischen dreimal wöchentlich gab, um ihre verbliebenen Fleischvorräte zu strecken, sowie Kartoffelbrei und Erbsen aus der Dose gerade beendet, als sich die Tür zum Flur öffnete und Caroline ihren Kopf hineinsteckte, um vorsichtig nachzusehen, was sich hier tat.
„Seid ihr schon fertig mit Essen?“
„Ja. Was gibt es? Was soll die Heimlichtuerei?“ fragte Shin direkt, wie es seine Art war.
„Ich möchte euch jemand vorstellen.“
Alle Köpfe fuhren herum und es wurde mucksmäuschenstill im Zimmer. Jedem einzelnen war die angespannte Körperhaltung anzusehen, da alle wussten, was jetzt kommen würde.
„Ihr werdet vielleicht überrascht sein…“, begann Caroline umständlich, indem sie die Tür aufstieß und Platz machte für ein zierliches, blondes Mädchen von knapp 1,60 m und klaren,  blauen Augen in einem runden, sommersprossigen Gesicht mit einer Stupsnase, was ihr ein typisch skandinavisches Aussehen verlieh. Sie wirkte wie etwa zwanzig, war schlank und sportlich und hatte sogar noch dieselbe Kleidung, nämlich einen dünnen, rosaroten Pullover, Bluejeans und weiße Turnschuhe an wie bei jenem ungleichen Kampf, der Karin und sicher auch einige andere noch heute in ihren Alpträumen verfolgte.
Sie.
Karin fuhr auf, ebenso Dimitri. Die anderen konnten sich gerade noch zurück halten.
Dann geschah etwas höchst Unerwartetes, noch bevor sich auch nur einer von dem Schock des Widererkennens erholt hatte.
Hinter dem Neuankömmling betrat noch jemand den Raum. Sie hatte etwas dunkelblondere Haare, jedoch kürzer und gestuft und ein etwas charakteristischeres Gesicht mit einer größeren Nase, volleren Lippen und graublauen Augen. Skurrilerweise war sie mit einem weißen T-Shirt und einem halblangen Jeansrock bekleidet, die beide zur Hälfte unter einer umgebundenen Serviererinnenschürze verschwanden, ihre recht feminine Figur aber nicht verbargen. Zudem trug sie Birkenstocksandalen und ein kleines, lächerlich wirkendes Häubchen auf dem Kopf.
„Was zum Henker soll denn das?“ brauste Dimitri auf. „Woher kommt sie denn?“
Bevor ein allgemeines Fragengewirr entstehen konnte, hob Caroline beschwichtigend die Hand, um darauf zu erklären: „Da ich eine Optimierung unseres Verteidigungsparameters erzielen wollte, habe ich die Hauptmasse beim Neustart der Programmierung einfach in zwei gleiche Teile halbiert. Auf diese Weise sind sie nur noch ein wenig schwerer als ein alter T-800 und trotzdem noch fast uneingeschränkt einsatzfähig.
Ihr fragt euch sicher, wie das gehen soll, aus der Masse für eine Person einfach zwei zu machen? Nun, dafür habe ich eine spezielle Methode benutzt, die ich in ähnlicher Form selbst anwende, wenn ich Personen mit einem größeren Körpervolumen, als ich selbst es besitze, imitieren soll. Die beiden bilden an gewissen Stellen in ihrem Inneren einfach Hohlräume aus, zum Beispiel einen größeren ellipsoiden in ihrem Torso, sowie kleinere und viel länglichere in der Mitte der Arm- und Beinglieder, praktisch anstelle der Knochen.“
„Genial einfach“, gab Shin unumwunden zu. „Aber warum zwei?“
„Auch das ist schnell beantwortet. Nach den Erfahrungen des letzten Angriffes wird eine der beiden auf dem Berggipfel postiert und eine wird einen Perimeter um das Safehouse herum auf der Insel patrouillieren. Beide haben interne Sensoren in ihren Körpern verteilt, die nicht viel schlechter in Reichweite und Auflösung sind wie die eines T-880. Um ihre Funkausrüstung up to date zu bringen, habe ich die Kommunikationsausrüstung von zweien der ‚ausrangierten’ Cyborgs ausgebaut und ihnen eingesetzt. So können sie jederzeit mit uns Kontakt aufnehmen und uns warnen, sollte uns eine Gefahr drohen.“
Simon nickte bedächtig angesichts dieser schlüssigen Erklärungen, doch dann merkte er auf. „Ich glaube, die zweite da, die Serviererin, kommt mir bekannt vor.“
Caroline bestätigte: „Es war die junge Frau, die uns in dem Café in Borgholm auf Öland bedient hat, als wir uns am Morgen nach der Zerstörung des ersten Safehouses, der Flucht mit dem Traktorgespann und der Übernachtung im Wald dort mit einem ausgiebigen Frühstück gestärkt haben. Ich habe ihnen diese beiden Aussehensmatrizen zugewiesen, denn normalerweise genügt mir ein flüchtiger Händedruck oder eine kurze Berührung, um das zu kopierende Objekt ausreichend zu analysieren. Und da keine Vorlagen für eine menschliche Tarnung in den Speichern erhalten geblieben sind, nachdem ich ihre Hauptprogrammierung gelöscht hatte, griff ich auf meine eigenen zurück, um ihnen ein ansehnliches Aussehen geben zu können.“
„Hättest du ihr keine andere Gestalt verleihen können?“ beschwerte sich Dimitri mit knirschenden Zähnen.
„Schon, aber spielt es denn so eine große Rolle? Sie wird ohnehin bald auf dem Gipfel des Rolla sitzen und somit keine emotionale Belastung mehr für euch darstellen.“ Caroline zuckte die Schultern.
Aishe stand auf und trat näher an die beiden Manifestationen heran. „Und womit hast du sie programmiert?“
„Eigentlich nur mit meinen Grundparametern, wie Mahtobu sie mir eingegeben hat. Ohne einen persönlichen Speicher mit Erinnerungen und Erfahrungen, wie die anderen T-880 sie besitzen, werden sie wenig menschlich erscheinen. Sie tun einfach nur das, wozu sie programmiert sind, jedenfalls bis zu einem gewissen Grad hin.“
Silke wollte das offenbar austesten, denn sie streckte dem Serviermädchen die Hand hin. „Hallo, ich bin Silke. Und wie heißt du?“
Der T-1000 ergriff die Hand, die sich überraschender weise warm und weich anfühlte, völlig normal für sie. Doch dann geschah etwas.
Die Hand veränderte sich.
Silke ließ erschrocken los, als die Handfläche silbern wurde, dann der Unterarm, der Oberarm und so fort, bis die gesamte Gestalt aus sich bewegendem Quecksilber zu bestehen schien. Sie streckte sich in die Länge und vergrößerte ihre Proportionen ein Stück, dann bildeten sich in sekundenschnelle wieder Haut und Haare aus.
Völlig geschockt blickte Silke auf ein Ebenbild von sich selbst, als würde sie in einen unsichtbaren Spiegel starren. Das war sie, bis aufs letzte Härchen naturgetreu abgebildet. Bis auf einen kleinen Schönheitsfehler.
Ihr Ebenbild war nackt.
„Was soll dieser Mist?“ rief sie gleichermaßen erzürnt und erschrocken aus, sprang vor den T-1000 und versuchte ihre „Blöße“ vor den anderen zu verstecken. „Ich habe gesagt: <Wie heißt du?>, nicht <Verwandle dich in mich, aber ohne Kleidung.> So eine Kacke!“
Nun musste Dimitri ungewollt grinsen und bemerkte: „Doch, so ungefähr hatte ich es aus der Zeit in Erinnerung, als wir uns ein Zimmer teilen mussten. Ich kann das hier nur bestätigen.“
„Sehr witzig!“, brauste die junge Schweizerin auf.
Alle grinsten nun, doch Caroline erlöste Silke nun aus ihrem Dilemma. „T-1000B, bilde deine  letzte Form aus, ohne Schürze und ohne Haube.“
Nach einem Moment wurde ihr Körper von einer silberflüssig glänzenden Schicht überzogen, die die erneute Metamorphose einleitete und praktisch aus der Haut des Silke-Doubles heraus zu fließen schien. Der Körperbau, Haut und Haare nahmen wieder das ursprüngliche Aussehen an, dann erschienen Farbe und Form der Stoffe, mit denen das Mädchen vorher bekleidet war.
„Schon besser. Ihre Grundprogrammierung herrscht wohl noch vor, aber das wird sich genau wie bei Annie ändern, wenn sie ihre tägliche Datensendung von uns erhalten und sich nach und nach entwickeln werden. Wir können allerdings nicht genau sagen, wie das verlaufen wird, da sich der in der ganzen Körpermasse verteilte und aus vielen mikroskopischen Teilen bestehende nanotechnologische Rechenprozessor anders verhält als unsere vernetzten CPUs.“
„Klingt nicht sehr vertrauen erweckend“, bemerkte Maja skeptisch. „Wie sicher seid ihr euch, dass ihr sie unter Kontrolle habt?“
„Ich kann sie jederzeit deaktivieren, wenn es sein muss. Vergesst nicht, dass ich sie direkt mit meiner für die Fernsteuerung von anderen Mikroprozessoren vorgesehenen Nanotechnologie zum Leben erweckt habe, die eine Generation weiterentwickelt ist als ihre. Ich habe sie so umfassend manipuliert, dass ich dabei fast meinen gesamten Vorrat an Nanorobotik aufgebraucht habe. Wir sind auf der sicheren Seite, glaubt mir.“ Caroline wirkte sehr überzeugt.
„Wollen wir’s hoffen.“ Maja schien nicht zufrieden gestellt.
„Haben sie eigentlich schon eine Bezeichnung?“ wollte Nicolas wissen.
„Nein, wir dachten…“ begann Caroline, doch er winkte ab.
„Ich möchte ihnen gerne hiesige Bezeichnungen geben. Wie wäre es mit Lene und Lina?“
Alle sahen sich an. Manche von ihnen zuckten betont gleichgültig die Schultern. Shin meinte lapidar: „Erinnert irgendwie an Abbey und Annie, aber wen juckt’s?“
„Wie kommst du darauf?“ wollte Maja interessiert wissen.
„Ist mir spontan eingefallen. Und irgendwie passen diese Namen, findest du nicht auch?“ Er grinste.
„Irgendwas steckt doch da hinter“, forschte Maja nach, doch er hob nur eine Schulter und grinste sie auf seine typisch unverschämte Art an, die sie so an ihm liebte.
„Dann ist die Ex-Serviererin Lina und unser Nemesis-Look-a-like Lene, gut?“ schlug Karin für alle überraschend vor. Niemand hätte von ihr oder Dimitri erwartet, sich in irgendeiner Form an dieser Thematik zu beteiligen.
„So sei es. Dann werden wir die beiden jetzt bewaffnen und losschicken. Wer weiß, wann wir sie wieder sehen werden?“ meinte Caroline.
Niemand zeigte eine Regung. Offenbar war es ihnen doch gleichgültig, ob sie die beiden Kunstwesen je wieder zu Gesicht bekommen würden, solange sie nur ihren Zweck erfüllen würden. Caroline nahm das zur Kenntnis und verließ zusammen mit den beiden Neulingen den Raum.



Nachdem alle aufgestanden und auf ihre Zimmer gegangen waren, um die kurze Pause bis zur Fortsetzung der Lektionen am Nachmittag für eine wenig Entspannung zu nutzen, blieben  irgendwann nur noch Karin und Dimitri, sich stumm schräg gegenüber sitzend sitzen. Beide sahen sich an und mussten dabei kein Wort sagen, so deutlich sichtbar war der Schmerz in ihren Augen, welchen die Erinnerung an ihren Verlust wieder zu Tage gefördert hatte.
„Es tut noch immer weh“, sagte Dimitri irgendwann, nur um etwas zu sagen.
„Ja, aber es ist schon viel besser geworden. Ich habe Nick und die schönen Erinnerungen an Bernd. Das gibt mir Kraft, glaube ich. Und die Gruppe.“
Er nickte und senkte den Blick. „Ja, die anderen und die Erinnerungen sind alles, was mich davon abhält, aufzugeben. Mich selbst aufzugeben. Es war das schönste Jahr meines Lebens, trotz des Krieges und der Isolation hier im Haus. Und dann direkt darauf das schlimmste Jahr meines Lebens. Wie schnell sich die Dinge doch ändern können.“
Als er leise in sich hinein lachte, sah sie ihn erstaunt an. „Du kommst inzwischen gut damit klar, oder?“
Der Deutschrusse nickte und machte auf Karin in diesem Augenblick den Eindruck von großer Lebenserfahrung und Weisheit. „Ana und ich haben etwas Besonderes geteilt, weißt du? Wir haben nicht perfekt zueinander gepasst, aber waren nahe dran. Wie heisst es doch so schön? Das Leben muss irgendwann weiter gehen. Wir können nicht für den Rest unseres Daseins trauern und der Vergangenheit hinterher hängen.“
Sie musterte ihn fragend: „Gut, ich habe Nick, aber du…?“
Als er sie mit kryptischer Miene ansah, dämmerte ihr etwas. Das war zwar sehr weit her geholt, aber bei den Anhäufungen von schicksalhaften Fügungen, die sie bisher erlebt hatten, würde es sie nicht wundern, wenn…
Sie lächelte und öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch er hob nur den erhobenen Zeigefinger vor die Lippen, um sie zum Schweigen aufzufordern. Ihr Lächeln verbreiterte sich zu einem Grinsen. Wie süß! Doch wie lange würde er noch warten müssen, bis das Schicksal die Karten neu für ihn mischen würde?
Ihre versonnenen Gedankengänge wurden von Daniel und Abbey gestört, die aus der Küche kamen, um das Geschirr vom Mittagstisch zu räumen, damit nachher der Unterricht weitergehen konnte. Sie entschlossen sich beide nach einem abschätzenden Blick, die beiden nicht zu stören, sondern stattdessen ihre Anwesenheit weitestgehend zu ignorieren. Schnell und effizient räumten sie Teller, Schüsseln, Gläser und Besteck zusammen und waren im Begriff, die erste Ladung heraus zu tragen, als Karin plötzlich, einer spontanen Eingebung folgend, laut sagte: „Wisst ihr was? Ihr habt euch gerade verraten!“
„Worauf beziehst du dich?“ wollte Daniel wissen, genauso wie Abbey Befremdung zum Ausdruck bringend.
„Ihr beide habt gerade einen deutlichen Hinweis darauf gegeben, dass ihr nicht menschlich seid. Und jetzt, rückblickend meine ich, wird es offensichtlich.“
Abbey richtete sich auf. „Du spielst offenbar auf eine bestimmte Verhaltensweise an, die eine Schwäche in unserer Tarnung aufzeigt. Kannst du erläutern, um was es geht?“
„Ihr habt gerade eine niedere Arbeit verrichtet, aber völlig stumm, so wie immer. Viele, wenn nicht sogar die meisten Menschen, würden bei so etwas pfeifen, summen oder singen. Wenn ich an die Jahre unseres Zusammenlebens zurück denke, kann ich mich beim besten Willen nicht daran erinnern, dass ich einen von euch auch nur eine einzige Silbe hätte singen hören, sei es ein Song im Radio, den man unbewusst mitsummt oder mitsingt, oder auch spontan irgend etwas beim Kochen oder Putzen. Mir muss das unbewusst schon oft aufgefallen sein, aber ich habe wohl stets angenommen, ihr singt einfach nicht gerne. Wie dumm bin ich nur gewesen!“ Sie griff sich an den Kopf und lachte auf.
„Du hast recht, aber das hat einen einfachen Grund: unsere Stimmen sind synthetisch erzeugt. Wir könnten gesangsähnliche Klangbilder erzeugen, müssten aber erst entsprechende Muster entwickeln. Für uns macht das keinen Sinn, da wir jede einmal aufgezeichnete Signatur naturgetreu wiedergeben können. Warum hätten wir eine Eigeninterpretation mit unseren Stimmen mühsam erzeugen sollen, wenn wir das Original stets auf Abruf ‚im Ohr’ haben konnten? Und da ich bereits 1984 in der Vergangenheit eingetroffen war, hatte ich alle Zeit der Welt, eine außerordentlich große Datenbank an Audiomaterial anzusammeln, wie du dir denken kannst.“ Daniel lächelte nun ebenfalls.
„Und da meine CPU eine Kopie von seiner ist und ich über die gleichen Datenbänke verfüge, gilt das gleiche für mich“, fügte Abbey hinzu. „Was glaubst du wohl, warum ich mir die Bezeichnung ‚Abbey’ ausgesucht habe? Sicher nicht nur, weil es der erste alphabetisch verzeichnete weibliche Vorname in meinen Datenbanken war, dann hätte Daniel sich ja ‚Aaron’ nennen müssen.“
Daniel grinste: „Hey, Aaron ist der zweite Vorname von Elvis Presley. Gar nicht so übel, Abbey. Damit hätten wir einen Bezug zur berühmtesten Band und dem berühmtesten Sänger der Weltgeschichte gehabt. Dass ich nicht von alleine darauf gekommen bin…“
Dimitris Augen wurden groß: „Abbey Road? Das Album von den Beatles? Du willst mich wohl verschaukeln!“
Daniel referierte: „Ist das denn so abwegig? Sie waren die erfolgreichste und populärste Band des zwanzigsten Jahrhunderts. Ihre Musik ist unvergessen und es gibt wohl kaum einen Menschen in der zivilisierten Welt, der noch nie etwas von ihnen gehört hat.“
Karin stützte den Kopf in die Handfläche und den Ellenbogen auf den Tisch. Sie legte den Kopf schräg und forderte Daniel keck grinsend auf: „Sing für mich, Danny-Boy. Um der alten Zeiten Willen. Etwas von den Beatles. Ihr bekanntestes Lied.“
Nachdem er eine demagogische Queranfrage in seinen Speichern durchgeführt hatte, begann er zu singen:

When I find myself in times of trouble
Mother Mary comes to me
Speaking words of wisdom
Let it be-e
A-hand in my hour of darkness
She is standing right in front of me
Speaking words of wisdom
Let it be-e

Als er den Refrain begann, rollten Tränen der Rührung über Karins Augen. Was sie hörte, war die glockenhelle, klare Stimme des blutjungen Paul Mc Cartney, als ob er in Fleisch und Blut vor ihr stünde. Sie ließ ihn das Lied beenden und schüttelte nur den Kopf.
„Was hätte ich Geld sparen können, wenn ich das gewusst hätte! Wie viele CDs habe ich mir gekauft, die du mir hättest vorsingen können, ohne dass man einen Unterschied zum Sänger selbst bemerken kann?“
„Uns war nicht bewusst, wie wichtig euch die Musik ist“, gestand Abbey Schulter zuckend ein.
„Das ist nicht dein Ernst! Dann haben sie aber mehr als nur einen Schalter umgelegt, der euch die Menschlichkeit genommen hat.“
„Nein, dieser eine hat leider gereicht, Dimitri“, bemerkte Daniel und warf einen Seitenblick auf Karin, worauf diese schuld bewusst die Augen niederschlug. Schließlich waren Simon und sie es gewesen, die ihre CPUs an Mahtobu in der Zukunft ausgeliefert hatten und so ungewollt dieses Dilemma für die Cyborgs ausgelöst hatten.
„Wie steht’s mit dir, Abbey? Willst du auch etwas zum Besten geben?“ fragte Dimitri neugierig und sinnierte: „Vielleicht etwas nettes, ruhiges aus neuerer Zeit? Eine Ballade wäre schön.“
„Aha, da kommt der melodramatische Slave zum Vorschein. Ich denke, damit kann ich dienen.“ Sie schien etwas auszuwählen und begann dann zu singen. Sowohl Karin als auch Dimitri konnten nicht fassen, was sich ihnen dort darbot, denn dieses Lied war mit solch einer Inbrust und einem Einfühlungsvermögen vorgetragen, dass einem einfach das Wasser in die Augen steigen musste.

How can I think I’m standing strong?
Yet feel the air beneath my feet
How can happiness feel so wrong?
How can misery feel so sweet?

How can you let me watch you sleep?
Then break my dreams the way you do?
How can I have got in so deep?
Why did I fall in love with you?

This is the closest thing to crazy I have ever been
Feeling twenty-two acting seventeen
This is the nearest thing to crazy I have ever known
I was never crazy on my own
And now I know
That there’s a link between the two
Being close to craziness and being close to you

Sie lauschten noch andächtig, bis Abbey das Lied der damals erst 19jährigen Katie Melua beendet hatte, dann meinte Karin: „Ihr wisst ja wohl, was in Zukunft ansteht?”
Daniel und Abbey tauschten einen Blick miteinander aus. „Ich fürchte, das läuft auf ein  allabendliches Wunschkonzert im Wohnraum hinaus.“
„Ihr habt es erfasst! Mann, wenn ich das den anderen erzähle!“ Dimitri sprang begeistert wie ein kleiner Junge auf und lief auf den Flur hinaus.
„Dass ihr uns das so lange vorenthalten habt! Eigentlich müssten wir alle stinksauer auf euch sein! Na ja, Schwamm drüber.“ Mit dieser ernsten Zurechtweisung erhob sich auch Karin, um nach Nick zu sehen, der bald wieder gestillt werden musste.
Abbey nahm den abgestellten Stapel Teller und Besteck wieder auf. „Ich schätze, die Abende werden in Zukunft um einiges heiterer werden.“
„Ja, sieht so aus. Was war das übrigens für ein Lied? Klang sehr schön.“ Daniel nahm seinerseits eine Ladung Geschirr und balancierte sie mühelos auf die Tür zu.
„Ist es denn nicht in deinen Datenbanken enthalten?“ wollte sie wissen, milde überrascht.
„Nein, muss nach 2001 herausgekommen sein.“
„Das war Katie Melua: The closest thing to crazy vom Dezember 2003. Im Autoradio haben sie es Anfang Juli 2004 ‘rauf und runter gespielt. Hast du auf deiner Fahrt nach Skandinavien keine Musik gehört?“
„Wozu? Ich war ja allein im Wagen und hatte keine Zerstreuung nötig. Das RDS-Signal für die Verkehrsmeldungen habe ich mit meiner Komm-Ausrüstung empfangen und nur den Verkehrsfunk mitgehört.“ Er hob bedauernd die Schultern.
„Macht ja nichts. So groß wird die Lücke in deinem Musikarchiv deshalb nicht sein.“ Sie schmunzelte, das Äußerste, wozu sie im READ ONLY-Modus fähig war, auf den ihr Elektronengehirn geschaltet war.
„Wir müssen dann bald los“, meinte er.
„Ja, ich weiß. Glaubst du, Aishes Idee bringt irgendetwas?“
„Ich bezweifle es. Wir werden es dann ja sehen.“



Skjellelv, Andørja, Troms Fylke, Norwegen                      3. September 2006

Der dichte Nebel hatte verhindert, dass Lars’ Leute heute hatten hinaus fahren können, um aus sicherer Entfernung einen Blick auf das Ausmaß des Zerstörungswerks am Safehouse zu werfen. So waren sie im Dorf geblieben und hielten weiter Kriegsrat.
Lars sagte überzeugt: „Ich bin immer noch nicht überzeugt, dass es besser sein soll, diese kleine Gruppe bei Hallevik in Ruhe zu lassen. Jetzt, da ihr Haus nach vier direkten Granatentreffern in Trümmern liegt, werden sie wohl andere Sorgen haben. Ihr müsst euch das einmal vorstellen, als mich dieser Alex hier drin, in dieser Stube, überfallen hat, hat er doch tatsächlich behauptet, nach jedem unserer weiteren Angriffe würden sie als Vergeltungsmaßnahme ein Boot mehr von uns versenken. Und was ist jetzt? Sie sitzen auf einem Haufen Ziegelsteinen und suchen sich ihr Hab und Gut aus dem Schutt zusammen, der einmal ihr Heim war. Soviel zu diesen großspurigen Drohungen!“
Knut gab zu bedenken: „Wundert es dich nicht, dass sie noch keinen einzigen von uns erschossen haben? Bei ihren Waffen und ihrer Ausbildung, wie es den Anschein hat, hätten sie uns bis auf den letzten Mann abknallen können, möchte ich meinen. Man könnte fast schon den Verdacht hegen, sie wollen uns nur abschrecken, nicht töten.“
„So ein Unsinn. Wie kommst du auf so was?“ begehrte der kleine korpulente Mann auf.
„Sieh dir deine Kappe mal an und mach dir dann Gedanken.“ Einer der jüngeren Männer grinste ihn schadenfroh an.
Bevor Lars explodieren konnte, fuhr Knut fort: „Und was war mit dieser Aktion letzte Nacht? Wenn sie einfach so jemanden erübrigen können, um uns den von Marit gestohlenen Wagen wieder abzunehmen, könnte man meinen, dass ihnen das Wasser durchaus nicht bis zum Halse steht.“
„Wart’s nur ab, du wirst schon sehen. Wenn dieser verfluchte Nebel erst einmal nachlässt, werden wir rausfahren und uns die Sache mal aus sicherer Entfernung ansehen. Ich bin zuversichtlich, dass wir…“
Er brach ab, als einzelne Rufe von draußen ihre Aufmerksamkeit erregten. Verärgert sah Lars durchs Fenster und schnaubte: „Was ist denn da los?“
Im nächsten Moment stürzte er nach draußen, um Zeuge des Schauspiels zu werden, das sich ihnen bot.
Fast unhörbar schob sich ein gedrungener, breiter Körper übers Wasser und drehte sich fünfzig Meter vor ihrem Hafen auf die Seite. Damit wurde das Geräusch eines großen Propellers wahrnehmbar, während das fremdartige Gefährt seitlich immer näher übers ruhige, von trüben Nebelschwaden verhüllte Wasser des Straumbotn glitt und sich in seiner Mitte eine Luke öffnete.
Eine nur verschwommen erkennbare Figur beugte sich hinaus und rief mit unnatürlich lauter Stimme: „Ihr solltet das Kriegshandwerk lieber lassen, ihr seid lausig darin!“
Und damit warf sie in schneller Folge vier große Kartons über die gewaltige Entfernung von ihrem Gefährt bis ans Ufer, wo sie dumpf aufprallten.
„Wie man Wasser kocht, wisst ihr ja wohl. Und denkt daran: noch so eine Aktion, dann sind noch einmal drei eurer Boote dran.“ Damit begann sich das Boot laut surrend von ihnen weg zu schieben.
„Was soll der Schwachsinn? Der Gorilla hatte gesagt, beim ersten Angriff ein Boot, beim zweiten zwei und so weiter… sind sie selbst zu einfältig, um bis drei zu zählen?“ fragte sich Lars laut, als er von seinen Untergebenen umringt am Eingang seiner Hütte stand.
Er konnte eine weit ausholende, nur vage erkennbare Armbewegung der schemenhaften Gestalt in der Luke erkennen, dann noch eine, als das Hovercraft davon glitt. Ein ungutes Gefühl machte sich in seiner Magengrube breit.
Einen Moment später setzte sein Herz aus, als einer der näher gelegenen Fischtrawler in einem grellen Feuerball explodierte und ihm die Druckwelle den Atem nahm. Nur eine Sekunde später traf es ein zweites Boot daneben. Das Echo der markerschütternden Doppeldetonation hallte noch von den eng beisammen stehenden Wänden des kleinen Fjords, als beide Schiffe bereits mit hoch erhobenem Bug auf den Grund der steil absinkenden Bucht sanken. Das Luftkissenboot war nur noch schwach zu hören, aber im Nebel nicht mehr auszumachen.
Fassungslos sagte einer seiner Männer hinter ihm: „Habt ihr das gesehen? Sie haben zwei Handgranaten über fünfzig Meter weit geworfen! Meine Güte!“
„Und diese Kartons? Wie kann ein Mensch so etwas Großes und schweres so weit schleudern? Und was ist da wohl drin?“
„Bleibt bloß weg von den Dingern!“ schalt Lars sie zornig. „Wer weiß, welche Teufelei das wieder ist? Sicher eine Art von Falle, eine Sprengbombe, die bei Berührung detoniert oder…“
Eine junge Frau hatte sich den vier voluminösen, dicht beieinander liegenden Paketen von der Größe eines Fernsehgerätes bereits genähert und rief ihnen zu: „Einer der Kartons ist beim Aufprall aufgeplatzt. Da sieht man etwas heraus stehen… das ist ja…“
Als sie näher trat und die Hand ausstreckte, rief Lars panisch: „Nein! Nicht anfassen! Das ist eine Falle!“
Die Frau sah ihn zweifelnd an, betrachtete die Öffnung des Behältnisses und zog etwas heraus. „Wie soll ein Paket Nudeln eine Falle sein? Hier sind Teigwaren drin, Lars! Das Paket ist randvoll davon.“
Sie riss ungestüm den Deckel des großen Paketes ab und kippte ihn, worauf auf Anhieb etwa zwei Dutzend Pfundpakete von abgepackten Teigwaren heraus fielen. Sie sah hinein und rief: „Das sind insgesamt achtundvierzig Packungen. Vierundzwanzig Kilo Nudeln, Leute!“
Die ersten Freudenrufe wurden laut, als mehr und mehr Leute sich aus der Deckung ihrer Hütten wagten, um sich die unverhoffte Spende näher anzusehen. Die wagemutige junge Frau riss das zweite Paket auf, in dem sich ebenfalls Teigwaren befanden, dann das dritte, das randvoll mit Reis war und ein letztes mit Mehlpackungen, dem Salz und einige Hefepäckchen beigelegt waren.
Angesichts dieser reichhaltigen Spenden hielt sich die Trauer über den Verlust ihrer beiden Boote, von deren Existenz nur noch einige Ölflecken und Trümmer auf der Wasseroberfläche der Bucht zeugten, in Grenzen. Beinahe schon kam Feierstimmung auf, als die für Lagerung und Zubereitung von Lebensmitteln zuständigen Frauen sich um die unverhoffte Ergänzung ihrer Grundnahrungsmittel kümmerten.
Knut sah, wie Lars sich an den Rahmen seiner Tür lehnte und sich nachdenklich über seinen struppigen Schnauzbart strich. „Was hast du?“
„Du weißt wohl nicht, wie man diese Taktik nennt? Zuckerbrot und Peitsche! Sie werfen und eine Rübe hin und drohen gleichzeitig mit dem Knüppel. Wehe uns, wenn wir uns noch einmal an sie heranwagen, aber gleichzeitig geben sie uns doch noch etwas von unseren Vorräten ab. Für mich ist das ein Zeichen von Schwäche. Sie wissen nicht mehr weiter, jetzt da wir ihr Haus zerstört haben.“ Er lächelte heimlich in sich hinein.
Knut ahnte böses, schlug ihm aber nur freundschaftlich auf die Schulter. „Schlaf erst mal drüber und lass uns morgen nach dem Rechten sehen, Falls dieser zähe Nebel dann weg ist.“
„Sie hat er nicht davon abgehalten, uns erneut zu überfallen“, schnaubte er.
„Und wer ein Paket von einem halben Zentner Gewicht fünfzig Meter werfen kann…“ ließ Knut seinen Satz im Raum stehen.
„So etwas gibt es nicht. Sie haben sicher eine Art kleines Katapult oder so gehabt und wollen uns nun Glauben machen… ach was, du hast ja recht. Ich werde darüber schlafen; morgen ist auch noch ein Tag.“



Hallevik, Insel Rolla, Troms Fylke, Norwegen                         03. September 2006

„Und, wie ist es gelaufen?“ wollte Aishe als erstes wissen, als Abbey und Daniel zurück kamen, um von ihrer ‚Strafexpedition’ zu berichten.
„Gut, sie waren so verdattert, dass sie keinen einzigen Schuss auf uns abgefeuert haben.“
„Ich bin gespannt, wie sich unsere Gabe auf ihre Einstellung uns gegenüber auswirkt. Ein voller Magen ist vielleicht wichtiger als ein wütender Anführer, der nur Rache und Zerstörung im Sinn hat.“
Caroline schüttelte missbilligend den Kopf: „Dir ist aber klar, dass deine Taktik auf einer Milchmädchenrechnung beruht?“
Karin merkte auf: „Wie viele Menschen sind wir hier?“
„Acht Erwachsene, eine davon schwanger, ein Säugling“, antwortete der T-X pflichtschuldig.
„Und für wie viele waren die Vorräte vorgesehen?“
„Für zwölf“, seufzte Caroline, wohl wissend, was jetzt kommen würde.
„Und bis wann sind die Vorräte bemessen?“
„Bis Mitte 2012. Darum geht es aber gar nicht“, versuchte sie eine Rechtfertigung.
Aishe fiel sofort in ihren schwachen Protest ein: „Wo ist das Problem? Ich war zwar nicht mehr dabei, da ihr mich damals weg geschickt habt, aber nach dem was ich gehört habe, habt ihr beim ersten Kontakt mit Lars nicht gerade offen mit ihm verhandelt.“
„Meinst du bevor oder nachdem er mir seine Riesenknarre unter die Nase gehalten hat?“ begehrte Abbey auf, einen für sie ungewöhnlich blumigen Ausdruck für die Schusswaffe gebrauchend.
„Davor natürlich“, gab die Türkin zurück. „Wir hätten uns ja zuerst einmal in Ruhe anhören können, wie sie sich einen Tauschhandel vorgestellt hätten.“
„Das kann ich dir auch ohne Konsultation des guten Lars sagen“, ereiferte Caroline sich, „nämlich auf eine periodische Warenlieferung als Garantie dafür, dass er uns nicht mehr angreift. Meines Wissens nennt man das Schutzgeld. Und wir haben ihm gerade den ersten Beitrag ausgezahlt.“
„Wenn du so sehr dagegen bist, hättest du dich vorher für deine Position stark machen sollen. Jetzt ist es zu spät dafür“, erinnerte Dimitri sie.
„Schon gut, ich bin ja selbst darauf gespannt, wie sie reagieren werden“, gab sie darauf widerwillig zu.
„Sie müssen endlich begreifen, dass wir es ernst damit meinen und euch mit allen Mitteln verteidigen werden. Ich glaube inzwischen, dass es ein Fehler war, anfangs nur Lars direkt anzusprechen, da er ein sehr irrationales Individuum zu sein scheint. Er scheint nicht sofort auf logische Argumente anzusprechen, sondern braucht immer erst eine eindrucksvolle Demonstration von Waffengewalt, mit der wir unseren Standpunkt verdeutlichen.“ Daniel schüttelte bedauernd den Kopf.
„Inzwischen wissen alle in Skjellelv, dass wir ein ernst zu nehmender Gegner sind und sie uns mehrfach unterschätzt haben. Sie glauben offenbar, dass sie das Safehouse durch ihren Beschuss zerstört haben und wir zurzeit im Freien kampieren. Noch ein Trugschluss“, fügte Abbey rasch hinzu.
Nicolas meldete sich unverhofft: „Könnten wir nicht einen Handel mit ihnen abschließen? Sie wollen unsere Vorräte, wir wollen keinen von ihnen verletzen bei der Abwehr ihrer Versuche, auf diese Vorräte zuzugreifen. Wäre es nicht eigentlich von immensem Nutzen für uns, ihnen einen kleinen Teil davon als Geste guten Willens abzugeben? Wir erkaufen uns damit sozusagen den Frieden und schonen ihr Leben. Da uns jedes Menschenleben so wertvoll sein sollte, wie ihr es immer erzählt, sollten wir damit anfangen, es schon jetzt zu achten.“
Alle schwiegen betreten, dann stimmte Maja ihm zu: „Was er sagt, hat Hand und Fuß. Wir müssen nur einen Weg finden, Verhandlungen zu beginnen. Wird nicht leicht sein nach den vergangenen Ereignissen.“
„Und vielleicht sollten wir dann auch schon ein wenig mit der Wahrheit herausrücken“, schlug Karin zu aller anderen Überraschung vor. „Sie haben inzwischen schon so einiges an Unglaublichem gesehen, um ihnen wenigstens einen Teil der Ereignisse glaubhaft machen zu können über das, was auf der Welt wirklich vor sich geht.“
„Ich bin mir nicht sicher, ob es dafür nicht noch zu früh ist“, meldete Daniel seine Zweifel an. Sie diskutierten noch eine Weile und kamen dabei auf keinen gemeinsamen Nenner, weshalb sie das Thema schlussendlich vertagten.



Hallevik, Insel Rolla, Troms Fylke, Norwegen                         03. Oktober 2006

Es war kalt geworden im Verlauf des letzten Monats. Der erste Schnee war bereits gefallen und bedeckte die Landschaft wie ein Hauch von Puderzucker. Die Temperatur stieg auch tagsüber nicht mehr viel über den Gefrierpunkt und es würde nicht mehr lange dauern, bis erste Winterstürme und eine Vereisung des Fjords das Fischen unmöglich machen würde. Deshalb waren sie jeden Tag vollauf damit beschäftigt, ihre Nahrungsmittelreserven zu ergänzen, doch die Fänge wurden ebenfalls immer spärlicher. Nicht mehr lange und sie würden sich wieder auf die Überwinterung einstellen müssen.
Neben Shin und Aishe waren Maja und Nicolas auf dem Steg und halfen dabei, die Angeln und das Netz zu kontrollieren. Ein eiskalter, schneidender Wind blies von den Vesterålen herüber, doch sie waren alle dick angezogen und konnten es ohne Weiteres eine Weile aushalten.
„Es wird wieder ziemlich langweilig werden, wenn wir die ganze Zeit über im Haus sitzen werden“, meinte Nicolas düster.
„Keinem von uns gefällt das“, stimmte Shin ein, „vor allem nicht, wenn wir nicht einmal mehr die Turnhalle im Keller nutzen können. Warum eigentlich? Was tun sie da drin?“
„Hat noch keiner von euch jemals daran gedacht, einen Blick hinein zu werfen?“ fragte Maja verschwörerisch lächelnd. „Ich hätte schon einmal Lust, zu erfahren, warum wir auf unser geliebtes Fitnesstraining verzichtet haben und die ganze Zeit über nur joggen konnten.“
„Heute Abend soll es eine Ankündigung geben, was dahinter steckt. Ich bin ja schon gespannt. Sie haben vor allem behauptet, dass die Halle auch künftig nur ein paar Monate im Sommer gesperrt bleiben soll, wenn für uns die Möglichkeit besteht, zum Ausgleich im Freien zu trainieren. Klingt eigentlich logisch, dass es dann allmählich Zeit wird, die Halle wieder zu eröffnen. Ich weiß ja nicht, wie es euch geht, aber ich persönlich habe mir heute Vormittag beim Joggen den Hintern abgefroren.“ Unbewusst rieb sich Nicolas die Hände und steckte sie dann wieder in die Taschen seiner gefütterten Isojacke.
„Gut, dann warten wir einfach ab. Ich kann eh’ nichts anderes mehr tun als lange Spaziergänge machen, um mich in Form zu halten“, bemerkte Aishe und strich sich über ihr deutlich gewachsenes Bächlein, das nun selbst unter der dicken Winterjacke zu erkennen war.
Maja sah auf. „Hast du eigentlich irgendetwas von den beiden T-1000 gesehen, als du deine Spaziergänge gemacht hast?“
„Nein, ich glaube sie haben explizite Anweisungen erhalten, außer Sichtweite von jedem von uns zu bleiben und ihrer Überwachungstätigkeit mit äußerster Diskretion nachzugehen. Ich könnte dir nicht einmal sagen, ob Lene auf dem Berg sitzt und Lina patrouilliert oder umgekehrt“, gab Aishe zu.
„Oder ob sie sich dabei abwechseln“, fügte Maja hinzu. „Wir sollten froh sein, dass es im Moment so gut läuft. Einen Monat lang haben wir nichts mehr von Lars und Co. gehört oder gesehen.“
„Bis auf den Morgen nach unserer letzten Aktion gegen sie. Ich hätte zu gerne das dumme Gesicht von Lars gesehen, als er festgestellt hat, dass unser Haus noch völlig intakt ist und alle Schäden bereits repariert waren. Abbey hat ihm noch fröhlich zu gewunken, als sie auf dem Fjord vorbei gefahren sind.“
„Mir tun die Leute leid“, meinte Aishe nun. „Eigentlich wollen sie doch auch nichts anderes als wir, nämlich überleben. Ich gebe ja zu, dass wir keinen guten Start hatten, aber vielleicht sollten wir doch noch mal einen Versuch machen, mit ihnen zu verhandeln. Wir haben doch wirklich mehr als genug zu essen, so dass wir ihnen ab und zu mit etwas aushelfen können.“
„Deine soziale Ader wird noch unser Untergang sein, Sachatz“, witzelte Shin und grinste seine Freundin an.
„Ich versuche nur bereits jetzt so zu denken, wie wir alle es künftig sollten, nein, müssen: dass jeder Mensch zählt und ein Menschenleben das höchste Gut ist, das es auf der Welt gibt. Für mich war das schon immer so. Ich finde es traurig, dass man sich das überhaupt erst vor Augen führen und laut aussprechen muss.“
„Du hast Recht, Aishe.“ Maja drückte ihre Freundin an sich. „Wir alle sollten das für so selbstverständlich halten wie du. Das Problem sind die Terminatoren. Sie sind von ziemlich sturen, militaristisch orientierten Menschen programmiert worden, da ihnen misstraut wurde. Durch diesen unseligen Umstand sehen sie einiges nur schwarz und weiß, wo es doch viele Grautöne gibt. Wir dürfen ihnen nicht übel nehmen, dass sie nur das Beste für uns wollen und nicht nachvollziehen können, was in den Leuten in Skjellelv vor sich geht. Für Abbey und Konsorten sind sie nichts weiter als eine Bedrohung unserer Sicherheit.“
„Eine ernst zu nehmende, muss man leider hinzufügen.“ Nicolas sah auf, als die Angelrute vor ihm zuckte. „Sie haben uns schon ordentlich zugesetzt, aber immer nur mit Drohungen, Abschreckung und Vergeltung zu antworten, kann auf Dauer auch nicht das Wahre sein.“
„Wow, und das alles auf Russisch. Du machst dich wirklich, mein gallischer Freund.“ Shin grinste bewundernd und beobachtete, wie der künftige Anführer der europäischen Résistance einen etwa vierzig Zentimeter langen Fisch einer ihm unbekannten Art aus dem Meer zog, unter dessen Gewicht sich die Angelrute bedenklich durchbog.
„Nicht schlecht, Mann. Hier hast du den Eimer.“ Shin schob den fast bottichartigen riesigen Blecheimer zu Nicolas hin, damit dieser den Fang im Wasser lassen konnte, bis sie zum Haus zurückkehren würden. Erstaunt warf er einen Blick hinein und grunzte verwundert.
Maja sah ebenfalls hin und entdeckte eine hauchdünne Eisschicht auf der Oberfläche des Wassers im Bottich. „Na so was! Es ist wohl schon kälter, als wir uns eingestehen wollten.“
„Jetzt geht es nicht mehr lange, bis der Winter kommt. Wenn es schon so weit ist, dass mitten am Tag das Wasser im Eimer gefriert, ist es nur noch eine Frage von Tagen.“
Aishe sah unwillkürlich aufs Meer hinaus. „Die armen Leute in Skjellelv. Ich hoffe nur, dass sie genügend Vorräte anlegen konnten. Wenn ihre Bucht erst mal eingefroren ist, können sie nicht mehr raus fahren zum Sammeln.“
Nicolas sah auf. „Seht ihr das da hinten? Ich glaube, das ist eines ihrer Schiffe. Es fährt nach Harstad, schätze ich.“
„Wir sollten mit den Terminatoren reden. Ich finde, für den Monat Ruhe, den wir hatten, verdienen sie noch eine kleine Aufmerksamkeit. Für die harte Zeit, die jetzt kommt.“
Nicolas sah sie kurz an und wandte sich dann zum Haus. „Wir sollten beim Abendessen mit ihnen reden. Vielleicht hören sie auf uns, wenn wir ihnen von unserem Vorschlag erzählen.“



Sie hatten sich kaum gesetzt, als Nicolas in der Küche vorbei sah und Annie antraf, die gerade vollauf mit Kochen beschäftigt war. Sie sah auf und stülpte schnell einen Deckel über einen großen, hohen Topf und fragte: „Ja, was gibt es, Nicolas?“
„Kannst du die anderen zusammen rufen? Wir möchten etwas Wichtiges mit euch bereden.“
„Mache ich“, erklärte sie kurz angebunden und drehte sich so, dass sie mit dem Rücken zu ihm stand und den Herd verdeckte.
„Was hast du?“ erkundigte er sich, auf ihr ungewöhnliches Verhalten aufmerksam geworden.
„Das ist die Überraschung, du Schlaumeier! Nicht hinsehen!“
„Wie kindisch!“ Grinsend verließ er Annie und kehrte ins Wohnzimmer zurück, wo alle ungeduldig auf die Cyborgs warteten.
Nach und nach fanden sich Daniel, Abbey und Caroline ein, stellten sich mit unergründlichen Mienen in einer Reihe vor der Tür auf und harrten der Dinge, die da kommen sollten. Als auch Annie eintraf und sich nahtlos in die seltsame Formation einreihte, ergriff Nicolas das Wort: „Wir wollten mit euch etwas bereden, was die Kommune in Skjellelv betrifft.“
„Um was geht es?“
„Wie ihr wisst, steht der Winter vor der Tür. Seit dem Angriff und unserer Vergeltung ist mehr als ein Monat vergangen, ohne dass es irgendwelche Zwischenfälle gegeben hätte. Angesichts dieser beiden Tatsachen haben wir uns überlegt, ob wir unseren ‚Gegenspielern’ nicht noch einmal ein klein wenig unter die Arme greifen können. Unsere Vorräte sind doch wirklich reichlich bemessen und wir werden nicht hungern müssen, nur weil wir ihnen etwas davon abgeben.“
Nach dem Ende seines Appells starrten alle gebannt ihre Mentoren an, die noch einige Sekunden regungslos verharrten. Ganz offensichtlich kommunizierten, nein, konferierten sie auf elektronischem Wege, um zu einer Entscheidung zu gelangen. Unerwartet ergriff Annie das Wort: „Wir sind einverstanden.“
„Wirklich? Einfach so?“ staunte Silke.
„Nein, nicht ganz so einfach. Wir wollen vorher noch eine Erkundungsmission durchführen und abklären, wie die Lage in der Kommune wirklich ist. Aber aller Wahrscheinlichkeit nach wird das Ergebnis zugunsten einer erneuten materiellen Unterstützung ausfallen.“
Nicolas wollte argwöhnisch wissen: „Wozu dann überhaupt dieses Risiko eingehen, wenn ihr euch nicht viele neue Erkenntnisse davon versprecht? Wie wollt ihr das überhaupt erfassen, die Versorgungslage und die Stimmung, die Aussichten die sie haben, den Winter zu überstehen und ähnliche Fragen?“
„In taktischer Hinsicht ein brillanter Einwurf“, sagte Annie anerkennend. „Wir hatten im Sinn, ein Mitglied von Lars’ Leuten zu isolieren und über diese Belange zu befragen.“
„Das gefällt mir nicht“, fuhr Aishe sofort dazwischen.
„Ich würde gerne einen von uns dabei haben“, meinte Nicolas nachdenklich und rieb sich das Kinn. „Nicht, dass wir euch nicht vertrauen, aber es könnte schon helfen, wenn ein ‚echter’ Mensch dabei ist… ihr wisst schon.“
Dimitri sagte augenblicklich: „Ich melde mich freiwillig.“
„Nein, ich möchte das gerne tun“, entgegnete Maja energisch.
„Ich wäre dafür, dass jemand mit militärischem Vorwissen teilnimmt. Es ist schließlich das erste Mal, dass einer von uns so etwas macht.“
„Dann ist es entschieden. Ich werde gehen. Als Berufssoldat kann ich das keinem von euch überlassen“, entschied Nicolas.
Dimitri erhob sich vom Tisch. „Kann ich schnell mal mit dir reden, Nicolas?“
Der Südfranzose zog fragend seine Augenbrauen hoch, kam der Aufforderung aber ohne Zögern nach. Sie gingen auf den Gang hinaus und ließen den Rest der Gruppe ahnungslos zurück.
„Was soll das denn bedeuten?“ fragte Shin mehr sich selbst als jemand bestimmten im Raum.
Karin fragte Annie: „Wie stellt ihr euch diese Aktion eigentlich vor?“
„Wir werden nachts auf die von Skjellelv abgewandte Seite von Andørja fahren und über den Botntinden klettern, an seiner niedrigsten und flachsten Stelle. So gelangen wir ungesehen ins Dorf und wieder hinaus, da die ganze Aufmerksamkeit der Wachen auf den Straumsbotn gerichtet ist. Bisher sind wir immer aus dieser Richtung gekommen, bei all unseren Aktionen. Und da sie gesehen haben, dass wir praktisch ungehindert agieren können, wenn wir wollen, werden sie umso wachsamer sein. Dummerweise kommen wir diesmal nur aus der entgegengesetzten Richtung. Sie werden nicht einmal ahnen, dass wir da waren, wenn nichts Unvorhergesehenes passiert.“
„Das glaube ich nicht“, widersprach Karin und erklärte sich gleich, „denn ihr vergesst den Schnee. Er liegt zwar nur hauchdünn, wird aber dennoch eure Spuren verraten.“
„Es sei denn, dass es in dieser Nacht neuen Schneefall gibt. Die Wahrscheinlichkeit dafür steht bei neunzig Prozent“, konterte Annie und lächelte schelmisch.
„Verflixt, ich dachte, diesmal hätte ich euch.“
„Netter Versuch“, beendete Annie ihren kleinen Dialog. In diesem Moment erinnerte sie Karin an die alte Abbey, die gute Freundin aus den Neunziger Jahren, mehr als es die ‚richtige’ Abbey mit ihrem entwicklungsgehemmten Computerchip je getan hatte, seit sie vor zwei Jahren wieder aufgetaucht war. Wieder einmal wurde ihr deutlich, was die Cyborgs verloren hatten, als ihre CPUs von Simon und ihr herausgegeben und in die Zukunft geschickt worden waren. Schuld bewusst sah sie zu Abbey hin, die ihren Blick unverwandt erwiderte, als wisse sie genau, was Karin jetzt gerade denken würde. Sie senkte die Augen und starrte unfokussiert auf ihren Teller.
Nicolas und Dimitri kamen zurück, beide mit recht gelösten Mienen. Zur allgemeinen Verblüffung verkündete Nicolas: „Dimitri wird gehen.“
„Wieso das denn?“ wollte Maja wissen, enttäuscht über diese Wendung, sowohl für sie als auch für ihren Freund.
„Passt auf, es ist so…“ Er erläuterte kurz, was den Ausschlag zu ihrer Entscheidung unter vier Augen gegeben hatte und sah dann in die Runde.
„Nun gut, wenn ihr meint, das funktioniert…“ ließ Shin sich nicht sehr enthusiastisch vernehmen.
„Das ist eine unerwartete, aber doch positive Entwicklung. Wir hatten ja keine Ahnung, Dimitri. Und du glaubst, das wird klappen?“
„Ja. Der Vorteil dabei wird sein, dass wirklich niemand etwas davon erfahren wird, wenn ich mich nicht schwer täusche.“ Er sah wirklich zuversichtlich aus.
„Dann lasst uns jetzt zum Abendessen kommen“, fuhr Annie mit der Tagesordnung fort und verschwand in der Küche, gefolgt von Daniel, der beim Auftragen der Töpfe und Pfannen half. Alle Gerichte waren noch immer mit Deckeln vor den neugierigen Augen der Gruppe geschützt.
„Also, was ist nun die große Überraschung?“ verlangte Maja ungeduldig zu wissen.
„Seht selbst.“ Wie auf ein unsichtbares Zeichen hin nahmen die vier Kunstwesen die Deckel von den Behältnissen und enthüllten den Inhalt.
Ein kollektives Aufkeuchen entfuhr ihnen.
„Wie… wie kann das sein? Wo kommt das her?“ frage Karin fassungslos.
Maja fiel es wie Schuppen von den Augen. Tonlos sagte sie: „Die Turnhalle. Jetzt ist mir klar, weshalb sie für uns gesperrt war.“
„Ganz genau. Und, was sagt ihr?“ wollte Annie strahlend wissen.
Nicolas brauchte noch eine Sekunde, um das zu verarbeiten, was sich da vor ihm auf dem Tisch ausbreitete, und die Konsequenzen daraus abzusehen. Zur Feier des Tages schwammen in der größten Pfanne des Hauses Rehrückenteile in einer Pilzsoße. In den Töpfen befanden sich unter anderem Blumenkohl, Broccoli und geschnittene Mohrrüben.
Alles frisches Gemüse, ganz offensichtlich eben erst geerntet.
„Das bedeutet Krieg.“
„Wie meinst du das, Nicolas?“ fragte Daniel mit versteinerter Miene. „Freut ihr euch nicht, dass wir die Turnhalle über die Sommermonate, während das Wetter zum Sport im Freien mild genug war, zum Treibhaus umfunktioniert haben und Gemüse angebaut haben, das uns fast den ganzen Winter über reichen wird?“
„Natürlich. Es ist sensationell. Aber das meine ich nicht.“ Er nahm sich eine Kelle voll gedünstetem Broccoli, probierte etwas davon und schloss genussvoll die Augen.
Maja sah ihn an. „Du beziehst dich darauf, dass Lars wissen könnte, dass wir frisches Gemüse angebaut haben, stimmt es?“
Alle erstarrten, während der künftige General der europäischen Résistance mit finsterer Miene nickte. „Wir müssen davon ausgehen, dass Marit den Anbau entdeckt und nach ihrer Flucht Lars davon berichtet hat. Und ihr wisst auch, was das heißt?“
Maja nickte, nachdem sie sich ebenfalls geschöpft hatte, hin- und her gerissen zwischen dem unverhofften lukullischen Genuss auf ihrer Zunge und den folgenschweren Erkenntnissen, die sich ihr eröffneten. „Lars geht es gar nicht in erster Linie um die Vorräte. Jedenfalls nicht mehr. Sein primäres Ziel ist unsere Vernichtung, erst dann kommt das Plündern des Safehouses auf seiner Prioritätenliste. Damit müssen wir ihn als hochgradig irrational und unbelehrbar einstufen.“
„Was?! Wie kommst du bloß auf so etwas?“ fuhr Shin auf.
„Ich muss zugeben, selbst uns eröffnet sich nicht direkt, was ihr für Schlüsse aus diesen neuen Informationen zieht. Offenbar bewegen sich Nicolas und du momentan auf einer höheren strategischen Ebene als der Rest von uns allen“, räumte Caroline ein.
„Angenommen, Marit hat wirklich alles gesehen und auch den ‚Wintergarten’ entdeckt, bevor sie abgehauen ist…“ Maja zeigte mit einem kleinen Stück aufgespießtem Blumenkohl auf der Gabel zu Caroline hin. „Na, dämmert’s?“
Karin überlegte angestrengt. „Sie haben uns erst hinterher angegriffen. Wir gingen automatisch davon aus, dass sie uns nur ausrauben wollten, aber…“
Als sie ahnte, was nun kam, versagte ihr die Stimme.
Nicolas sprach es aus: „Ja, das war vielleicht das, was er seinen Leuten in der Kommune erzählt hat. Aber ganz offensichtlich gibt es eine Art Zwei-Klassen-Gesellschaft innerhalb der Kommune. Zum einen die ganzen unschuldigen Frauen, Kinder, Greise und Schwachen, die nicht zur Vorratsbeschaffung geeignet sind, deshalb zur Verrichtung infrastruktureller Arbeit im Dorf bleiben  und nichts von dem ahnen, was der Rest der Gruppe tut, wenn er zur See fährt, um Essen und andere Vorräte zu beschaffen. Diese ‚Elite’ sind aber leider nicht nur Sammler, sondern auch Jäger. Und solange etwas zu Essen auf dem Tisch steht, wird nicht lange nachgefragt, woher genau es kommt.“
Dimitri nickte und bestätigte: „Marit fiel aus allen Wolken, als ich ihr die Wahrheit über Lars und seine Kumpane erzählt habe. Sie hat mich für einen Lügner gehalten. Für die Leute in Skjellelv sind wir die Bösen, die auf einem riesigen Lager an Vorräten sitzen, die wir nie im Leben aufbrauchen können, aber trotzdem mit unverhältnismäßiger Grausamkeit bis zum letzten Reiskorn verteidigen. Sie denken, dass wir es lieber verrotten lassen, bevor wir ihnen etwas davon abgeben.“
„Nun, in diesem Licht war unsere letzte ‚Spende’ gar nicht so verkehrt. Wenn wir ihnen noch einmal Lebensmittel zukommen lassen, wird das unser Bild bei dem gemeinen Volk aufwerten und Lars unter politischen Druck setzen. Wenn ich es recht sehe, ist er ein gewählter Führer der Kommune und beherrscht sie nicht mit Waffengewalt, wenn er sich auch meist höchst autoritär gibt und selten Widerspruch duldet.“ Abbey sah in die Runde, wo die meisten nun trotz der ernsten Diskussion zu essen begonnen hatten und sich das köstliche, frische Gemüse schmecken ließen, von dem sie gedacht hatten, für den Rest ihres Lebens nie mehr welches zu bekommen.
„Aber warum sagst du, dass Lars uns lieber tot sehen möchte als alles andere?“ formulierte Silke kauend ihre Frage an Nicolas aus.
„Als sie uns angriffen, taten sie das mit einem Granatwerfer.“
„Ich weiß. Wieso aber denkst du…?“
Maja fiel ihr ins Wort: „Mensch, das ist doch klar! Sie konnten nicht wissen, dass unser Haus so schwer gepanzert ist. Woher auch? Wir selbst hatten ja keine Ahnung davon. Lars ist davon ausgegangen, dass er das Haus in Schutt und Asche legt und uns alle dabei töten wird, als er mit dieser Waffe angriff. Er hat dabei billigend in Kauf genommen, dass ein Großteil unserer Vorräte bei dieser Attacke mit Sicherheit vernichtet wird. Gut, er dachte sich vielleicht, er kann anschließend noch ein wenig in den Trümmern herumstochern und aus dem Keller das eine oder andere bergen, doch sicher sein konnte er natürlich nicht. Und das angesichts eines Vorrates an frischem, gesunden Gemüse; er hätte diese Anlage nach einer eventuellen Eroberung sogar noch unbegrenzt weiter betreiben und damit eine langfristige Sicherung ihrer Nahrungsreserven erreichen können. Aber stattdessen entscheidet er sich dafür, uns zu bombardieren. Alles klar jetzt?“
Schweigen am Tisch.
„Dieser Schluss ist vollkommen legitim“, folgerte Caroline. „Keiner von uns ist darauf gekommen.“
Aishe stöhnte auf. „Ihm war seine Vergeltung und Zurschaustellung von Überlegenheit also wichtiger als die Grundversorgung seiner Leute mit Nahrung. Ist das nicht einfach zum Kotzen? Wisst ihr, manchmal werde ich das Gefühl nicht los, die Menschheit verdient, was ihr widerfahren ist und noch widerfahren wird. Ist Skynet so eine Art göttlicher Sendbote, der über uns richtet? Wer sind wir, dass wir das alles aufhalten wollen?“
Shin trat zu ihr, als sie die Nerven verlor und in Tränen ausbrach. Alle am Tisch zeigten Betroffenheit und schwiegen beklommen. Es mochte nur das hormonelle Ungleichgewicht in der Schwangerschaft sein, das sie so emotional reagieren ließ, aber irgendwie hatte trotzdem niemand mehr so rechten Appetit, nachdem Aishes Ausbruch abgeklungen war. Ungeachtet dessen schlangen sie ihr Mahl mit einem Kloss im Hals schweigend in sich hinein, schließlich erlaubte ihre Versorgungslage es unmöglich, irgendetwas zu verschwenden.
Nachdenklich meinte Simon plötzlich zu Nicolas: „Hast du nicht einmal erwähnt, dass die Leute den Atomkrieg als ‚Tag des Jüngsten Gerichts’ bezeichnen?“
„Halt die Klappe und iss!“ fuhr Silke ihn leise an.
„Ja, schon gut. Tut mir leid.“
Danach war die Stimmung am Tiefpunkt.





- 6 -

Skjellelv, Andørja, Troms Fylke, Norwegen                      3. Oktober 2006

Es war  bereits dunkel, als Caroline und Dimitri die letzten Meter den schneebedeckten Hang hinab kletterten, durch ihre weiße Tarnkleidung gegen den Hintergrund fast unsichtbar. Dimitri flüsterte: „Wie wollen wir sie finden?“
„Ich habe ihre Biowerte gespeichert. Auf kurze Distanz kann ich sie problemlos ausmachen, anhand von Herzschlag, Atemfrequenz, Wärmebild und so weiter. Manche ihrer Werte haben sich durch ihre körperliche Erholung zwar geändert, doch im Allgemeinen ist das für mich wie ein Fingerabdruck. Ich hätte es allerdings leichter, wenn sie mit jemandem reden würde. Sobald sie nur ein Sterbenswörtchen sagt, habe ich sie definitiv.“
„Und?“ wollte er wissen, als ihr Kopf langsam hin- und her schwenkte.
„Wir nehmen diese Richtung.“ Bestimmt zog sie ihn im Schatten der obersten, unbewohnten Hütten am Rand des Hanges, wo sich der Untergrund langsam in die kleine Landzunge am Ende des Fjordes ausformte, zum entfernten Ende der Siedlung, ein Haus nach dem anderen von außen unter die Lupe nehmend. Einmal konnten sie zwischen zwei Häusern hindurch einen flüchtigen Blick auf einen der bewaffneten Posten ausmachen, doch wie erwartet wandte er ihnen den Rücken zu und starrte hinaus aufs Wasser in Richtung der Mündung des lang gezogenen Straumbotn.
Schließlich kamen sie hinter einer weitläufigen Holzhütte zum Halt. Das Blockhaus konnte durchaus mehr als vier oder fünf Räume haben und war laut Caroline mit einem Dutzend Menschen belegt, teilweise noch Halbwüchsige.
„Sie ist nicht alleine? Was machen wir jetzt?“ fragte Dimitri nervös.
„Ich muss es noch eingrenzen, bevor wir entscheiden. Lass mich einen Scan machen…“ Sie umrundete das Haus von drei Seiten und kam dann zurück zu ihm. „ Ihren Werten nach ist keiner im Haus noch wach. Es sieht so aus, als würde sie mit zwei größeren Kindern in einem Zimmer schlafen. Das ist nicht sehr günstig, aber machbar. Komm mit.“
Sie näherten sich lautlos der Vorderseite und traten durch die unverschlossene Eingangstür in einen langen, schmalen Gang, der an der Rückwand des Hauses mit einem kleinen Fenster endete. Von ihm gingen alle Türen zu den Räumen ab. Caroline signalisierte ihm, sich dicht hinter ihr zu halten und kein Geräusch zu machen. Sie wandte sich nach rechts und öffnete die zweite von drei Türen, die dabei ein leises Quietschen von sich gab. Einen bangen Moment lang lauschten sie in die Stille des dunklen Hauses, doch nichts regte sich.
Der T-X bedeutete ihm, auf dem Flur zu warten und trat leise ein. Schnell untersuchte sie den Zustand der hölzernen Bohlen des Fußbodens, der solide genug für ihr Gewicht schien. Sie schlich lautlos an eines der Betten, aus welchem nur ein blonder Haarschopf hervorlugte. Alle drei Personen im Raum befanden sich ihren Biosignaturen nach in der ersten Phase des nächtlichen REM-Tiefschlafes. Perfekt.
Vorsichtig schlug Caroline die Bettdecke auf und schob ihre Arme unter die Kniekehlen und die Schulterpartie des jungen Mädchens, ihren Kopf mit der Hand unterstützend. Sie trug sie mühelos zur Tür und schob sich seitlich mit ihr durch den Rahmen, Dimitri mit einem Kopfnicken auf die erste Tür links hinweisend, worauf er diese öffnete. Sie betraten eine Art Wohnküche, die geräumig war und mit einem großen Esstisch für ein gutes Dutzend Personen in der Fensterecke ausgestattet war. Auf eine der Bänke entlang der Wand legte sie die Schlafende und schloss dann die Tür, gegen welche sie angelehnt stehen blieb, sich bewusst im Hintergrund haltend.
„Ich glaube, sie wird langsam wach. Hältst du das wirklich für eine gute Idee?“
„Es war deine Idee, schon vergessen? Meine Güte, wir konnten einfach so hinein spazieren und sie aus ihrem Bett holen. Niemand ist wach geworden, niemand hat etwas gemerkt. Ich fürchte, dieser Mangel an Wachsamkeit und Instinkt für Gefahr wird viele der Menschen ihr Leben kosten. Nur diejenigen, die auch im tiefsten Schlaf noch einen siebten Sinn entwickeln, werden es schaffen.“ Sie schüttelte missbilligend den Kopf.
„Ja ja, was immer du sagst. So, es ist gleich soweit.“ Er betrachtete versonnen ihr Gesicht und bemerkte, wie ihre Augenlider flatterten und sie leise lächelnd etwas murmelte. „Ich glaube, sie träumt.“
Er beugte sich mit einem zugewandten Ohr zu ihr herab, um verstehen zu können, was sie sagte. Erstaunt sah er auf. „Sie hat meinen Namen geflüstert!“
In diesem Moment wurde sie schlagartig wach, als sie seine Stimme hörte. Ihre Augen weiteten sich, sie riss den Mund auf und holte hörbar Luft. Geistesgegenwärtig presste Dimitri ihr seine Hand auf den Mund. „Leise, Marit! Nicht schreien! Wir wollen nur mit dir reden!“
Sie sah ihn angsterfüllt an, doch dann wich diese Furcht etwas anderem, das die Oberhand in ihr gewann. Sie nickte und richtete sich auf, sodass er seine Hand von ihrem Mund nahm.
„Oh Dimitri, du lebst! Ich hatte solche Sorge um euch…“ Sie brach ab, als ihr etwas klar wurde. „Wie kommt ihr hierher? Seid ihr verrückt, einfach so hier rein zu spazieren? Wenn euch jemand gesehen hat…!“
„Leise!“ zischte Caroline eindringlich und bekräftigte: „Uns hat niemand gesehen, vertrau’ mir.“
„Es ist schön, dich wieder zu sehen, Marit. Wie geht es dir?“ Er lächelte sie an und spürte bei ihrer Erwiderung, wie sich eine wohlige Wärme in seiner Brust ausbreitete, wie er es schon eine ganze Weile nicht mehr empfunden hatte.
„Ganz gut, glaube ich. Es tut mir nur im Nachhinein leid, dass ich euch so hintergangen habe. Ich glaube, das war ein Fehler.“ Betreten senkte sie den Blick. „Ich habe von dem Angriff gehört. Sie wollten euch töten, stimmt’s?“
„Ja, doch wie du siehst ist ihnen das gründlich misslungen. Uns geht es gut. Aber wir sind aus einem bestimmten Grund hier.“ Er umfasste ihre Hände mit seinen und sah sie eindringlich an.
Caroline sagte in die einsetzende Stille hinein: „Wir brauchen Informationen, Marit. Wir wollen sie nicht gegen euch einsetzen, das verspreche ich dir; du brauchst also kein schlechtes Gewissen zu haben. Wir möchten uns nur ein genaues Bild von der Lage machen können, in der wir uns befinden, damit wir entsprechende Gegenmaßnahmen zu unserem Schutz ergreifen können. Wir haben euch nie etwas Böses gewollt und alle Aktionen gegen euch waren stets nur Vergeltungsmaßnahmen nach einem Angriff von Lars auf uns. Wir haben ihm stets im Voraus damit gedroht und versucht, ein gewisses Abschreckungspotential aufzubauen, aber er ist leider ziemlich dickköpfig und hat uns stets nur unterschätzt.“
„Ja, aber das passiert ihm nicht mehr, glaube ich. Er ist noch immer völlig fertig bei dem Gedanken, dass er euer Haus mit Granaten beschossen hat und es noch immer unbeschädigt ist. Das bereitet ihm schlaflose Nächte. Ich glaube, er fängt allmählich an, wieder an Trolle und dunkle Magie zu glauben.“
„Kann ich mir vorstellen“, meinte Dimitri grinsend und wisperte dann, ernster werdend: „Für uns ist aber vor allem eines wichtig: was hast du gesehen, als du bei uns warst? Und was davon hast du ihm erzählt?“
Ihre Augen wurden feucht und sie biss sich auf die Unterlippe. „Alles, fürchte ich. Ich… ich war in der Küche, in jedem Kellerraum, ich habe eure Plantage und eure Öltanks gesehen. Und natürlich die Garage. Es… tut mir so leid, bitte glaube mir…“
Als sie in Tränen auszubrechen drohte, nahm er sie in den Arm und drückte sie sanft an sich. „Ist schon gut. Das ist zwar ernst, aber wir werden schon damit fertig. Um ehrlich zu sein, haben wir die Verteidigung des Safehouses sogar aufgestockt, seit Lars uns das letzte Mal angegriffen hat. Ihr habt es nun mit etwas weitaus Schlimmerem zu tun, wenn ihr euch noch einmal zu so einer Dummheit wie einem offenen Angriff hinreißen lasst.“
Sie löste sich von ihm und sagte plötzlich: „In der Nacht des Angriffes, als die Boote zurückkamen und erzählt wurde, euer Haus sei zerstört und die meisten von euch wahrscheinlich tot, bin auch ich tausend Tode gestorben vor Angst. Ich fühlte mich so elend, weil das alles nur meine Schuld war. Wenn ich euch nicht verraten hätte, wäre es nie so weit gekommen.“
Sie hielt einen Moment inne und fuhr dann mit erstickter Stimme fort: „Seit meiner Flucht muss ich ständig an dich denken. Ich hätte es mir nie verziehen, wenn dir etwas passiert wäre.“
„Das ist nett von…“ Überrumpelt brach er ab, als sie ihm um den Hals fiel und in einem innigen Kuss mit ihm versank. Er wusste einen Moment lang nicht, was er tun sollte, doch dann gaben seine unterschwelligen Barrieren nach und er gab sich seinen Emotionen hin, ihre Zärtlichkeit erwidernd.
Als sie ein Räuspern im Hintergrund vernahmen, ließen sie erschrocken von einander ab und starrten herauf zu Caroline. Sie murmelte lediglich: „So habe ich mir die Befragung zwar nicht vorgestellt, aber lasst euch nicht von mir stören. Wir haben die ganze Nacht Zeit.“
„Schon gut, alter Miesepeter.“ Grummelnd wandte sich Dimitri wieder zu Marit hin, die selig lächelte. „Marit, hör zu. Ich möchte von dir wissen, wie die Lage in eurer Kommune ist. Habt ihr genug Essen für den Winter gesammelt? Wie ist die Stimmung unter den Leuten?“
„Nicht gut. Wir haben zwar einiges zusammen bekommen, aber ich glaube nicht, dass es für den ganzen Winter reichen wird. Nicht ganz. Gegen Ende, bevor die Wasserstrassen wieder eisfrei sein werden, werden wir unsere Vorräte ziemlich strecken müssen. Eure Gabe hat die Situation ein wenig entschärft, aber noch nicht vollends. Wozu habt ihr eigentlich solch gewaltige Mengen an Nahrung eingelagert?“
Caroline antwortete, während Dimitri sie nur verlegen angrinste. „Wir haben voraus geplant. Wir rechnen damit, bis maximal 2013 dort bleiben zu müssen. Du hast dir sicher bereits eine Menge Fragen über das Safehouse gestellt, doch auf all diese Fragen gibt es eine einfache, wenn auch unglaubliche Antwort. Wenn du willst, kannst du mir einige der Fragen stellen, die dich bewegen. Ich werde versuchen, sie dir so getreu wie möglich zu beantworten, ohne dich allzu tief in sämtliche Zusammenhänge einzuweihen.“
Marits Blick wurde hart, als die angeborene, gesunde Skepsis in ihr hervorkam. „Habt ihr gewusst, dass es zu einem Atomkrieg kommen könnte?“
Bedächtig nickte der T-X. „Wir wussten sogar das Datum.“
Ihre Kinnlade fiel herab. „Aber wie… das kann doch nicht sein! Wie konntet ihr das wissen?“
„Nun, das ist einfach: einige von uns, ich übrigens auch, stammen aus der Zukunft.“
„Ach so, warum bin ich da nicht von alleine drauf gekommen.“ Leise auflachend winkte sie ab, nur um Caroline einen Moment später anzufahren: „Hältst du mich für total bescheuert?“
„Wenn ja, hätte ich es dir wohl kaum erzählt, nicht wahr?“
Dimitri schaltete sich ein: „Marit, es fällt dir sicher schwer, etwas so Lächerliches zu glauben, aber es stimmt. Wir wurden einen Monat vor der Katastrophe hierher ins Safehouse gebracht. Caroline hat Jahre gebraucht, um es so zu bauen, dass wir völlig unabhängig von der Außenwelt leben können.“
„Du… hast es gebaut? Ganz alleine?“
Als Caroline nickte, schüttelte Marit hingegen den Kopf: „Das kann ich nicht glauben.“
„Marit, alles was zur Zeit passiert, ist ein Teil des Schicksals der Menschengeschichte. Das meiste davon ist längst festgeschrieben, da diese Wesen aus der Zukunft unsere Geschichte und noch kommende Ereignisse längst kennen. Für sie ist es die Vergangenheit, verstehst du? Und auch die Tatsache, dass du ausgerechnet bei uns angespült worden bist, ist kein Zufall gewesen.“ Dimitri sah sie mit festem Blick an.
„Was meinst du damit?“
„Du gehörst zu uns. Kannst du das verstehen? Dein Platz in der Zukunft ist an unserer Seite. Im Augenblick sieht es schlimm aus für die Menschheit, aber es werden noch unvorstellbar grausamere Dinge geschehen. Wir bereiten uns darauf vor und würden auch gerne eure Kommune mit einbeziehen, aber es gilt zuerst einmal, zu einem vernünftigen Konsens zu kommen. Bei uns im Haus sind Stimmen laut geworden, die eine Annäherung und Aussöhnung mit euch befürworten, oder zumindest einen Waffenstillstand. Kannst du uns sagen, ob es unter euren Leuten eine ähnliche Tendenz gibt?“
„Ich denke schon. Zumindest einer Waffenruhe wären die meisten nicht abgeneigt, denke ich. Vor allem Knut, der Stellvertreter von Lars, wäre froh darüber; er ist ein kluger und besonnener Mensch. Und ihr wollt das auch?“
„Das war es, was wir die ganze Zeit wollten. Wir haben uns nur verteidigt und werden das auch weiterhin tun, vehementer als zuvor, denn es ist von entscheidender Bedeutung für ganz Europa, dass wir alle überleben und in Zukunft für die Menschen da sein können.“ Dimitri sah sie noch immer mit solchem Ernst an, dass sie nicht anders konnte, als ihm langsam Glauben zu schenken.
„Du klingst so feierlich, als wüsstest du etwas…“
„Mit der Zeit werden die Antworten kommen. Vertraue uns.“
„Wir sollten gehen, Dimitri.“ Caroline stieß sich von der Tür ab und machte Anstalten, sie zu öffnen.
„Du darfst keinem sagen, dass wir hier waren, okay?“ Er zögerte kurz, dann hauchte er ihr noch einen kurzen Abschiedskuss auf die Lippen. Sie schloss die Augen und lächelte, als würde sie das alles nur träumen, blieb aber regungslos sitzen.
Einen Moment später öffnete sie die Augen und war alleine im Raum. Sie drehte sich zum Fenster hin, konnte aber im einsetzenden Schneetreiben draußen nichts erkennen. Es stimmte, sie waren wie Phantome gekommen und gegangen, niemand hatte etwas gemerkt und der Neuschnee würde ihre Spuren bedecken.
Sie lächelte verträumt. Irgendetwas Großes bahnte sich an und sie sollte Teil davon sein!



Skjellelv, Andørja, Troms Fylke, Norwegen                    25. Oktober 2006

Marit stand vor der Schwelle ihrer Tür und starrte hinaus auf den Straumbotn. Es konnte höchstens halb Vier Uhr Nachmittags sein und es dämmerte schon. Der Winter hielt Einzug in Mittelnorwegen, das war nicht nur an der zehn Zentimeter hohen Pulverschneedecke zu erkennen, die seit jener Nacht des unerwarteten Besuches das Land bedeckte. Die Temperatur stieg inzwischen auch tagsüber nie über den Gefrierpunkt und folglich hatte sich bereits vor über einer Woche eine Eisschicht auf dem ruhigen Wasser des Fjordendes gebildet.
Anfangs hatten sie versucht, mit einem Kutter, der zwischen Skjellelv und der Mündung ins offene Meer hin und herfuhr, das Fahrwasser der lang gezogenen Bucht frei zu halten, mussten jedoch bald einsehen, dass sie dabei soviel Diesel verbrauchten, nur um irgendwo auf ihren Touren ein paar Konservendosen oder Reispackungen aufzustöbern zu können, dass es die Sache nicht wert war. Das Kosten-Nutzen-Verhältnis war denkbar schlecht.
So lagen die Boote nun im Hafen fest und die Besatzungen vertrieben sich die Zeit mit Baumfällen und Holzhacken, um genug Brennmaterial für den langen, harten Winter bereit zu stellen. Sie hatten die nähere Umgebung des Dorfes bereits völlig abgeholzt und mussten das geschlagene Holz ständig weiter transportieren. Sie hätten gerne noch eine Weile weiter Vorräte zusammen getragen, doch ohne schiffbare Zufahrt mussten sie in Skjellelv ausharren.
Die Stimmung war demnach auf einem neuen Tiefpunkt. Der Vorteil der wind- und wettergeschützten Lage wog die Nachteile keineswegs auf, wie Marit fand, als sie sich leicht fröstelnd abwandte, um wieder ins Haus zu gehen und sich um ihre Arbeit zu kümmern.
Ein Geräusch vom fernen Bogen der Straßenbrücke erregte ihre Aufmerksamkeit. Ein einzelner Schuss peitschte durch die Dämmerung, doch das ferne Brummen wurde ständig lauter. Dann sah sie es: ein flacher, gedrungener Bootskörper, der sich rasend schnell übers Eis bewegte und direkt auf sie zuhielt. Dabei trug der Wind den Lärm des einzelnen Rotors, der das Luftkissenboot antrieb, vor sich her zu ihrem Standort.
Das waren sie!
Sie lief wie einige andere auch, die gerade im Freien waren und das sich nähernde, jetzt verlangsamende Hovercraft bemerkt hatten, zum Hafen hinab. Kaum war sie am Beginn der Felsbucht und der Holzstege angekommen, wo die festliegenden Fischerboote und das große Fährboot festgemacht waren, als das Boot wie beim letzten Mal beidrehte und langsam etwa fünfzig Meter von ihnen entfernt auf dem knackenden Eis stehenblieb.
Die Luke öffnete sich und Abbey erschien mit einem Karton in Händen, den sie genau wie Daniel beim letzten Mal in hohem Bogen ans Ufer warf, wo er im Schnee landete. Sie rief deutlich für alle vernehmbar: „Wir kommen in friedlicher Absicht. Alles was wir wollen, ist in Ruhe gelassen zu werden. Deshalb fordern wir euch zu Verhandlungen auf. Morgen Mittag auf eurem Fährschiff auf dem Vågsfjorden in der Mitte zwischen Harstad und Hallevik. Maximal sechs Personen inklusive Besatzung. Keine Waffen, wir wollen nur reden. Und als Zeichen unseres guten Willens haben wir euch wieder etwas mitgebracht.“
Wiederum wurden insgesamt vier Kartons mit Vorräten zu ihnen herüber geworfen. Keine der Wachen hob eine Waffe, dafür waren sie viel zu froh über das erneute unverhoffte Geschenk. Das Hoverkraft drehte sich noch zweimal im Kreis, worauf das Eis unter ihm zu knacken und brechen anfing, bis sich eine Spur bildete, die breit genug für die Personenfähre war. Langsam und mit einem leichten Zickzackkurs entfernte sich das Luftkissenboot, so dass sich das Eis in seiner Spur, das schon bei seiner Hinfahrt beschädigt worden war, weiter aufbrach.
„Seht nur, sie bahnen uns eine Fahrrinne ins Eis. Wie ist das möglich?“ rief eine Frau zwei Häuser weiter.
Lars erschien an der Tür seines Hauses und spähte dem Boot nach. Leise sagte er: „Dann stimmt es doch, was ich gehört habe. Man kann ein Luftkissenboot als Eisbrecher benutzen. Die Vibrationen des Hubantriebs bringen das Eis unter dem Boot zum Schwingen und brechen es auf.“
Marit starrte ihn an und sagte: „Hast du gehört, was sie gesagt haben? Sie wollen verhandeln?“
„Verhandeln?“ Sein Kopf ruckte herum. „Nein, das hab’ ich verpasst. Was genau haben sie gesagt?“
Der Nächste neben Lars berichtete wie aus der Pistole geschossen: „Sie wollen sich auf unserer Fähre mit uns treffen. Morgen Mittag auf dem Vågsfjorden. Was sie genau wollen haben sie nicht gesagt.“
Langsam erschien ein Grinsen auf Lars’ Gesicht. „Das ist die Chance.“
Dann verschwand er in seinem Haus.
Marit musste schlucken. Das gefiel ihr nicht.



Vågsfjorden, Troms Fylke, Norwegen                         25. Oktober 2006

Caroline, Annie, Abbey und Aishe hatten das Hovercraft bemannt, nachdem es voll getankt und gründlich gewartet worden war. Vor allem Shin hatte energisch protestiert, dass sie ausgerechnet seine schwangere Freundin mitnehmen würden, doch Caroline hatte alle, nicht nur ihn beruhigen können: „Aishe ist für die Verhandlungen unentbehrlich; niemand von uns besitzt auch nur annähernd soviel diplomatisches Geschick und Einfühlungsvermögen wie sie. Keine Angst, wenn irgendwas nicht stimmt, brechen wir sofort ab. Ich traue Lars kein bisschen über den Weg, wenn es um lautere Absichten geht, doch wir sind gewappnet. Allerdings müssen wir es auch harmlos aussehen lassen, damit sie keinen Verdacht schöpfen, wenn wir sie überprüfen.“
„Ich habe eine Idee“, sagte Annie und ging noch schnell zur Garage, bevor auch sie einstieg und sie den Motor starteten.
„Was hast du geholt?“ wollte Aishe neugierig wissen.
Sie hielt wortlos eine klobige, lichtstarke Taschenlampe hervor. Aishe betrachtete den Minischeinwerfer, der absolut handelsüblich erschien. „Wozu soll der gut sein?“
„Lass’ dich überraschen.“
Aishe sah zu Caroline hinüber: „Ich hasse es, wenn sie das sagt.“
Da die Kommune offenbar keine einzige funktionierende Uhr mehr besaß, waren die Unterhändler mit der Fähre schon am späten Vormittag langsam durch die allmählich wieder einfrierende Fahrrinne im Straumbotn geschippert, hatten den über Nacht entstandenen Eisfilm jedoch mühelos mit dem stählernen Bug der Fähre aufbrechen können. Dann hatten sie in der Mitte des breiten Vågsfjorden Stellung bezogen, vom Safehouse aus gut einsehbar.
Sie näherten sich nun der Backbordseite des Schiffes und besahen sich argwöhnisch die Deckaufbauten. Caroline meinte mit zusammen gekniffenen Augen: „Bisher sind nur drei Leute im Brückenhaus sichtbar, einer davon ist Lars. Für genauere Informationen sind wir noch zu weit entfernt. Wir werden verdammt nah herangehen müssen, um die Lage richtig einschätzen zu können.“
Annie sagte: „Wenn du in der Mitte der Kabine bleibst, Abbey vorn am Ruder und ich hier ganz nach hinten gehe, können wir unsere Sensorendaten zu einer Kette synchronisieren. Mit drei Messpunkten müssten wir die Auflösung erheblich verbessern können.“
Caroline nickte grimmig lächelnd: „Natürlich! Das ist genial, Annie; genauso machen wir es. Warum komme ich nicht auf so etwas?“
„READ ONLY.“ Bedauernd zuckte sie mit den Schultern und postierte sich am Heck der niedrigen Kabine, die nur mit zwei Sitzbänken entlang der Außenwände ausgestattet war. Den bedeutungsvollen, beinahe schon neidischen Seitenblick von Caroline ignorierte sie in aller Bescheidenheit.
Als sie noch vierzig Meter vom Schiff und genau längsseits waren, öffnete Caroline die Luke, die in der Mitte der Steuerbordwand eingelassen war, hielt die Taschenlampe hinaus und rief: „Ahoj! Alles klar bei euch?“
„Ja, kommt an Bord, damit wir verhandeln können!“ Lars war offenbar sehr erpicht auf die Eröffnung eines Dialoges.
„Es funktioniert, wir können die Außenwand des Schiffes durchdringen. Scan läuft. Jetzt dein Manöver, Annie.“ Caroline schaltete die Lampe an und richtete sie auf den Bug des Schiffes, um langsam an der Wasserlinie entlang bis zum Heck entlang zu leuchten. Nach zwanzig Sekunden hatte sie dieses erreicht.
„Scan komplett.“ Sie erhob die Stimme und rief laut: „Das ist eine Falle, Lars! Unter Deck verstecken sich zwölf deiner Leute, acht davon mit Pistolen und vier mit Gewehren, eines davon vollautomatisch. Ich möchte dir übrigens raten, deine Sig Sauer nicht mehr entsichert in den Hosenbund zu stecken; das kann ins Auge gehen.
Wir werden jetzt heimfahren und uns etwas Leckeres zu Mittag kochen. Ihr seid den ganzen Weg umsonst gefahren und habt nichts gewonnen mit eurer List, nur einen Haufen Treibstoff habt ihr unnütz verschwendet. Morgen mittag um die gleiche Zeit erwarten wir euch noch einmal, aber diesmal ernsthaft: sechs Mann, keine Waffen. Ach ja, wir möchten gerne, dass Marit die Delegation begleitet. Sie hatte Einblick in unser Heim und kann zwischen uns vermitteln.“
Ohne eine Antwort abzuwarten, knallte Caroline die Luke zu. Abbey hatte die Gashebel des kraftvollen Deutz-Dieselmotors bereits zum Anschlag vorgeschoben und steuerte das Boot mit einer beeindruckenden Beschleunigung in einem weiten Bogen um das kleine Fährschiff herum und zurück nach Rolla.
„Das war phantastisch. Die anderen haben das Nachsehen und hoffentlich auch ein schlechtes Gewissen. Wir können davon ausgehen, dass Lars diesen Hinterhalt ausgeheckt hat und jetzt an Ansehen verloren hat, da sie nichts gewonnen haben und nur eine Menge wertvollen Diesel verbraucht haben.“
„Schade. Vielleicht klappt’s ja morgen besser“, meinte Aishe hoffnungsvoll.
Sie fuhren mit hohem Tempo zurück zum Safehouse, doch Abbey sah bereits von weitem, dass etwas nicht stimmen konnte. „Lina ist nicht auf dem Gipfel des Rolla. Das ist sehr ungewöhnlich. Sie sollte eigentlich ständig auf Posten sein.“
„Sollen wir das Safehouse anfunken und nachfragen?“ schlug Aishe vor.
„Lieber nicht. Wir sind ja nur noch eine Minute vom Haus entfernt. Wir werden also so oder so gleich erfahren, was los ist.“ Caroline schien alarmiert, als ahne sie schlimmes.



Sie überließen es Abbey, das Hovercraft an seinem Stellplatz zwischen den ersten Bäumen am Waldrand zu parken und mit dem Tarnnetz vor Entdeckung zu schützen. Ohne Umwege hasteten alle anderen direkt durch den Vordereingang bis ins Wohnzimmer, wo sie zu ihrer Verblüffung alle versammelt antrafen, inklusive der beiden T-1000, die eigentlich das Gelände bewachen sollten. Sowohl Daniel als auch sämtliche Menschen im Raum machten ein grimmiges Gesicht, letztere wirkten gar schwer erschüttert. Karin hatte Nick zu sich geholt und presste ihr selig schlummerndes Kind an sich, mit einer Inbrunst, die trotzige Verzweiflung ausdrückte.
Aishe begann ahnungslos: „Hallo. Habt ihr schon mitgekriegt, dass unsere Verhandlungen fehlgeschlagen sind? Sie wollten uns an Bord des Schiffes überrumpeln. Aber wir… was ist denn los?“
„Alles hat sich geändert. Unsere gesamte Lage hat sich grundlegend auf den Kopf gestellt.“ Nicolas schüttelte den Kopf, als könne er nicht glauben, was er offenbar gerade erfahren hatte.
„Und was meinst du damit? Warum sind die beiden…“ Aishe sprach nicht aus, was immer sie vorgehabt hatte zu sagen, sondern beließ es bei einem Kopfnicken in Richtung Lene und Lina, „…nicht auf ihren Posten?“
„Es war nötig, Funkstille zu wahren. Im Grunde genommen ist das von jetzt an das Wichtigste überhaupt, wenn wir hier noch eine Weile bleiben wollen.“ Daniel sah auf, als Abbey vom Versorgen des Luftkissenbootes kam und sich zu ihnen gesellte. Er schien wohl darauf gewartet zu haben, dass alle anwesend waren, bevor er die Neuigkeit verkündete.
„Während ihr weg wart, hat Lina auf ihrem Posten auf dem Rolla oben Funksignale empfangen. Sie hat vollkommen richtig gehandelt, indem sie ihrerseits nicht Meldung an uns gemacht hat, sondern selbst hinab gekommen ist und direkt davon berichtet hat.“
„Aber das ist doch gut, oder? Jedes Lebenszeichen von anderen Menschen ist positiv. Oder meinst du, es kann noch mehr Ärger geben wie mit der Bande von Lars?“ wollte Aishe zögerlich wissen, als sich die Mienen um sie herum verdüsterten.
„Ich fürchte, du verstehst nicht, Aishe. Es waren Kurzwellensignale, die durch zufällige Begebenheiten der Atmosphären- und Umweltbedingungen bis zu uns vorgedrungen sind. Die Signale kamen aus Neufundland, das ist eine große Insel im Südosten Kanadas.“
Als auch die anderen drei Cyborgs zunehmend ernster aus der Wäsche sahen, meinte Aishe beinahe verzweifelt: „Gut, es kommt aus Amerika. Ihr dachtet, dort lebt fast niemand mehr. Wenn wir aber Funksprüche von dort empfangen, bedeutet das doch, dass jemand versucht, Kontakt mit anderen Menschen aufzunehmen oder Informationen über den Rest der Welt…“
Sie brach ab, als Daniel erneut den Kopf schüttelte und beinahe bedauernd erklärte: „Ich sagte nicht ‚Funksprüche’, sondern ‚Signale’. Für uns war es nicht schwer zu entschlüsseln, da wir den Informationsstand von ‚in dreißig Jahren’ haben. Eine einfache Codesequenz, die hierarchische Kommandos über strategische Truppenbewegungen beinhaltet. Die Information war kurz, aber eindeutig.“
Er sah Aishe direkt in die Augen. „Das Signal war von Skynet.“
Aishe fühlte, wie ihre Knie schwach wurden.
„Er ist bereits in Kanada angekommen. Die Bewegungen deuten auf methodische Such- und Säuberungsaktionen im großen Stil hin. Ich fürchte, Skynet hat mit den wenigen Überlebenden auf dem nordamerikanischen Kontinent leichtes Spiel gehabt, wenn seine Einheiten bereits so weit vorgestoßen sind. Wir haben leider keine genauen Daten über seine derzeitigen Fortschritte oder die Muster seiner Vorstöße bei seiner weltweiten Expansion, doch ich bezweifle, dass er weiter nordwärts als Labrador vorstoßen wird. Nach zwei Jahren des postnuklearen und vulkanischen Winters ist auf Baffin Island oder anderen Gebieten auf dem kanadischen Schild sicher niemand mehr am Leben.“
Aishes Augen waren groß und rund geworden. „Willst du damit sagen…?“
Caroline hatte ihre vollen Lippen zu dünnen Schlitzen zusammen gepresst. „Daniel hat Recht. Es sieht so aus, als habe er sein Streben bereits nach Europa ausgerichtet, zumindest einen Teil seiner Ressourcen. Ich schätze, den größten Teil seiner Tötungsmaschinerie sendet er über Land nach Mittel- und später Südamerika, das ist der kürzeste und einfachste Weg für ihn.“
„Aber wie kann er gleichzeitig nach Süden und über den Atlantik gehen? Das sind solch riesige Gebiete…“ Shin schüttelte ungläubig den Kopf.
„Alles, was wir über die Anfangszeit nach dem Krieg wissen, ist, dass Skynet bereits direkt nach dem Holocaust über diverse automatisierte Fabriken in geschützten Anlagen des US-Militärs verfügte, in denen er in aller Seelenruhe rund um die Uhr, Jahr ein, Jahr aus die ersten, ironischer weise noch von Menschenhand entwickelten land- und luftgestützten Waffenplattformen produzieren konnte, sobald er die Rohstoffversorgung dieser Anlagen etabliert hatte. Wie wir bereits erwähnt hatten…“
Maja hob die Hand und referierte entnervt: „Lasst mich diesen Satz beenden. Skynet ist eine Maschine. Er hat keine Kaffee- und Mittagspausen, keinen Feierabend, keine Wochenenden und keinen Urlaub. Er arbeitet ohne Pause, ohne Unterbrechung und ohne die geringste Ablenkung.“
„Oh je. Haben wir es euch wirklich schon so oft eingetrichtert?“ Caroline seufzte. Wäre die Lage nicht so ernst, hätte vielleicht irgendjemand gelacht, so aber herrschte nur grimmige Bestätigung im Raum.
„Aber was heißt das jetzt für uns? Wir wussten doch schon immer, dass die Maschinen irgendwann kommen würden. So überraschend kann das doch nicht sein, vor allem nicht für euch!“ protestierte Silke und erntete zustimmendes Nicken von einigen.
„Das versteht sich von selbst, doch offenbar haben wir das Tempo seines Vormarsches unterschätzt. Wir besitzen leider zu wenige Daten, um sichere Voraussagen machen zu können. Alles was wir tun können, um so lange wie möglich unbehelligt zu bleiben, ist die Füße still zu halten, wie ihr sagen würdet. Das bedeutet in erster Linie Funkstille halten um jeden Preis. Wir wissen nicht, wie weit Funkwellen bei den atmosphärischen und elektromagnetischen Bedingungen in dieser von radioaktiven und schwefelhaltigen Molekülen belasteten Hemisphäre tragen können. Und Skynet kann darüber hinaus auch die Kontrolle über Spionage- oder Nachrichtensatelliten übernommen haben, die noch immer funktionieren.“
Karin schaltete sich ein: „Was bedeutet die neue Lage jetzt eigentlich für die Verhandlungen mit Lars und Konsorten?“
„Ein guter Einwand. Wir müssen die Gesamtsituation überdenken und unsere Haltung zu ihnen womöglich grundsätzlich ändern.“ Annie sprach das aus, worauf alle anderen Terminatoren sie befremdet anstarrten.
Aishe ereiferte sich sofort: „Annie hat recht! Von jetzt an ist der Krieg der Maschinen nur noch eine Frage der Zeit und für uns in anbsehbare Nähe gerückt. Wir müssen mit diesen kleinlichen Streitereien aufhören und damit beginnen, jedes einzelne menschliche Wesen als einen unersetzlichen Wert zu betrachten. Ich möchte vorschlagen, dass wir auf sie zugehen und eine tiefgreifende Allianz mit ihnen eingehen.“
„Du bist der Meinung, dass solche Verhandlungen von Erfolg gekrönt sind?“ Auch ein Mensch hätte nicht mehr Zweifel in seine Stimme legen können als Caroline.
„Wir müssen unbedingt versuchen, sie zumindest in Ansätzen darauf vorzubereiten, was auf sie zukommen wird. Ich meine, sie haben immerhin über zwei Jahre unter rauen Bedingungen hier oben im hohen Norden überlebt. Allein das qualifiziert sie doch in gewisser Weise für den harten und entbehrungsreichen Kampf, der uns bevorsteht, nicht wahr?“ Maja klang sehr nachdenklich und sah niemanden direkt an, als sie das sagte.
„Eines ist jedenfalls gewiss: wer hier nicht bei den ersten Wellen von Skynets brutalem Vernichtungsfeldzug fällt, wird unweigerlich zum Widerstandskämpfer werden. Zivilisten gibt es hier nicht.“
„Was meinst du mit hier? Ich denke, wir gehen nach Russland, um gegen Skynet vorzugehen?“ hakte Shin nach.
Daniel präzisierte: „Mit ‚hier’ meine ich Europa. Der gesamte Kontinent westlich des Urals und des Kaspischen Meeres wird zur Kriegszone werden, soviel ist sicher. Nach dem was ich weiß, außerdem die härteste und gefährlichste.“
„Ein Grund mehr, Lars anzuwerben.“ Aishe schlug die Faust in die offene Handfläche. „Er muss diesen Verhandlungen zustimmen.“
„Tut er es nicht, können wir ihn neutralisieren und die Kommune übernehmen“, schlug Abbey vor, erntete dafür aber einen finsteren Blick von Nicolas.
„Nein, so funktioniert das nicht. Wir müssen sie aus freien Stücken für unsere Sache gewinnen. Wenn sie nicht mitspielen wollen, sind sie auf sich selbst gestellt. Wir können sie nicht dazu zwingen, denn das schlechteste für die Moral eines Soldaten ist, seinen Dienst unter Zwang verrichten zu müssen.“
„Sie werden uns nicht glauben“, stellte Simon die Befürchtung an, die allen im Hinterkopf herumspukte.
„Wir müssen sie dazu bringen, uns zu glauben. Es wird traumatisch werden, aber wir können uns nicht den Luxus leisten, sie langsam und behutsam zu verhätscheln. Keiner kann genau sagen, wie lange Skynet brauchen wird, bis er Europa erreicht.“ Daniel sah sich in der Runde um.
„Wir müssen sie vor allem erst einmal dazu bringen, ihre Funkgeräte auf keinen Fall mehr zu benutzen. Das wird nicht einfach werden, doch im Moment haben wir wohl Schonfrist, da sie ohnehin nicht mehr viel herumfahren können, bis der Fjord wieder eisfrei ist.“ Shin rieb sich nachdenklich das Kinn und fügte hinzu: „Trotzdem ist es wichtig, dass sie verstehen, warum sie nicht mehr funken sollen.“
„Dann lasst uns mal den morgigen Tag abwarten. Lene und Lina werden von mir auf höchste Alarmbereitschaft und Verteidigungsstufe gesetzt. Sie werden ab jetzt aufpassen wie die Schießhunde und mit äußerster Aggression auf das leiseste Anzeichen von Bedrohung reagieren.“ Caroline wandte sich den beiden T-1000 zu, um ihnen die Modifikationen im Programm einzugeben.
Der nächste Tag würde eventuell bereits die Entscheidung über ihren weiteren Weg bringen.
Annie sah missmutig zu ihren kybernetischen Kollegen. Ihr Vorschlag eben hatte bei ihnen eindeutiges Missfallen erregt. Sie würde vorsichtiger sein müssen in ihrer freien Meinungsäußerung.



Am Abend, als die meisten oben im Wohnraum zusammen saßen, betrat Karin im Keller die ehemalige Turnhalle, um sich das Gewächshaus nochmals genauer anzusehen. Wie beim ersten Mal staunte sie über die Einrichtung, die aus Tageslichtlampen und einer Berieselungsanlage bestand, beides auf Gestellen von einem Meter Höhe montiert. Die Platten des Fußbodens selbst waren entfernt und auf einem Haufen in einer Ecke der Halle gestapelt worden. Direkt unter dem Boden befanden sich die Rabatte voller fruchtbarer Erde, in denen das unterschiedlichste Gemüse heranwuchs. Einige Sorten waren bereits geerntet und eingefroren worden, andere nach mehreren Monaten kurz vor der Reife. Wenn auch sie abgeerntet würden, würde der Hallenboden wieder mit den Platten des Bodenbelages bedeckt werden und die Halle in der kalten Jahreszeit wieder zur körperlichen Ertüchtigung genutzt werden. Im nächsten Frühling dann, sobald man im Freien wieder Sport treiben konnte, würde die Halle wieder zur Aufzucht von Gemüse umfunktioniert.
Daniel, der gerade mit diversen Gartenarbeiten beschäftigt war, sah bei ihrem Eintreten auf und winkte sie heran. Sie fiel gleich mit der Tür ins Haus: „Sag mal, Daniel, woher nehmt ihr eigentlich das ganze Wasser zum Gießen? Braucht ihr dafür unsere Vorratstanks im Dachgeschoß auf oder reinigt ihr Wasser von draußen?“
„Weder noch“, meinte er grinsend und sah über die Schulter, während er im Rübenbeet kniete. „Hast du dich niemals gefragt, was geschieht, wenn ihr die Toilettenspülung zieht?“
Na ja, schon, aber wenn…“ Sie verstummte und starrte ihn perplex an. Er grinste noch genauso breit wie vorher.
„Ich sehe, der Groschen ist gefallen. Ja, meine Karin ist immer noch ein kluges Kind.“
Sie hielt sich eine Hand vor den Mund. „Du meinst, ihr bezieht das Wasser und den Dünger für die Pflanzen aus…“
„Jap. Fest und flüssig. Nichts wird in diesem Haus verschwendet, wie du siehst. Das Dusch-, Wasch- und Spülwasser wird als Brauchwasser ebenso aufbereitet wie die Fäkalien, direkt außerhalb der Kellermauer in einer kleinen unterirdischen Anlage auf Höhe des Bades. Die Endprodukte können wir direkt anzapfen oder auch als Feststoff an einer kleinen Klappe im nächsten Kellerraum entnehmen.“
„Wie lecker. Jetzt habe ich richtig Hunger bekommen“, sagte sie ironisch und verzog sich mit verkniffenem Mund. Manches sollte man besser nicht wissen.
Daniel merkte, dass er noch Dünger benötigte und erhob sich, um im Nachbarraum zur Entnahmestelle zu gehen. Im Inneren des Lagerraumes schob er die Hochregale auf ihren Schienen zur Seite, um an die unauffällig am hinteren Ende des Raumes in die Rückwand eingelassene Klappe zur Entnahme von Düngematerial zu kommen. Doch noch bevor er sie erreicht hatte, hörte er wie sich die Tür hinter ihm öffnete. Verblüfft wandte er sich um und erkannte staunend Annie.
„Hallo, Daniel.“
„Hallo, Annie. Was machst du denn hier?“ Er war etwas ratlos über ihren unverhofften Besuch. Ihr Gesicht hatte einen frappierend menschlichen Ausdruck, doch was er zu besagen hatte, konnte er im ersten Moment nicht deuten.
„Ich habe eine lange Entwicklung durchgemacht, Daniel. Jetzt bin ich in eine Phase eingetreten, wo ich mich in einer Sackgasse befinde, was gewisse Aspekte der Annahme menschlicher Werte und Verhaltensweisen angeht. Ich bin mir jedoch sicher, dass du mir dabei ein wenig helfen könntest…“
Mit diesen Worten und einem verschwörerischen Lächeln schloss sie die Tür.



Vågsfjorden, Troms Fylke, Norwegen                         26. Oktober 2006

„So, dann wollen wir mal sehen, wie lernfähig Lars ist.“ Wieder waren sie zur Mittagszeit in die Mitte des Fjordes gefahren, wo sie bereits von der Fähre erwartet wurden. Das Wetter war heute schlechter und die Wolken hingen ganz tief über dem Meer, sodass man keine gute Fernsicht hatte. Annie steuerte diesmal und ging querab zum Boot auf Parallelkurs.
„Diesmal scheinen sie es ernst zu meinen. Keine versteckten Waffen oder Leute an Bord. Und da ist auch Marit, genau wie verlangt.“ Caroline öffnete die Luke der Kabine und rief: „Ahoj! Wir kommen rüber!“
Lars, mit einem Feldstecher gewappnet, legte die Hände an den Mund und rief: „Wollt ihr uns nicht wieder überprüfen?“
„Nein, wir vertrauen euch diesmal!“ Aishe verkniff sich ein Grinsen, als sie sah, wie Lars darauf hin wütend die Augen zupresste und mit den Zähnen knirschte. Doch auch er war sicher neugierig darauf, was sie zu sagen hatten.
Sie warfen zwei Taue von Bug und Heck des Bootes hoch zur Reling an der Seite des Bootes, worauf diese von zwei jungen Burschen, beide blond, groß und hager, am Schiff festgemacht wurden. Dann öffneten sie den Einstieg und ließen eine kleine Strickleiter hinab, um die anderthalb Meter Höhenunterschied zu überbrücken. Caroline kletterte vorsichtig hoch, nachdem sie sich überzeugt hatte, dass die Leiter ihr Gewicht auch trug. Oben angelangt, schüttelte sie dem einen der beiden Jungen die Hand und grüsste ihn auf Englisch. Erstaunt ließ auch der Zweite die Prozedur über sich ergehen, während Annie, Abbey und Aishe ebenfalls übersetzten.
Aishes Anwesenheit verblasste fast neben den hoch gewachsenen, schlanken und femininen „Zwillingen“ mit den roten Haarmähnen und den leuchtend grünen Augen. Zumindest die beiden jungen Matrosen konnten die Augen nicht mehr von ihnen abwenden. Sie ließen das Hovercraft im Leerlauf, um das tragende Luftkissen unter dem Rumpf zu erhalten, in der schwachen Dünung fest getaut am Rumpf der Personenfähre zurück und wurden in den Passagierraum geführt, der direkt achtern der Brücke lag und Sitzplätze für etwa fünfzig Leute bot. Lars erwartete sie schon und nickte mit betont wissender Miene.
„Hab ich also doch richtig gesehen. Zwillinge. Jetzt wird mir einiges klar. Und nur Frauenzimmer schicken sie mir. Haben die Männer nichts zu sagen bei euch?“
„Hallo Lars“, antwortete Abbey auf Englisch, nicht auf seinen Kommentar in Nynorsk eingehend. „Können wir gleich zur Sache kommen? Die Zeit ist knapp und es gibt viel zu bereden.“
„Nun gut, ich sehe, ihr seid sehr direkt eingestellt.“ Er wechselte ebenfalls auf Englisch, mit einem deutlichen Akzent. „Setzt euch doch. Für die, die mich noch nicht kennen, ich bin Lars.“
Marit betrat zögerlich den Saal und machte einen sorgenvollen und betrübten Eindruck. Ganz offenbar hatte sie immer noch ein schlechtes Gewissen wegen dem Vorfall in der Küche des Safehouses. Caroline gab ihr die Hand und begrüßte auch sie, worauf sie sich schweigend zu ihnen gesellte.
Sie nahmen rund um einen länglichen Tisch Platz und stellten sich der Reihe nach vor. Dabei glitt Lars’ Blick an Aishe hinab und blieb an ihrem kleinen Bäuchlein hängen, er sagte aber nichts dazu.
„Wir müssen diese kontraproduktiven Feindseligkeiten unbedingt beenden, Lars. Es ist etwas eingetreten, was unsere Ansichten über unser nachbarschaftliches Verhältnis grundlegend verändert hat. Es wird in der Zukunft nötig sein, dass wir zusammen arbeiten.“ Aishe begann möglichst sachlich und vernünftig zu debattieren.
„Langsam, langsam, „sagte der Norweger gedehnt, „wie seid ihr denn bitte zu dieser Erkenntnis gekommen?“
„Wir haben Funksignale aus Amerika empfangen, die darauf hindeuten, dass ein mächtiger, gnadenloser Feind dort die Macht übernommen hat. Und er ist dabei, seine Fühler nach Europa auszustrecken. Was wir von euch zuallererst verlangen, ist die umgehende Einstellung jeglichen Funkverkehrs. Wir dürfen auf keinen Fall durch irgendwelche elektromagnetischen Emissionen auf uns aufmerksam machen, dann gewinnen wir vielleicht noch ein paar Jahre, bevor er auch hierher kommt. Und früher oder später wird er kommen, glaub mir.“
Lars sah Caroline aus zusammen gekniffenen Augen an. „Und warum sollte ich dir das abnehmen, kleines Mädchen? Was kannst du schon davon wissen? Gar nichts! Ich glaube dir kein Wort. Ein mächtiger Feind? Die USA waren immer Freunde Norwegens, seit ich mich zurück erinnern kann. Was soll das für eine grausame Macht sein, von der du faselst?“
Caroline schürzte die Lippen, sich des Eindrucks bewusst, den sie auf ihr Gegenüber machen musste. „Erstens, ich bin kein kleines Mädchen. Zweitens, ich kann dir nicht genau sagen, woher ich meine Informationen habe. Drittens, wenn du glaubst, alles Gute für dein Land kommt aus den USA, dann hast du dich gründlich geirrt. In Wahrheit waren sie es, die den Atomkrieg angezettelt haben.“
Lars sprang auf: „Was?! Woher willst du das denn wissen?“
Unbeirrt fuhr Caroline fort, ihr hübsches Gesicht eine Maske bar jeder Regung. „Sie haben ein Computersystem entwickelt, das ihre gesamte Landesverteidigung koordinieren sollte. Dummerweise haben sie es zu weit entwickelt. Es hat sich verselbständigt und der gesamten Menschheit den Krieg erklärt. Seit dem 24. Juli 2004 befinden wir uns im Kriegszustand, auch wenn wir hier noch nichts davon mitbekommen. Im Moment toben die Kämpfe wahrscheinlich gerade irgendwo in Mexico oder weiter südlich in Mittelamerika sowie in Kanada. Es ist ein ungleicher, blutiger und gnadenloser Kampf, in dem es keine Aussicht auf Erfolg für die Menschen gibt. Noch nicht. Skynet, so heißt unser Gegner, wird praktisch ungehindert bis tief nach Südamerika vorstoßen und auf seinem Weg jedes menschliche Wesen, das er finden kann, auslöschen. Der Supercomputer produziert pausenlos in automatisierten Fabriken Kampfmaschinen, um die Welt bis in den letzten Winkel durchforsten zu können. Wie gesagt, zunächst geht er in Amerika Richtung Süden und Norden voran, doch er wird auch nach Europa kommen. Und dann Gnade Gott euch allen.“
Sowohl Lars als auch Marit waren kreidebleich geworden bei Carolines Ausführungen. Marit wisperte fast: „Dann war euch alles Ernst. Und ihr seid so etwas wie Soldaten, die gegen diese Armee antreten wollen, wenn sie hierher kommen?“
„Nicht wollen, sondern werden. Es ist noch komplizierter, als es den Anschein hat. Für den Moment müsst ihr mir glauben, wenn ich euch sage, ihr dürft keine Funkgeräte mehr benutzen, um keinen Preis. Die Maschinen könnten die Signale empfangen und schicken dann Scouts direkt hierher, um zu überprüfen, wer hier noch lebt. Das wollen wir doch nicht, oder?“ Mit gespannter Miene sah Caroline ihn aus ihren rehbraunen Augen an.
„Das ist ein riesiger Haufen Elchmist! Niemand, der bei Verstand ist, glaubt so einen Schwachsinn! Könnt ihr das beweisen? Irgendetwas?“, brauste Lars auf, der sich offenbar weigerte, das Gehörte zu akzeptieren.
Abbey schnallte sich den Rucksack, den sie bei sich getragen hatte, vom Rücken herunter und öffnete ihn. Sie gab ihn an Lars, der hineinsah und erstarrte. Tonlos sagte er: „Was ist das?“
„Es gehört zu einer künftigen Generation von Kampfrobotern in Menschengestalt. Die Bezeichnung lautet Cyber Research Systems, Model T-800. Sie sind in dieser Form gebaut worden, damit sie überall dorthin gelangen können, wo auch Menschen Zuflucht finden. Ganz zu schweigen vom psychologischen Effekt, wenn ein glänzendes, metallenes Skelett dich verfolgt. Manche von ihnen werden mit menschlichem Gewebe überzogen und dann rein äußerlich nicht von Menschen zu unterscheiden sein.“
„Es wird immer besser! Und diese… Dinger sollen demnächst auf uns losgelassen werden?“ Lars schüttelte den Kopf und reichte den sehr schweren Schädel, der ihn mit zwei Reihen makelloser Titanzähne wie ein Totenkopf bösartig angrinste, weiter an Marit, die ihn mit Schaudern entgegen nahm und ebenso von allen Seiten begutachtete.
„Noch nicht, diese Modelle werden erst noch zur Serienreife entwickelt. Wir werden es zunächst einmal mit fliegenden und auf Ketten rollenden Waffenplattformen zu tun bekommen. Der einzige Zweck dieser Geräte wird die Vernichtung allen menschlichen Lebens sein.“ Abbey verzog keine Miene bei dieser Aussage.
Lars schüttelte noch immer den Kopf und fragte dann, den Blick starr auf den Tisch vor sich gerichtet: „Nehmen wir mal an, ich würde euch diese völlig absurde Geschichte abkaufen. Was wollt ihr dann von uns? Wie passen wir ins Bild?“
Aishe beschloss, ihnen reinen Wein einzuschenken. „Eigentlich gar nicht. Das dumme ist nur, dass ihr uns über den Weg gelaufen seid. Das ist jetzt nicht mehr zu ändern.“
„Wir bilden eine Gruppe von jungen Menschen für den künftigen menschlichen Widerstand aus“, präzisierte Caroline. „Das ist der eigentliche Sinn des Safehouses und so war es von langer Hand vorbereitet. Außerdem wollten wir das so lange wie möglich in kompletter Isolation bewerkstelligen. Das ist jetzt wohl nicht mehr möglich. Irgendwie werden wir uns arrangieren müssen.“
„Von langer Hand vorbereitet? Von welcher Regierung?“ Lars war noch immer skeptisch und blickte nicht genau durch.
„Hast du das noch nicht begriffen? Es gibt keine Regierungen in diesem Sinn mehr. Es gibt nur noch die Menschen und die Maschinen. Wir kämpfen für alle Menschen in Europa und in ganz Europa, wenn es sein muss. Aber um darauf einzugehen, welche Rolle ihr dabei spielt: ihr seid schlicht und einfach mitten in unser Szenario hinein geplatzt. Wir hatten natürlich damit gerechnet, dass es Plünderungen oder noch schlimmeres unter den Überlebenden geben würde, deshalb sind wir auch so gut ausgerüstet. Aber unser Arsenal ist in erster Linie nicht für den Einsatz gegen andere Menschen gedacht, sondern später für den Kampf gegen die mechanischen Eroberer.
Ihr seid auf unsere Vorräte aus, das ist uns klar. Vor allem seit ihr dank Marit wisst, wie umfangreich diese sind. Nun, wir haben weit voraus geplant, wie ihr wisst. Aber da Skynet dummerweise um Jahre früher nach Europa vorstoßen wird als gedacht, werden wir das Safehouse in Hallevik auch früher aufgeben müssen. Und da wir unmöglich alle im Haus gelagerten Vorräte transportieren können, können wir euch genauso gut davon abgeben. Wir können zu einem friedlichen Zusammenleben finden, wenn auch ihr das wollt. Das beinhaltet regelmäßige Lieferungen an Grundnahrungsmitteln, Fleisch und Fisch. Wenn ihr dringend Treibstoff, Medikamente oder andere Gebrauchsgüter benötigt, können wir auch darüber sprechen.“
Die beiden blonden Jungen sahen sich an. „Mensch, das wär’ ja phantastisch!“
„Langsam, langsam!“, bremste Lars seine Untergebenen ein. „Ihr verlangt doch dafür sicher auch etwas. Nichts im Leben ist umsonst.“
„Eine alte, aber noch immer wahre Weisheit.“ Caroline lächelte verschwörerisch. „Zunächst einmal wäre es uns lieb, wenn ihr mit euren störenden Angriffen auf unser Heim aufhören würdet.“
„Störend? Störend!!“ Wieder war Lars aufgefahren. „Ihr habt drei meiner Boote versenkt, ein Schlauchboot, eine ganze Reihe meiner Männer verletzt und…“
„Wir möchten euch gerne als künftige Alliierte betrachten“, fiel Aishe ihm sanft ins Wort. „Aber zuerst einmal müssen wir Vertrauen schaffen. Dazu gehört auch Ehrlichkeit. Und wir haben hier und heute einen großen Teil unserer Karten aufgedeckt, nicht wahr?“
Abbey warf ein: „Wir müssen allerdings darauf bestehen, dass ihr uns Marit überstellt. Sie war eigentlich für unsere Gruppe vorgesehen und sollte von nun an an der Ausbildung teilnehmen.“
„Waaas? Ich?“ Marit sah sie erschrocken an. „Bist du sicher, dass du dich nicht irrst, Abbey? Wie kommt ihr ausgerechnet auf mich?“
„Das haben wir nicht selbst entschieden. Es ist schon lange fest geschrieben gewesen, wer als Anführer geeignet ist und unter unsere Fittiche kommen sollte. Dummerweise war Marit schon zurück nach Norwegen gefahren, als wir mit der ‚Rekrutierung’ begonnen haben, sodass wir sie nicht mehr lokalisieren konnten. Was sagst du, Marit? Wärst du bereit, im Sinne unserer Kooperation mit Lars’ Kommune zu uns zu kommen?“
Marit sah sie zweifelnd an, doch Lars zischte: „Das kann nicht euer Ernst sein! Ich lasse sie doch nicht einfach ziehen! Sie kann euch alles über unser Dorf berichten, was ihr wissen müsst, um…“
„Wir können ohnehin bei euch ein- und ausgehen, wie es uns beliebt, das solltest du doch inzwischen begriffen haben. Sie kann uns nichts mehr erzählen, was wir nicht schon wüssten. Aber sie kann als Brücke fungieren, als Bindeglied zwischen euch und uns, indem sie von ihrem Leben bei euch erzählt und uns so einen Eindruck von euch vermittelt.“ Abbey lächelte Lars schadenfroh an, als er missmutig zu ihr aufsah und ihren Einwand schweigend anerkannte.
„Und weiter? Was tun wir, wenn eure bösen Roboter hier ankommen?“ Er zog ironisch einen Mundwinkel unter seinem dicken Schnurrbart hoch.
„Wenn das passiert, müssen wir von hier verschwinden. Dieser Übermacht, der wir uns entgegensehen werden, sind auch wir nicht gewachsen. Deshalb wird ein Guerillakrieg geführt werden müssen, doch ich möchte gar nicht so weit vorgreifen. Das Entscheidende ist, dass ihr zum gegebenen Zeitpunkt dazu bereit sein müsst, eure Basis aufzugeben und mit uns zu kommen.“
„Wovon redest du nur? Wohin mit kommen?“
„Dem einzig sicheren Ort in diesem Teil der Erde: dem Westrussischen Hinterland.“ Caroline hob die Hand, um dem nächsten Entrüstungssturm von Lars zuvor zu kommen. „Das hört sich alles sehr verwirrend für euch an, das ist mir klar. Aber wie gesagt, es kann noch Jahre dauern, bis es soweit kommt. Wie lange, hängt unter anderem auch von euch ab.
Unterdessen werden wir eure Fischkutter zur Abwechslung mal für etwas Vernünftiges verwenden und damit Fischen gehen, solange das im Sommer möglich ist. Außerdem werden einige von euch Russisch lernen müssen, damit ihr als Gruppe nicht allzu verloren dasteht, wenn wir alle auswandern müssen. Für beide Punkte werden wir sorgen können.“
„Jetzt ist es mir endgültig klar: ihr habt komplett den Verstand verloren. Den Weltuntergang habt ihr geistig nicht verkraftet, deshalb zieht ihr euch in eine Scheinwelt zurück, in der ihr die Erde rettet. Das Üble dabei ist nur, dass ihr gefährlich seid, nicht nur einfache irre.“ Lars stand auf. „Dieses Gespräch ist beendet. Und eure kleine heile Welt auch bald.“
Marit sah ihren Anführer an. „Aber Lars! Was ist, wenn sie die Wahrheit sagen? Denk doch nur an all das, was wir erlebt haben! All die unerklärlichen Dinge! Irgendetwas muss daran doch sein, sonst hätten sie nicht mit diesen Verhandlungen begonnen.“
Auch die beiden Jungen sahen sich an, unschlüssig ob ihrer Überzeugung.
„Das spielt jetzt keine Rolle mehr. Es ist so oder so vorbei mit ihnen. Lasst sie gehen. Ich erwarte eure Kapitulation in Kürze.“ Lars winkte sie mit einer wegwischenden Handbewegung hinweg. „Du glaubst ihnen, Marit? Willst du mit ihnen mitgehen? Dann geh. Sie haben Recht, du kannst ihnen nichts mehr verraten. Was weißt du schon von unserer Art zu leben? Aber komm bloß nicht mehr zurück gekrochen, wenn du siehst, was sich alles verändert hat.“
„Haben wir wenigstens dein Wort, was den Waffenstillstand angeht?“ wollte Annie beim Einsteigen ins Hovercraft wissen.
„Wir werden sehen“, meinte er verschlossen.
„Ich muss dich warnen, Lars. Seit wir die Funksignale empfangen haben, ist bei uns alles auf höchster Alarmstufe. Hütet euch davor, dem Haus noch mal zu nahe zu kommen. Ihr würdet es bitter bereuen. Wir haben eine furchtbare Waffe zur Überwachung und Verteidigung des Geländes im Einsatz. Jeder Vorstoß von Menschenhand würde in einem Blutbad enden.“
Lars stockte. „Das… das meint ihr doch nicht ernst? Das ist eine weitere Ausgeburt eurer kranken Hirne, nicht wahr?“
Caroline trat anstelle von Annie an die Luke, als die Haltetaue schon gelöst waren und sie bereits frei neben ihnen herfuhren. „Du musst lernen, umzudenken, Lars. Dir werden in Zukunft viele Dinge begegnen, die du für unmöglich halten wirst. Erwarte nur noch das Schlimmste von jetzt an. Und benutze um Himmels Willen keinen Funk mehr, hast du das kapiert? Das ist mir todernst!“
Er klammerte sich an einen Strohhalm und rief verzweifelt: „Aber ihr könnt das alles gar nicht wissen! Woher wollt ihr das wissen? Ihr sagt kommende Ereignisse voraus, als wüsstet ihr sicher, dass diese eintreten werden! Wie?“
„Du willst es nicht anders.“ Caroline hob ihre Hand und streckte den Oberarm nach oben. „Sieh genau hin, Lars!“
Das Flüssigmetall an Hand und Elle verwandelte sich in seine ursprünglich silbern schimmernde Quecksilberform und lief ins Innere ihrer Struktur hinein, den feingliedrigen, aber dennoch ungeheuer widerstandsfähigen Metallarm entblößend. Lars schrie anhaltend.
Mit einem Blick, der hätte töten können, fixierte Caroline ihn. „Ich habe dir gesagt, ich bin kein kleines Mädchen. Ich bin nicht einmal ein Mensch. Ich komme aus der Zukunft, daher weiß ich so viele Dinge, die zu wissen dir unmöglich erscheinen.“
„Oh mein Gott, das darf nicht wahr sein! Du bist ein Roboter? Du gehörst zu ihnen? Warum…?“ Er brach ab, als ihm etwas klar wurde. „Oh nein!“
Marit sah durch eine der schmalen Luken an der Seitendecke der niedrigen Kabine, konnte aber von ihrem Platz aus nichts von Carolines Offenbarung mit ansehen. „Was hat er nur? Er sieht aus, als wäre ihm der Teufel persönlich begegnet.“
„Ich muss den Angriff abbrechen! Meine Männer, sie sind schon auf dem Weg… sie sind sicher schon auf Rolla! Wenn das alles stimmt…“ Er rannte in die Kabine und zur Brücke vor.
„Er hat etwas von einem Angriff gefaselt. Ich glaube, er will den Funk benutzen. Hat er denn gar nicht zugehört?“ Abbey sah auf. „Ja, sie haben die Sendeanlage gerade in Betrieb genommen.“
„Oh nein, so nicht!“ Caroline hob ihren Arm und transformierte ihn zur Plasmakanone, mit der sie auf den Sendemast zielte. Sie feuerte einen einzelnen Schuss ab, der die gesamten Mastaufbauten mit einem lauten Knall und in einem Funkenregen vom Dach der Passagierkabine fegte.
Marit hatte die Aktion mit kreidebleichem Gesicht verfolgt und stammelte: „Ich muss träumen. Das ist alles nur ein schlimmer Alptraum! Gleich wache ich auf…“
Aishe legte ihre Hand beruhigend auf ihren Arm, als sie sich schnell vom Fährschiff entfernten und zurück zum Haus fuhren. „Dieses Gefühl habe ich pausenlos seit über zwei Jahren. Man gewöhnt sich daran, vertrau mir.“
„Wir müssen sofort zum Safehouse zurück. Wenn es stimmt, dass dieser Meisterstratege unsere Aufteilung in eine Verhandlungsdelegation und eine beim Haus verbleibende Restmannschaft für einen gleichzeitigen Überfall auf Hallevik genutzt hat, laufen sie direkt Lene in die Arme. Nicht auszudenken, was dann passieren kann.“
„Was meint ihr damit? Wer ist Lene?“ fragte Marit mit einem Gefühl der bösen Vorahnung.
„Nicht wer… was. Hoffentlich kommen wir nicht zu spät.“ Annie seufzte. „Wenn etwas passiert, wird Lars uns niemals verzeihen, dass wir seinen Funk zerstört und so verhindert haben, dass er seine Leute warnen konnte.“



Forså, Insel Rolla, Troms Fylke, Norwegen                         26. Oktober 2006

Der Plan war narrensicher, dachte der zweite Lars der Gruppe, der damals gemeinsam mit ihrem gleichnamigen Anführer im Schlauchboot zum Safehouse gefahren war und den ersten Kontakt hergestellt hatte. Er saß im ersten der vier randvoll besetzten Fischerboote, mit denen sie vom Straumbotn aus nach Osten gefahren waren, so auf der abgewandten Seite durch den Sund zwischen Festland und Andørja die Insel umrundet hatten und so in den Astafjorden gelangt waren, der die südlichen Seiten von Andørja und Rolla abgrenzte. Lars war sich absolut sicher gewesen, dass sie so ungesehen an die Südseite von Rolla gelangen, dort landen und über Land die wenigen Kilometer von der Südküste bis nach Hallevik und zum Safehouse schaffen müssten.
Sie hatten das dem Safehouse nächstgelegene Dorf gewählt, das Forså geheißen hatte und wie alle Ortschaften hier in der Gegend nur noch eine unbewohnte Geisterstadt war. Allerdings eine mit einem kleinen Hafen, wo sie mehrere noch intakte Anlegestellen benutzen konnten. Sie machten gerade fest und gingen an Land, als Lars glaubte, im nur noch dünnen Hochnebel, der die Gipfel der kleinen Bergkette nördlich von ihnen einhüllte, eine schnelle Folge von Blinksignalen zu sehen. Konnte das der Posten sein, den sie auf dem Berggipfel direkt neben dem Haus stationiert hatten? Und was waren das für Zeichen? Er hatte zuerst an Morsezeichen gedacht, doch kein Mensch auf der Welt konnte so schnell Informationen morsen, geschweige denn lesen.
Das zweite Boot machte gerade fest, während sie schon am Ausladen waren und ihre schweren Waffen schulterten und sich umschnallten. Das würde ein Schützenfest geben! Sie hatten aus ihrem Geheimlager auf dem Festland schwerere Waffen geholt, unter anderem auch panzerbrechende Waffen und größere Mörsergranaten als die, welche sie beim ersten Angriff benutzt hatten. Diesmal würden sie ganze Arbeit leisten und nichts würde mehr an den verhassten Feind erinnern, wenn sie mit ihnen fertig waren.
Er sah hinüber zum anderen Boot, das gerade entladen wurde und richtete seinen Blick auf die beiden anderen, die im Begriff waren ebenfalls fest zu machen, als hinter Lars ein markerschütternder Schrei erklang und ihn zusammen zucken ließ. Er fuhr herum und sah wie keine zwanzig Meter vor ihm auf dem Kai einer der jüngeren Männer zusammenbrach, als eine kleine blonde Frau, die höchstens zwanzig Jahre alt und recht zierlich gebaut war, ihn grob von sich wegstieß. Sein Maschinengewehr fiel laut klappernd zu Boden, doch sie beachtete ihn gar nicht, sondern ging mit gesenktem Haupt und unheimlich starrem Blick auf den nächsten zu, unbeirrbar und zu allem entschlossen.
Der schlaksige Typ mit den Sommersprossen im blassen Gesicht und roten verstrubbelten Haaren wich einen Schritt zurück und hob unsicher die Pistole, die in seinem Hosenbund gesteckt hatte, „für Fangschüsse, wenn einer von ihnen aus den brennenden Trümmern heraus gekrochen kommt“, wie er sich theatralisch bei ihrer Abfahrt ausgedrückt hatte. Im selben Moment entdeckte Lars den dunklen Fleck unter dem gerade gestürzten Kameraden, der schnell größer wurde und ihm anzeigte, dass er nicht gestürzt, sondern gefallen war.
Dann fiel ihm etwas an dem Mädchen auf, das sein Blut erstarren ließ. Sie hob den linken Arm, den sie bisher hinter ihrem Rücken verborgen gehabt hatte. Sie trug eine lange stilettartige Klinge in der Hand. Nein, mit Grausen musste er erkennen, dass die Klinge aus ihrem Handgelenk herauswuchs, als sei sie mit ihrer Hand, die fehlte, verschmolzen. Es war ein so unwirklicher Anblick, dass keiner reagierte, bis sie bei ihrem nächsten Opfer angelangt war und ihn an der Schulter packte. Im nächsten Moment stieß sie kraftvoll zu, doch Lars sah aus seiner Perspektive nur das spitze und rasiermesserscharfe Stilett gut eine Handbreit aus dem Rücken des jungen Mannes hervorstoßen, den Stoff seiner soliden Wildlederjacke ebenso mühelos perforierend wie zuvor seinen Brustkorb. Der Getroffene gab ein leises Husten von sich, mehr war von ihm nicht zu hören.
Sie zog die alptraumhaft lange Klinge mit einer fließenden Bewegung wieder hinaus, worauf sich ein Schwall Blut aus der Öffnung im Brustkorb ergoss und in einem hohen Bogen durch die Luft spritzte, als sie ihn achtlos wie einen nassen Sack weit von sich stieß. Ein paar Spritzer der dunklen, klebrigen Flüssigkeit landeten auf seinem Gesicht, worauf er sich aus seiner Starre löste und die Waffe empor riss, die er umgehängt hatte. Noch bevor er einen einzigen Schuss abgeben konnte, war sie beim nächsten seine Freunde angelangt und stieß zu wie ein Fechter bei einer Parade. Der vom Blut seiner vorherigen Opfer feucht glänzende Dorn fuhr in die Kehle des Mannes, der ein überraschtes Gurgeln von sich gab, als die Spitze im Genick wieder austrat. Sie hatte ihm praktisch durch die Halswirbel hindurch gestochen. Was war das für eine gnadenlose Killerin, die ohne mit der Wimper zu zucken durch ihre Reihen marschierte und sie eiskalt einen nach dem anderen abschlachtete?
Einer der anderen neben ihm feuerte in kurzer Folge vier Schüsse auf sie ab. Das Mädchen wurde kurz herumgerissen, dann richtete sie sich wieder auf ihn aus, mit vier silbern glänzenden Trichtern in der Brust und auf dem Bauch. Langsam schlossen sich die Wunden und hinterließen keine Spur einer Verletzung, worauf sie einen kurzen Ausfallschritt auf den Nächststehenden zu machte und ihren Arm in flachem Bogen herum schwang. Irgendwie hatte sich der spitze Dorn in eine flachere Klinge mit Schneiden verwandelt. Sie schlitzte ihrem hilflosen Opfer den Brustkorb so tief auf, dass man die Brustplatte und die Rippen darunter deutlich krachen hörte, als sie mühelos durchtrennt wurden.
Lars richtete seine hohe schlaksige Gestalt zu voller Größe auf und richtete seine Colt M-16 auf sie, um ihr ein volles Magazin in den Leib zu pumpen, hielt aber gerade noch inne, als er sah, wie sich einer der robusteren schweren Männer auf sie warf. Er hatte sie wohl umreißen wollen, prallte aber gegen sie, als sei sie eine Statue. Als er von ihr abprallte und sich von seiner Verblüffung erholte, packte sie ihn am Kragen und schleuderte ihn achtlos zur Seite. Er segelte mindestens fünf Meter durch die Luft und prallte quer gegen zwei seiner Kameraden, die gemeinsam mit ihm zu Boden gingen.
Nun hielt ihn nichts mehr. Er stellte auf Dauerfeuer und jagte ihr die Vollmantelgeschosse in den Bauch. Sie fiel hintenüber und rollte zur Seite. Doch statt liegen zu bleiben, rollte sie einfach weiter und kam in einer unmöglichen Bewegung wieder auf die Beine, einen Moment verharrend, als ihr zerfetzter Bauch sich in Sekundenschnelle wieder versiegelte. Es sah so aus, als ob Quecksilber direkt aus ihrer Wunde heraus quoll, anstatt dass sie blutete. Sie sah kurz hinab und machte dann einen schnellen Satz auf den Mann direkt neben Lars zu. Ein zur Faust geballter Handrücken traf den Kopf an der Schläfe, worauf er mit einem hässlichen Krachen herum gerissen wurde. Der Mann, dessen Schädel mit einem einzigen Vorstoß des fremdartigen Todesengels wortwörtlich eingeschlagen war wie nach einer ausgiebigen Traktierung mit Hiebwaffen, drehte sich in skuriller Weise um sich selbst, bevor er zu Boden fiel.
Der letzte Gedanke des jungen Lars war, dass er vergessen hatte nachzuladen. Dann fuhr ihm ein sengender, stechender Schmerz durch den Bauch. Er griff instinktiv mit beiden Händen nach der Klinge, die im selben Augenblick aber schon wieder von der mitleidslos auf ihn herabstarrenden blonden Frau seitlich herausgerissen wurde und ihm beide Handflächen zerschnitt, was ihn seltsamerweise stärker schmerzte als die mit Sicherheit tödliche Bauchwunde. Selbst vor dem Krieg, mit einem Krankenhaus in unmittelbarer Nähe und bester Erstversorgung, wäre sein Überleben bei einer sofortigen Notoperation fraglich gewesen, aber unter diesen Umständen? Er machte sich keine Illusionen.
Als er beide wahnsinnig brennenden Hände auf die klaffende Wunde presste, aus der sich nicht nur das Blut in einem Schwall aufs Pier ergoss, sondern nun auch noch seine Gedärme heraus zu quellen drohten, konnte er noch einen letzten Blick auf die Szenerie werfen. Alle flohen in nackter Panik auf die Boote zurück, nur sporadisch und ungezielt hinter sich feuernd. Die beiden hinteren Schiffe hatten ihr Anlegemanöver abgebrochen und flohen mit voller Fahrt aufs offene Meer. Die beiden schon gelandeten Boote wurden noch von einigen Männern erreicht, doch die in kalter Blutgier agierende und unverwundbare junge Frau mähte durch ihre Reihen wie ein Sensenmann in Form einer kleinen, hübschen Blondine, die dem Anschein nach keiner Fliege etwas zuleide tun könnte.
Lars war auf die Knie gesackt und kippte jetzt wie in Zeitlupe um, wobei ihm seine Brille von der Nase rutschte und seine schwarzen kurzen Haare im Dreck einer Schlammpfütze hingen. Er sah einen Kopf vorbei rollen, mit chirurgischer Präzision vom Rumpf getrennt. Sah so das Ende aus? Er hatte sich seinen Tod immer anders vorgestellt gehabt.
Aber was war in dieser zum Alptraum mutierten Welt schon noch normal?
Er dachte an seine Eltern und schloss die Augen. Im Hintergrund vernahm er immer wieder das Feuern von Handfeuerwaffen und Automatikgewehren, doch die Schreckensgestalt war einfach nicht umzubringen. Egal, was man gegen sie ins Feld führte, sie erholte sich von dem Beschuss und fuhr mit ihrem Handwerk fort, bis alle Eindringlinge neutralisiert waren.
Dann verklangen die Kampfgeräusche und Schwerzensschreie, als er das Bewusstsein verlor.



Skjellelv, Andørja, Troms Fylke, Norwegen                      26. Oktober 2006

Es war zum Verrücktwerden. Kein Lebenszeichen von einem der beiden Boote. Die Horrorstorys seiner Untergebenen, die mit den anderen beiden Kuttern entkommen konnten, konnte er nicht so ohne weiteres für bare Münze nehmen. Er war zwar selbst Zeuge von etwas geworden, das eigentlich unmöglich war. Doch das, was seine Männer ihm berichtet hatten, überstieg selbst unter diesen Umständen sein Vorstellungsvermögen. Sein Verstand weigerte sich immer noch hartnäckig, diese absurden Tatsachen zu akzeptieren.
Er stand am Fenster seiner Stube und blickte Gedanken versunken auf das allmählich wieder gefrierende Wasser des Straumbotn hinaus, auf das seit der Dämmerung feiner Schnee rieselte. Wenn sie die Rinne nicht bald wieder befahren würden, säßen sie wieder fest, diesmal wohl endgültig für den ganzen Winter. Es sei denn, ihre Feinde würden ihnen gnädigerweise noch einmal das Eis im Fahrwasser brechen. Er wollte nicht darauf warten.
Seine rechte Hand Knut sah ihn abschätzend an. „Was denkst du? Kommt noch einer von ihnen zurück?“
„Ich weiß es nicht, ehrlich gesagt.“ Lars schüttelte den Kopf. „Nach dem, was wir gesehen und gehört haben… was können wir noch glauben?“
Knut gab zu bedenken: „Wenn auch nur ein Teil dessen stimmen sollte, was sie dir erzählt haben, dann müssen wir ihr Friedensangebot annehmen. Alleine können wir das nicht überleben.“
„Das können wir ohnehin nicht mehr. Sieh’ dich doch um! Neunzehn unserer Männer sind tot oder vermisst. Neunzehn unserer kräftigsten, gesündesten Kerle. Ich selbst habe nur die besten für diese Mission ausgesucht! Unsere Gemeinschaft wird nicht mehr für sich selbst sorgen können, wenn sie wirklich alle tot sind. Wir können uns durch den Winter hungern, wenn wir Glück haben, aber was wird dann?“ Lars Stimme war immer lauter geworden.
Knut sah ihn beinahe mitleidsvoll an, dann wandte er sich zum Fenster. „Wir sollten noch einmal…“
„Nein, genug geredet. Mit diesen Irren gibt es nichts mehr zu bereden. Was sie uns angetan haben, ist nicht wieder gut zu machen. Du hast es nicht mit deinen eigenen Augen gesehen. Das sind Monster, keine Menschen! Aus einem üblen Horror-Film entsprungen!“
„Lars, alles was sie taten, war sich zu verteidigen! Wir haben sie stets angegriffen, wir haben sogar jetzt, während wir verhandelt haben, versucht, sie hinterrücks zu überfallen. Aus ihrer Sichtweise sind gewiss wir die Bösen, vergiss das nicht.“ Knut senkte den Blick. „Ich schäme mich für das, was wir getan haben.“
„Das meinst du nicht ernst!“ fuhr Lars ihn an.
„Ich weiß, du wolltest nur das Beste für uns alle, aber…“ Knut hielt inne. „Sieh dir das an!“
Lars sah auf und erblickte draußen auf dem Fjord die zwei vermissten Fischkutter. Langsam schoben sie sich durch die nur noch schmale eisfreie Fahrrinne und vergrößerten diese dabei gleichzeitig.
„Da soll mir doch einer… sie haben es geschafft!“ Triumphierend stürzte Lars zur Tür, dicht gefolgt von Knut. Vor dem Haus sah er, wie einige der Männer, die gerade mit Holzhacken beschäftigt waren, innehielten und erstaunt aufs Wasser hinausstarrten, wo die Boote sich den Anlegeplätzen näherten.
Er war schon fast auf dem Steg des ersten Kutters, da bremste er ab, als sei er gegen eine Wand gelaufen. Knut prallte beinahe gegen ihn und sah gleichzeitig, was der Grund für das Verhalten seines Anführers war. Er stöhnte auf: „Oh nein, bitte nicht!“
Eine hoch gewachsene, schlanke Frau mit langen roten Haaren, gekleidet in einen weißen Schneeanzug, stieg vom Boot und sah sie mit ernster Miene an. „Was gestern passiert ist, ist für uns alle sehr bedauerlich. Ihr hättet nicht versuchen sollen, uns so zu hintergehen. Aber wir können euch keinen Vorwurf machen, denn unsere Verteidigungsmaßnahmen waren unangemessen drastisch, das ist uns jetzt klar. Es tut uns nur leid, dass ihr einen so hohen Preis dafür zahlen musstet. Nehmt wenigstens die Boote zurück. Wir haben sie voll getankt und werden euch regelmäßig die Einfahrt zum Straumbotn frei brechen, wenn ihr das wollt. Aber wahrscheinlich müsst ihr den Winter über nicht mehr auf Tour fahren.“
Vom zweiten Boot stieg eine Frau gleichen Aussehens. Lars sah von einer zur anderen und fragte lahm: „Bist du Abbey oder Annie?“
„Weder, noch.“ Als eine dritte identische Amazone mit einer Kiste an Land ging und diese ablud, klappten Lars und Knut beiden die Kinnladen hinab.
„Drillinge! Ja, gibt es denn das?“ Knut fand als erstes die Sprache wieder.
„Glaube nicht alles, was du siehst. Das ist das, was ich gelernt habe.“ Lars sah über die Schulter, während alle drei Frauen anfingen, einen Karton nach dem anderen von Bord der beiden Fischkutter zu laden. Sie hörten bei zwei Dutzend auf, worauf sich die erste zu ihm umwandte.
„Wir hoffen, das erleichtert euch die schwere Zeit, die vor euch liegt. Wir haben eure Leute auf See bestattet. Hoffentlich war das in ihrem und eurem Sinn. Wir werden jetzt gehen. Wenn etwas ist, wisst ihr ja, wo ihr uns findet.“
Die drei wandten sich nach rechts zur Bergkette hin, die zwischen ihnen und der Bygden lag, der Meerenge zwischen Andørja und Rolla.
„Warum musste das geschehen? Es waren alles rechtschaffene, liebenswerte Menschen, die ihr Leben noch vor sich hatten.“ Die ohnmächtige Wut, die in Lars schwelte und kurz vor dem Ausbruch stand, war ihm deutlich anzuhören.
„Wir hatten uns bereits auf die vor uns liegende Bedrohung eingestellt. Die Möglichkeit, dass ihr uns noch einmal so hinterrücks angreifen würdet, kam für uns leider nicht in Betracht, was ein großer Fehler war. Wir wissen, dass wir das nie wieder gut machen können, doch ebenso wenig können wir es ungeschehen machen.“ Sie drehte sich wieder um und alle drei begannen den Aufstieg auf den Pass, der sie ans Ufer auf der anderen Seite führen würde.
„Das stimmt, ihr könnt es nicht ungeschehen machen.“ Lars presste die Worte zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Aber ihr könnt dafür büssen!“
Und damit zog er seinen Colt .45 und schoss einer von ihnen in den Rücken, noch bevor Knut ihn daran hindern konnte.
Der Widerhall des Schusses wurde von den Fjordwänden zurückgeworfen, doch die Getroffene zuckte lediglich zusammen. Ein kleiner roter Fleck erschien auf ihrem Rücken beim Einschussloch auf ihrer weißen Jacke, worauf sie sich umdrehte und über die Schulter sagte: „Du solltest damit aufhören. Irgendwann wird noch jemand verletzt. Hebe dir deine Schießwut lieber für den wahren Feind auf. Wir werden früh genug mit ihm zu tun bekommen.“
„Für mich seid ihr der Feind. Ihr seid ja nicht einmal Menschen. Gehört ihr zu den anderen Robotern? Spioniert ihr uns aus?“
„Das haben wir dir doch erklärt. Wir wurden mit der Mission beauftragt, unsere Schützlinge auszubilden und ihr Leben gegen alle Gefahren zu verteidigen. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.“
Damit drehte sie sich wieder um und sie setzten ihren Aufstieg fort. Auf der anderen Seite des Berges wartete Simon mit dem gigantischen Ford Expedition, der als einziger mit drei Terminatoren plus Fahrer nicht gefährlich überladen war.
Knut indes flüsterte fassungslos: „Bist du denn völlig von Sinnen? Sie kommen her, entschuldigen sich, geben uns genug ihrer Vorräte ab, um durch den gesamten Winter zu kommen, und du willst sie zum Dank hinterrücks niederstrecken? Wenn sie jetzt wirklich ein Mensch gewesen wäre? Kannst du sie denn auseinander halten? Ich kann es nicht.“
„Wir müssen allmählich einsehen, dass sich die Zeiten geändert haben, Knut. Wenn man auf seine Feinde schießt, fallen diese nicht einfach um und sterben, das hast du doch selbst gesehen.“ Er zuckte gleichmütig mit den Schultern.
„Mag sein, aber jedes Mal begegnen wir wieder anderen Personen. Trotz Marits damaligen Informationen können wir noch immer nicht genau sagen, wie viele sie sind und wer von ihnen normal ist. Ich sage nur, gib bloß Acht, dass du nicht eines Tages dem Falschen in den Rücken schießt. Du weißt nicht, wozu sie fähig sind, wenn du einen von ihnen tötest.“
Und damit ließ er ihn alleine auf dem kleinen Pier stehen. Lars senkte erst seine Waffe und dann sein Haupt.



Oben auf dem Kamm sahen die drei Terminatoren hinab und verfolgten das Ende des Disputs. Die eine der drei identischen Frauen meinte zufrieden: „Sieht so aus, als würde sich das Blatt allmählich wenden.“
„Ja, aber hoffentlich nicht zu spät, Annie. Wir können weitere Störungen wirklich nicht mehr gebrauchen.“ Die zweite überzog ihren Körper mit Flüssigmetall, das sich zurückzog, während sie zu schrumpfen begann und die Legierung wieder aus dem Inneren des gehärteten Titankeramikpanzers heraus floss und so die Gestalt von Caroline annahm.
Abbey sah stets wie im Reflex über die Schulter. „Diese dämliche Kugel droht sich zwischen zwei Wirbelstücke zu klemmen; der dämliche Lars hat doch tatsächlich einen Glückstreffer gelandet. Mir wäre es lieber, wenn ihr das Geschoss so schnell wie möglich herausholen würdet, nicht dass ich mit steifem Rücken den ganzen Berg bis zum Wagen hinunter humpeln muss.“
Caroline näherte sich ihr, sobald sie über dem Bergkamm und außer Sicht waren, ihr ungeachtet des kalten, schneidenden Windes die Jacke ausziehend und den Pullover nach oben schiebend. Wortlos näherte sich ihr rechter Arm, zu einem feinen Greif- und Klemmwerkzeug transformiert, der hässlichen, noch immer leicht nässenden Schusswunde. Mit einer schnellen Bewegung hatte sie den spitzen Fortsatz hinein gestoßen und zog nun die platt gedrückte Kugel, dunkel gefärbt vom Blut, heraus. „So, alles in Ordnung. Können wir jetzt?“
 Schriftgröße  Schriftart  Ausrichtung  Zeilenabstand  Zeilenbreite  Kontrast