Terminator Band 2 - Unabwendbare Realitäten
von andilone
Kurzbeschreibung
Die Vergangenheit holt Karin, Simon und auch Natasha ein, Jahre nach ihrem Abschied von ihren geliebten Beschützern Daniel und Abbey. Ein Terminator taucht bei ihnen auf und eröffnet ihnen, dass sie zum künftigen europäischen Widerstand der Menschen gegen Skynet gehören werden und zur Terminierung anvisiert sind. Nachdem sie mithilfe der reaktivierten CPUs von Abbey und Daniel Verstärkung aus der Zukunft erhalten, sammeln sie eine ganze Gruppe junger Menschen ein, die mehr oder weniger traumatisiert auf die Offenbarung ihres künftigen Schicksals reagieren. Doch auch Skynet ist nicht untätig, so dass ein tödliches Katz-und-Maus-Spiel quer durch halb Europa beginnt. Und ein ominöser, von den Rebellen geschickter T-X, der sich dezent helfend im Hintergrund hält, gibt allen Rätsel auf... wie nahe ist er ihnen wirklich, als sie ins Exil fliehen, ständig verfolgt von den unermüdlichen und erbarmungslosen Killercyborgs?
GeschichteAbenteuer / P16 / Gen
Terminator T-1000
Terminator T-800
Terminator T-850
Terminator T-X
22.12.2006
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Hallevik, Insel Rolla, Troms Fylke, Norwegen 4. Februar 2005
Shin und Aishe standen ungeduldig in der Garage. Sie waren die ersten „Glücklichen“, die für den Praxisunterricht auserkoren waren. Ironischerweise war es die fast ein Meter dicke Schneeschicht, die den nur noch schwach strahlenden Boden so stark abschirmte, dass sie ohne Atemschutz ins Freie konnten. Dick eingepackt gegen die eisige Februarkälte, wollten sie die anderthalb Stunden Tageslicht mit ersten Schießübungen verbringen.
Alex öffnete das rechte Garagentor, worauf sie zunächst tief durchatmen mussten. Vor ihnen, direkt am Rand des weiten Überhanges des Garagendaches, türmte sich eine hüfthohe weiße Wand auf.
„Seht ihr die Bäume dort hinten? Versucht einfach, die Stämme zu treffen, ungefähr auf Augenhöhe. Ich zähle die Treffer. Bereit?“
Sie sahen einander an, mit entschlossenen Mienen, bevor sie beide im Stehen je eine AK-47 Kalaschnikow anlegten und mit Einzelschusseinstellung je zwanzig Schuss auf die relativ dünnen Stämme am anderen Ende des Vorplatzes, in etwa fünfzig Meter Abstand abgaben. Zufrieden schloss Alex darauf das Tor wieder. „Das war schon sehr gut. Aishe hatte neun Treffer, Shin sieben. Übergebt eure Waffen jetzt den nächsten beiden.“
„Das war alles?“ fragte Aishe enttäuscht. Der Rückstoß der Waffe hätte sie zwar bei jedem Abdrücken fast umgeworfen, aber sie hatte sich mit eisernem Willen dagegen angestemmt und tapfer ihre Munition verschossen. Jetzt machte diese kleine zierliche, aber eisern durchtrainierte Türkin mit dem süßen herzförmigen Gesicht eine grimmige Miene und erweckte den Eindruck, als wollte sie am liebsten noch ein Magazin per Dauerfeuer entleeren.
Ihre Ausbildung trug definitiv Früchte.
„Geht schon, ab ins Haus mit euch. Sagt Ana und Dimitri Bescheid. Ich bin überzeugt, Dimitri wird die beste Leistung erbringen, da er bereits beim Militär mit genau diesem Typ geschossen hat. Und für jemanden mit Erfahrung ist dieser Abstand ein Kinderspiel.“
„Abwarten.“ Aishe war bereits auf der engen, steilen Treppe hinab in den Verbindungsgang zum Keller des Hauses. Nur widerwillig folgte Shin ihr; auch er hatte Blut geleckt und würde am liebsten weiterschießen.
Als sie durch den kurzen, finsteren Gang ins Haus gelangt waren, warteten dort schon besagte nächste Schützen. Wortlos drückten sie ihnen die Waffen in die Hand und gingen auf ihre Stube. Es war zwar mitten am Tag, doch diejenigen, die ihre erste Übung hinter sich hatten, konnten bis zum Abendessen frei über ihre Zeit verfügen. So verteilten sie sich allmählich auf ihre Zimmer und den Wohnraum.
Natasha legte sich hochzufrieden auf ihr Bett und griff nach dem Roman, den sie nach langer Wartezeit endlich von Silke bekommen hatte. Sie hatte gemeinsam mit Dimitri die höchste Trefferquote von fünfzehn Schuss erzielt, obwohl sie noch nie vorher mit einer Waffe geschossen hatte. Caroline hatte nur achtmal getroffen und sich mit saurer Miene die Lobeshymnen von Alex auf sie anhören müssen. Als Natasha ihm daraufhin geschmeichelt über den Unterarm gestrichen hatte, hatte sie sich pikiert abgewendet.
Nun plante sie einen geruhsamen Nachmittag. Lange hatte sie jedoch keine Ruhe, da nach einem kurzen dumpfen Klopfen Alex eintrat. Sie drehte sich auf dem Bett herum und sah ihn neugierig an. Konnte sie endlich am Ziel sein? War das möglich?
„Ich möchte gerne mit dir reden“, begann er und stellte sich breitbeinig in den Raum. Sie schwang ihre Beine über das Bett und hockte sich auf die Kante.
„Worum geht es, Alex?“
„Mir ist dein Verhalten in letzter Zeit aufgefallen. Es gibt einige Anzeichen dafür, die mir signalisieren, dass ich mit dir persönlich sprechen sollte.“ Er verzog kaum eine Miene.
Sie sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an, musterte ihn forschend. „Ich weiß nicht genau, was du meinst.“
„Zum einen fällt mir auf, dass du dich zunehmend von den anderen absonderst. Hat das einen bestimmten Grund?“
„Ich bin sehr nachdenklich geworden, was einige Dinge angeht und brauche deshalb mehr Zeit für mich alleine. Den Anstoß hat diese ungeheure Schmach gegeben, glaube ich. Du weißt was ich meine. Wie konnte er das nur tun?“ Sie senkte den Blick.
„Du beziehst dich auf deine Begegnung mit dem T-X.“ Alex Miene schien sich schmerzhaft zu verziehen. „Ich bin mir nicht sicher, dass er so gehandelt hätte, wie er es tat, wenn er die Konsequenzen gekannt hätte.“
„Ja, ein toller Psychopathen-Roboter, von dem unsere Sicherheit teilweise abhängt.“ Ihr Blick wanderte zu seinen Händen, verweilte an den Fingerspitzen. „Er nutzt die Tatsache, dass er sein Aussehen beliebig verändern kann, für Motive aus, die sicher nicht hehr zu nennen sind.“
„Du urteilst etwas vorschnell über ihn, aber das ist nicht der eigentliche Grund, weshalb ich unter vier Augen mit dir reden wollte.“ Seine Miene schien sich zu glätten. „Ich möchte mit dir über dein Verhalten mir gegenüber reden.“
„So? Das hat aber lange gedauert. Ich dachte schon, du begreifst es niemals.“ In einer flüssigen Bewegung rutschte sie vom Bett hinab und landete auf den Füssen vor ihm. Er überragte sie um einen Kopf und musste auf sie hinabsehen.
„Deine ständigen kleinen Andeutungen sind mir nicht entgangen. Die Frage dabei ist, was du dir davon versprichst. Fühlst du dich einsam und suchst in mir eine Art Partnerersatz? Erhoffst du dir auf rein körperlicher Ebene etwas von diesen kleinen Gesten?“ Nun wirkte er fast ein wenig misstrauisch.
„Ich werde dir gleich eine Antwort auf deine Fragen geben. Es wird dich bestimmt überraschen. Komm doch mal schnell mit auf den Flur hinaus.“ Sie war bereits zur Tür hinaus, noch bevor er reagieren konnte.
Er trat auf den Flur und erstarrte.
Natasha hatte das nächstgelegene, an der Wand hängende Sturmgewehr abgenommen, entsichert und richtete es aus einer Entfernung von weniger als drei Metern auf den Brustkorb des hünenhaften Cyborgs. Ihr Gesicht war bar jeder Emotion. „So, wie hättest du es gerne, Mistkerl? Ich weiß selbst, dass ich dir mit dieser Waffe nichts anhaben kann, aber ich bin sicher, so scharf und ständig auf dem Sprung, wie alle zur Zeit sind, werden hier auf dem Flur etwa zwei Sekunden, nachdem ich dieses Magazin in dich hineingepumpt habe, alle anderen der Gruppe stehen. Und ich glaube wirklich nicht, dass dir das in den Kram passen würde.“
„Das stimmt, ich...“ Alex machte einen vorsichtigen Schritt auf sie zu.
„Und wenn du auch nur einen Deut näher kommst als jetzt, werde ich auf jeden Fall schießen. Ich weiß, wie schnell du sein kannst“, schnauzte sie ihn an.
„Okay, du hast gewonnen. Was willst du?“ fragte er ergeben.
„Was wohl? Wissen wer du bist, natürlich. Ich werde es keinem Menschen erzählen, versprochen.“ Sie nickte ihm grimmig zu.
„Das ist ein Wort. Gut, gehen wir ins Zimmer zurück.“ Er drehte sich um und bewegte sich extrem vorsichtig zurück in Natashas Raum. Dabei war er so bedacht wie möglich, keine schnelle oder verdächtige Bewegung zu machen, die sie zum Abdrücken verleiten konnte. Denn ihr Finger war sehr nahe am Druckpunkt des Abzugs gewesen, wie er gesehen hatte.
„Bis zum Fenster weitergehen und dann schön brav mit dem Gesicht zum Fenster stehen bleiben“, gebot Natasha.
„Woher hast du es gewusst?“ erklang die Stimme von Alex, der ihrer Forderung nachkam.
„Ich habe mich bei den anderen ein wenig umgehört, was sie zur fraglichen Zeit gemacht hatten und mit wem sie zusammen waren, während du als ‚Bernd’ bei mir warst. Am Tag nach dem Atomschlag waren alle noch so durch den Wind, dass das nicht weiter aufgefallen ist. Drei Kandidaten sind darauf übriggeblieben.
Ich hatte schon eine Weile einen Verdacht. Zum einen habe ich seit Wochen darauf gewartet, dass du in Alex’ Rolle schlüpfst, um mich nochmals zu besuchen. Zum anderen haben wir gelernt, dass T-1000 und T-X nur das imitieren können, was sie durch physikalischen Kontakt analysieren. Alex’ Finger sind aber nur unzulänglich verheilt, seit er sie im Hochhaus in Freiburg zerschunden hat. Deine Hände hingegen sind makellos. Da wir wenig direkten Körperkontakt mit den Terminatoren haben, waren die Chancen gut, dass du auf eine frühere Gelegenheit zurückgreifst, bei der du ihn berührt hattest, um ihn zu kopieren. Tja“, fuhr sie ungnädig fort, „und jetzt lass mal sehen.“
„Also gut.“ Alex stand stocksteif da, als sich auf seinem Hinterkopf plötzlich ein silbern schimmernder Fleck auftat. Mit einem ungläubigen Aufkeuchen verfolgte Natasha, wie sich der silberne Fleck auf den ganzen Kopf ausdehnte, dann über den Oberkörper und die Arme, bis der gesamte Körper aus flüssigem Quecksilber zu bestehen schien, das aus einem unerfindlichen Grund seine Form beibehielt anstatt zu Boden zu fließen. Gleichzeitig wurde der glänzende Körper schmaler und schmaler, bis er grotesk und unmenschlich in der Silhouette erschien. Der unnatürlich, fast insektenhaft anmutende Kopf und der grotesk dünne Hals wirkten fast unheimlich. Das flüssige Metall verschwand für einen Sekundenbruchteil im Inneren der nun zutage tretenden, unglaublich robust und komplex anmutenden Konstruktion aus künstlichen Gliedmassen, die während des Prozesses gemeinsam mit dem Rückgrat ein Stück zusammenfuhren und dem Cyborg so von einem riesigen, massigen Mann zu einer anderen Statur verhalfen. Noch während der Umwandlung trat das polimimetische Metall wieder aus dem Innern des kühl bläulich leuchtenden Endoskeletts aus und formte eine Gestalt, die Natasha vertraut war.
Als die Metamorphose vollendet war, drehte sich der T-X um und fragte mit einem sanften Lächeln auf den Lippen: „Na, überrascht?“
Natasha war das Gewehr aus der Hand geglitten und mit einem dumpfen Schlag mit dem Lauf voraus auf den Boden gefallen. Mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen starrte sie auf die wahre Gestalt des unbekannten Gönners. „Du? Das ist kein blöder Witz? Du bist es wirklich?“
„Hättest du nicht gedacht, was? Es tut mir leid, was ich dir angetan habe, das musst du mir bitte glauben. Wie gesagt, ich habe vielleicht wirklich ein Rad ab. Und du kannst dir denken, dass es nicht so erfreulich ist, dabei zu sitzen und mitanhören zu müssen, wie alle anderen in offenen Diskussionen meinen Geisteszustand anzweifeln.“ Der T-X sah nun stark bedrückt aus.
„Warum hast du es dann getan? Ich meine, warum bist du in die Rolle von einem von uns geschlüpft? Und...“ Natasha stockte, als ihr etwas aufging. „Oh Gott, was ist mit... mit deinem ‚Original’ passiert?“
„Die Zielperson, die ich schützen wollte, war bereits tot, als ich sie aufgesucht habe. Die anderen Terminatoren haben sie erwischt. Deshalb habe ich deren Identität angenommen und mich von euch aufsammeln gelassen, als die Zeit reif war. So kann ich von innerhalb der Gruppe heraus noch besser für euren Schutz sorgen. Und für euch wirke ich doch menschlich genug, nicht wahr?“ Breit grinsend verschränkte der T-X die Arme vor der Brust.
„Zu menschlich. Aber ändere dein Verhalten jetzt bloß nicht, nur weil ich deine Identität kenne; das würde nur auffallen. Doch eines würde ich doch noch gerne wissen: warum hast du mich in Gestalt von Bernd ‚heimgesucht’?“ Ungewollt musste sie schmunzeln, obwohl die Folgen dieser Affäre für sie höchst unerfreulich gewesen waren.
„Nun, ich wollte dir eine Freude machen. Zu diesem Zeitpunkt wussten wir ja nichts davon, dass Bernd längst nicht mehr solo war, weshalb es offenbar für dich und auch für mich in Ordnung war. Dummerweise sind unsere Freunde nicht auf den Kopf gefallen und haben auch gleich die richtigen Schlüsse gezogen, als alles herauskam.“ Der Cyborg zuckte mit den Achseln. „Wie gesagt, es tut mir leid.“
„Oh, das muss es nicht. Du hast es offenbar nicht böse gemeint damals. Und du hast auch nicht gehört, dass ich mich damals beklagt hatte, oder? Oh Mann, wie krank!“ Natasha schüttelte den Kopf, zögerte kurz und wollte dann wissen: „Wie alt bist du denn jetzt eigentlich? Nicht körperlich, meine ich.“
„Mal sehen: meine CPU befand sich zwölf Jahre im Körper von Daniel im aktiven Zustand, dann fünf Jahre in dem von Abbey. Ich wurde eingemottet, reaktiviert und zurück gesandt, wobei ich durch einen Unfall beim Zeitsprung im Jahr 1955 gelandet bin. Seitdem bin ich ununterbrochen in diversen Erscheinungen aktiv gewesen, davon fünfunddreißig Jahre in männlichen und vierzehn in weiblichen. Insgesamt habe ich einen Erfahrungsschatz von über 66 Lebensjahren. Eine ganze Menge, möchte ich meinen.“ Nachdenklich musterte der Kunstmensch sein Gegenüber. „Und, wie geht es jetzt weiter?“
„Ich werde mir nichts anmerken lassen und wir fahren mit dem üblichen Tagesgeschäft fort.“ Zögerlich nahm Natasha ihre Waffe wieder auf.
„Danke, Natasha. Das werde ich dir nicht vergessen.“
„Ich werde dich daran erinnern, wenn es soweit ist.“ Mit einem Augenzwinkern verließ sie das Zimmer, um das Gewehr wieder an die Wand zu hängen.
Hallevik, Insel Rolla, Troms Fylke, Norwegen 20. März 2005
Es herrschten inzwischen beinahe zwölf Stunden Tageslicht, von denen gut eine Stunde um die Mittagszeit hell genug war, um die Jalousien wieder auszulösen. So legten sie das gemeinsame Mittagessen auf die Zeit, in der sie hinaus auf den Vågsfjorden sehen konnten, wo unzählige Eisschollen in einem geschlossenen Teppich langsam vom Golfstrom nach Norden getrieben wurden. Von den Vesterålen am fernen anderen Ufer war bei den dichten, tiefhängenden Wolken nichts zu sehen. Es lag noch immer kniehoch Schnee, der die schwach verseuchten Bodenschicht abdeckte.
Ihre Rationen nahmen weiterhin ab, wenn auch so unmerklich, dass sie sich schon weit zurückerinnern mussten, um sich die reelle Kürzung vor Augen zu halten. Sie waren durch das ständige körperliche Training, das in einem vernünftigen Rahmen gehalten wurde, um sie nicht zu sehr auszuzehren, belastbar und genügsam geworden. Abbey und Daniel waren nicht ohne Grund stolz auf die Gruppe, die mittlerweile für so ziemlich alles bereit schien. Die Bande, die zwischen ihnen geschmiedet war, konnte man nicht mehr ohne weiteres durchtrennen.
Sie saßen nach dem Essen noch am Tisch und unterhielten sich über belanglose Dinge oder sahen hinaus auf den düsteren, trüben Fjord, als etwas Bernds Aufmerksamkeit erregte. Er stand auf, trat ans Fenster und starrte hinaus. Sofort wurde es ruhig am Tisch und einige andere standen ebenfalls auf.
„Was ist?“ fragte Aishe und trat neben ihn an die Scheiben der Fensterfront.
„Ich dachte, ich hätte was gesehen...“ Er klang unsicher.
„Auf dem Wasser?“ Shin war ebenfalls neugierig geworden.
Caroline sprang auf und deutete nach draußen. „Da, ich sehe es auch. Am Himmel!“
Alle richteten ihren Blick auf die schmale Linie zwischen Horizont und bleierner Wolkendecke. Karin sagte zweifelnd: „Ist das ein Flugzeug?“
„Nein, ein Hubschrauber.“ Caroline kniff die Augen zusammen. „Scheint ein ziemlich großer zu sein.“
Bernd stimmte zu: „Ja, sieht nach einem westlichen Modell aus. Er fliegt quer zu uns über die Mitte des Fjordes, etwa fünf Kilometer entfernt von uns.“
„Meint ihr, sie haben uns entdeckt?“ fragte Aishe ein wenig ängstlich.
„Glaube ich nicht. Mich wundert, dass überhaupt noch irgend jemand in der Gegend ist, der einen Hubschrauber unterhalten kann.“ Dimitri kratzte sich nachdenklich am Kinn. „Ich werde mal in der Küche Bescheid sagen...“
„Seht euch das an!“ schrie Shin aufgeregt. Sofort spähten alle wieder aufmerksam hinaus. „Sieht aus, als ob er runtergeht.“
„Will er etwa auf dem Eis landen? Aber das ist doch viel zu dünn und brüchig, um so eine schwere Maschine zu tragen...“ Ana schüttelte ungläubig den Kopf.
„Dieser Helikopter hat Schwimmer. Er kann notfalls auf dem Wasser landen. Aber er ist viel zu schnell dafür... oh mein Gott!“ Dimitri brach ab, als er mit Entsetzen wie alle anderen auch sah, dass der massige Rumpf des Drehflüglers mit hoher Geschwindigkeit und in flachem Winkel auf die Eisdecke prallte, nochmals einige Meter aufstieg und dann endgültig auf die Oberfläche aufschlug. Dabei schlitterte er halbwegs über die Eiskruste, die sofort unter ihm wegbrach und ihn dabei unsanft abbremste. Der Rumpf drehte sich dabei langsam zur Seite und neigte sich, bis die ersten Rotorblätter das Eis berührten und augenblicklich wegbrachen, alle innerhalb einer Umdrehung des Rotors. Es sah höchst spektakulär aus, wie die insgesamt fünf riesigen, mindestens zehn Meter langen Auftriebsblätter in hohem Bogen in alle Richtungen davon geschleudert wurden, sich in der Luft weiter drehten und sich überschlugen, bis sie irgendwann auf dem Eis aufkamen und unmittelbar unter die Oberfläche verschwanden.
Der hellgraue Rumpf des Hubschraubers drehte sich im Weiterrutschen weiter, bis er fast querstand und sich selbst in eine Rollbewegung versetzte. Er überschlug sich dreimal seitlich, wobei der Heckrotor ebenfalls abbrach. Wie durch ein Wunder kam er dann auf seiner Unterseite zu liegen, sank aber durch die Bootsform seines Rumpfes nicht, sondern trieb in dem kleinen länglichen See, den er selbst in die dünne Eisdecke gerissen hatte.
„Oh shit! Ob das jemand überlebt hat? Das hat echt übel ausgesehen.“ Wie Shin konnte niemand so recht glauben, wessen sie da gerade Zeugen geworden waren. Die Tatsache, dass sie durch das dicke Panzerglas der Fenster hindurch keinen einzigen Laut von der Havarie draußen vernommen hatten, machte die Szene etwas unrealistisch.
Caroline hatte ihren Kopf durch die Küchentür gesteckt und rief hinein: „He, wir habe gerade einen Hubschrauberabsturz mitangesehen. Etwa drei Kilometer westlich und einen nördlich von hier, mitten im Fjord. Sah nach einem größeren Marinehelikopter aus, wahrscheinlich eine Sikorsky. Er ist fast ungebremst aufs Eis geknallt, treibt aber noch auf dem Wasser.“
Sofort war Daniel im Wohnraum und eilte zum Fenster. „Tatsächlich, eine Sikorsky S-61 Sea King. Ein Transport- und U-Boot-Jagdhelikopter der Royal Navy. Woher kommt der denn?“
„Ist das schlimm für uns?“ zeigte sich Aishe wie stets um ihr Wohlergehen besorgt.
„Wir haben ein großes Problem“, antwortete er. „Wir wissen nicht, ob es weitere Kräfte gibt, die nach dieser Maschine suchen werden. Wenn ja, dürfen sie das Wrack auf keinen Fall hier vorfinden. Ich sage Alex Bescheid, Abbey wird bei euch bleiben.“
„Was... was meint er damit?“ fragte sich Karin laut.
„Dimitri, Natasha, zieht Kälteschutzanzüge an und kommt sofort in die Garage. Wir könnten euch vielleicht brauchen.“ Daniel war bereits aus dem Zimmer heraus, bevor auch nur einer reagieren konnte.
„Cool, ein Einsatz.“ Dimitri machte sich sofort auf, dicht gefolgt von Natasha, die nur über die Schulter zu Karin sah und ahnungslos mit den Schultern zuckte.
„So ein Mist, endlich passiert hier mal was und dann müssen wir schön brav hier sitzen bleiben und zusehen“, wetterte Shin missmutig und sah hinaus zum Helikopter, der unverändert im Fjord trieb, nun jedoch fast eingeschlossen von den langsam nachrückenden Eisschollen.
„Was sie wohl vorhaben?“ fragte Simon sich.
„Wahrscheinlich werden sie mit dem Boot, das unter dem Dach der Garage gelagert ist, zum Wrack rüberfahren“, vermutete Bernd. „Wird sicher nicht einfach bei all dem Treibeis. Ich möchte mal wissen, was Daniel vorhat.“
Alex war bereits zu Daniel gestoßen, als Dimitri und Natasha dick eingemummt gegen die Kälte in die Garage traten. Sie bemerkten, dass das rechte Tor offen stand und gingen ins Freie, wo sie eine Überraschung erwartete. Eine Querseite des steilen Giebeldaches war komplett hochgeklappt und ruhte auf stabilen, armdicken Hydraulikhebern. Mittels einer nachträglich angehängten Leiter waren die beiden Cyborgs hoch in den geräumigen Hohlraum unter dem Garagendach geklettert und hatten zwei schmale, mindestens zehn Meter lange Rampen zutage gefördert und brachten diese gerade am Rand des Daches an, sodass das Boot auf diesen Rampen zu Boden gleiten konnte. Als der Rumpf des Bootes heraus geschoben wurde, erschien jedoch kein spitz zulaufender Bug, sondern ein dunkler, unförmiger und runder Gummiwulst.
„Was ist das denn?“ Natasha konnte mit dem Gebilde nichts anfangen, doch Dimitri strahlte auf einmal.
„Ein Luftkissenboot! Genial!“
„Ein...? Echt? Oh Mann, das wird ja immer besser.“ Natasha wusste nicht recht, ob sie sich der Freude von Dimitri anschließen oder skeptisch bleiben sollte.
„Damit ist es kein Problem, zum Helikopter zu kommen. Auf Eis sind diese Dinger sogar noch schneller als über Wasser. Wie viel macht es?“
„Mehr als 70 km/h auf Eis“, bestätigte Alex und ließ das dunkelgrün gestrichene Gebilde, das haargenau unter das Dach zu passen schien, langsam mit Hilfe einer Winde die Rampe hinabgleiten. Es war etwa neun Meter lang und etwa vier ein halb Meter breit, schien jedoch relativ flach und gedrungen von der Form her. Der Aufbau setzte sich aus einem kleinen Cockpit für eine Person und einer Kabine, in der man nicht aufrecht stehen, sondern nur sitzen konnte, zusammen. Am Heck befand sich ein großer Antriebsrotor mit über einem Meter Durchmesser.
„Dies hier ist ein englisches Griffon 1000 TD. Wir haben eine Transportkapazität von zwölf Personen oder einer runden Tonne Fracht mit diesem Boot, bei einer maximalen Fahrtdauer von siebzehn Stunden. Dies ist ein Militärmodell, das der T-X aus Altbeständen in England erworben, generalüberholt und in jedweder Hinsicht modernisiert hat. In dieser Region ist es das ideale Fortbewegungsmittel, da es über Wasser, Eis, flaches Land und bei umsichtiger Steuerung sogar langsam über Strassen bewegt werden kann. Es wird von einem deutschen Motor, einem zweihundert-PS-Diesel von Deutz angetrieben.“ Daniel klinkte den Haken der Winde aus, nachdem das Fahrzeug vollständig herab gelassen war, um dann zusammen mit Alex die Rampen wieder unter dem Dach zu verstauen und dieses zu schließen.
„Sieht echt cool aus.“ Dimitri konnte gar nicht mehr an sich halten vor Begeisterung und umrundete das Luftkissenboot einmal, während Natasha beunruhigt auf den Fjord hinaussah, wo sich die unzähligen Eisschollen aneinander rieben und sich gegenseitig kaum merklich weiter durch die Meerenge schoben.
Daniel und Alex stiegen nacheinander durch die schmale Luke in der Mitte der Kabine und bedeuteten ihnen nach zu folgen. Schweren Herzens kletterte Natasha über den dicken Gummiwulst, unter dem das Luftpolster gebildet wurde, um sich dann in die enge und finstere Kabine hinabzulassen. Sie zog die Luke hinter sich zu und studierte den Schließmechanismus einige Sekunden, bevor sie die Tür verriegelte. Knapp unter der Decke der Kabine waren in die Seitenwände zwei schmale Fensterreihen eingelassen, die ein wenig Licht in die Kabine ließen. Der Durchgang zum Cockpit war ebenso eng gebaut, doch ihre beiden Mentoren hatten sich bereits auf die Vordersitze gezwängt und ließen nun die Motoren an.
Die beiden Passagiere setzten sich auf die vordersten beiden der zwölf Sitze direkt neben der Luke zum Cockpit, um soviel wie möglich sehen zu können. Sie spürten das leichte Schwanken, mit dem sich das Boot vom Grund erhob, als sich das Luftkissen mit laut vernehmbarem Heulen unter ihm aufbaute. Ein seltsames Gefühl, dachte Natasha, doch dann begann sich das Gefährt bereits vorwärts zu bewegen und beschleunigte zügig, während es auf die Küste zuhielt. Bei jeder Lenkbewegung legte es sich ein wenig quer und schob über die Seite, bis es die neue Fahrtrichtung eingeschlagen hatte. Das war gewöhnungsbedürftig, machte seltsamerweise aber auch Spaß, wie Natasha nach kurzer Zeit fand.
Sie rasten nun mit beängstigendem Tempo über das Treibeis und näherten sich dem havarierten Hubschrauber rasch. Nach nur zwei Minuten drosselte Alex die Fahrt und ging langsam in eine Umrundung des Wracks, um es von allen Seiten begutachten zu können.
Daniel resümierte die gemachten Beobachtungen: „Der Rumpf ist stark beschädigt, zerbeult und weist mehrere größere Risse in der Struktur auf. Rotor und Heck sind verloren gegangen, doch die Unterseite scheint intakt, der Rumpf ist schwimmfähig. Keine Lebenszeichen an Bord zu bemerken.“
Sie krochen langsam auf eine Luke an der rechten Seite zu, neben der Alex das Griffon in der Schwebe hielt. Daniel kam nach hinten und öffnete den Ausstieg, durch den sogleich die eisige trockene Arktisluft hereinströmte. Er beugte sich vor und rüttelte am Türgriff der Schiebetür des Helikopters, doch sie war vom Absturz derart verzogen, dass sie sich nicht mehr auf ihren Schienen bewegen ließ. Kurzentschlossen packte er die Tür an ihren Aussenkanten und riss sie unter lautem metallischen Kreischen aus ihren Führungen, wonach er sie einfach fallen ließ. Sie brach durch die dünne neugebildete Eisschicht rund um den Rumpf der Sikorsky und versank augenblicklich. Daniel indes bedeutete ihnen im Boot zu bleiben und sprang mit einem beherzten Satz den knappen Meter vom Luftkissenboot ins finstere Innere des Transporthubschraubers.
Mit zunehmendem Bangen warteten Dimitri und Natasha auf ein Zeichen von ihm, doch er brauchte etwa zwei Minuten, um den geräumigen Innenraum auszukundschaften. Dann erschien er an der Luke und rief zu ihnen hinein: „Kommt schnell, es gibt viel zu tun.“
Sie sahen sich an und schluckten, dann kamen sie seiner Anweisung ohne weiteres Zögern nach. Kurz nacheinander sprangen sie hinüber in die gähnende dunkle Öffnung in der Flanke des Sea King, wo Daniel sie auffing. Im ersten Moment wirkte die Hauptkabine wie ein Trümmerfeld. Sie war offenbar bis unters Dach mit Unmengen an verschiedensten Vorratsgütern, Lebensmitteln und Ersatzteilen vollgeladen worden. Die Verzurrung der Paletten hatte die drei Überschläge erwartungsgemäß nicht überstanden, weshalb alles kreuz und quer übereinandergeworfen worden war und man kaum noch erkennen konnte, wo oben und unten war. Mit Grausen erspähte Natasha eine postmortal erstarrte Hand, welche unter einem Haufen von umgeworfenen Kisten herausragte.
Noch während sich ihre Augen ans Zwielicht in der Hauptkabine gewöhnten, informierte er sie: „Dies war ein Patrouillen- und Versorgungsflug mit kleiner Mannschaft. Es gab fünf Besatzungsmitglieder an Bord, von denen zwei noch leben. Einer von ihnen ist so schwer verletzt, dass wir nichts mehr für ihn tun können. Er hat multiple Frakturen, viel Blut verloren und ist aufgrund der vermuteten inneren Verletzungen nicht transportfähig. Der zweite hatte Glück und war angeschnallt auf einem Beobachterplatz im Heck des Cockpits. Er ist ohne Bewusstsein und hat wahrscheinlich ebenfalls mehrere Knochenbrüche sowie eine schwere Gehirnerschütterung, wird jedoch durchkommen.
Ihr werdet euch von den Vorräten in der Kabine hier so viel schnappen, wie ihr könnt, und die Sachen ins Boot verfrachten. Wir haben etwa eine Stunde, um voll zu laden, bevor wir umkehren müssen. Ich möchte aber nicht so lange warten, damit der Verletzte nicht noch weiter auskühlt und sich seine Chancen noch verschlechtern.“
„Dann fahren wir den Verletzten eben zuerst zurück und kommen wieder, um die Fracht zu bergen. Es sind doch nur ein paar Minuten Fahrt bis zum Haus und zurück“, schlug Natasha vor, worauf Dimitri sie verblüfft anstarrte.
„Du hast recht, wir werden es so machen. Das Leben dieses Menschen ist wichtiger als eventuelle Güter, die wir hier noch ergattern können. Der Rumpf des Helikopters ist weitgehend intakt, sodass er von selbst nicht sinken wird. Schnappt euch einfach soviel ihr tragen könnt für diesmal.“ Daniel nickte und wirkte nachdenklich, während er nach vorne und oben kletterte, um in den Cockpitbereich zu gelangen.
Einen Moment darauf war er mit dem Verletzten zurück und trug den schlaffen, leblos scheinenden Körper zur Luke. Sie konnten nichts von ihm erkennen, als Daniel ihn vorsichtig hinüberwuchtete und ins Innere des Luftkissenbootes bugsierte.
Sie waren kaum zurück aufs Hovercraft gesprungen und ins Innere der Kabine gekrochen, als Alex auch schon stark beschleunigte und mit Höchstgeschwindigkeit aufs Ufer zuschoss. Natasha konnte nun einen ersten Blick auf den ohnmächtigen Insassen des Helikopters werfen. Er hatte kurzgeschorenes, schwarzes Haar und ein markantes, eckiges Gesicht mit einer Adlernase und einem kräftigen Kinn sowie einen breiten Mund mit schmalen Lippen. Für sie wirkte er wie ein Südeuropäer, auch aufgrund des drahtigen, schmalen und nicht zu großen Körperbaus.
„Wer das wohl ist?“ fragte sie sich, doch Daniel hatte sie gehört.
„Das ist Nicolas Fraisier.“
Dimitri fuhr herum. „Du... du kennst ihn?“
„Das will ich wohl meinen. Er ist der Anführer der europäischen Widerstandsbewegung.“
In kürzester Zeit wurde der Verwundete ins Haus geschafft und ins leerstehende Zimmer neben der Luftschleuse gebracht, das kurzerhand zur Krankenstation erklärt wurde. Aus praktischen Erwägungen übernahm Alex die Versorgung ihres Neuankömmlings, wobei ihm die ehemaligen Medizinstudenten Silke und Bernd assistierten. Da sowohl Daniel wie auch Abbey jeweils einhundert Kilogramm weniger wogen als Alex, übernahmen sie die Leitung der Bergungsoperation der Helikopterfracht. Und um zusätzliches Gewicht zu sparen, das sie dafür an Fracht aufnehmen konnten, nahmen sie als Ladehilfen nur die leichtesten mit, nämlich Aishe, Caroline und Shin.
Bei ihrer Rückkehr trafen die drei auf Natasha, als sie die Kellertreppe heraufkamen. Sie war die einzige, die vor der Tür des Krankenzimmers Wache hielt, während alle anderen in den Wohnraum übergewechselt hatten. Erstaunt fragte Aishe: „Was tust du denn noch hier?“
„Ich weiß auch nicht, ich möchte einfach wissen, wie es ihm geht. Sie sind seit einer Stunde da drin und verarzten ihn, aber mich lassen sie nicht rein. Nur einmal hat Silke den Kopf zur Tür rausgesteckt und mich eine Schüssel warmes Wasser holen lassen. Und bei euch?“
Shin stöhnte auf: „Was für ein Trip! Wir haben das Luftkissenboot überladen und wären um ein Haar abgesoffen, als wir alle zurück ins Boot gestiegen sind. Unsere beiden T-880 rätseln jetzt noch herum, wo der Fehler liegen könnte. Na ja, soviel zur hochgelobten Technik der Elektronengehirne. Aber dass man sich bei 800 kg Fracht um über einhundert Kilo verrechnen oder verschätzen kann... wenn wir nicht aufs Geratewohl in Windeseile alles Greifbare über Bord geworfen hätten, hätte uns niemand mehr helfen können.“
Aishe fügte hinzu: „Ja, und das Beste ist, dass Daniel bei unserer Abfahrt ganz cool mal so eben zwei Handgranaten in die Kabine geworfen und so den Hubschrauber versenkt hat. Jetzt deutet nichts mehr darauf hin, dass er jemals auf dem Fjord notgelandet ist. Das Eis hat sich im Nu wieder über ihm geschlossen.“
„Ja, und über das Luftkissenboot haben wir ein Wintertarnnetz gespannt. Es ist aus der Luft oder vom Wasser aus so gut wie nicht zu entdecken“, komplettierte Caroline den Bericht.
Natasha sah zu Shin hin. „Und was habt ihr so alles geborgen?“
„Vor allem Trockenfutter, Notrationen und so weiter. Das Zeug hält ewig und reicht uns jahrelang, wenn unsere Vorräte einmal ausgehen werden. Außerdem medizinische Versorgungsgüter und allgemeine technische Ersatzteile. Wenn man die Lage berücksichtigt, in der sich die Weltwirtschaft momentan befindet, ist das ein unermessliches Vermögen, was wir da rausgeholt haben.“
Caroline zog einen Mundwinkel hoch: „Irgendwas hast du nicht verstanden, Shin. Es gibt keine Weltwirtschaft mehr und sie befindet sich auch nicht momentan in irgendeiner Lage. Die gesamten Produktionskapazitäten der Industrienationen sind unwiederbringlich ausradiert worden.“
Er winkte ab. „Ja, schon gut. Ich habe nur versucht, ein wenig optimistisch zu sein.“
„Und ich versuche, ein wenig realistisch zu sein.“
Worauf Shin zur Kellertreppe wies. „Na ja, wenn du mal lachen willst, da geht’s lang.“
Worauf sie tatsächlich kurz auflachte.
Aishe legte einen Arm um Natashas Schultern. „Komm schon, Mädchen, hier kannst du im Moment nichts tun. Wir gehen am besten zu den anderen ins Wohnzimmer.“
„Ja, gut,“ willigte Natasha zögerlich ein, „ich habe nur das Gefühl, als müsste ich irgendetwas tun. Eigentlich blöd, ich weiß.“
Hallevik, Insel Rolla, Troms Fylke, Norwegen 23. März 2005
Am späten Vormittag kam die Gruppe nach dem Sport aus der Dusche und versammelte sich am Esstisch. Es würde noch ein wenig dauern, bis das Mittagessen soweit wäre, sodass sie die Ereignisse der letzten Tage Revue passieren ließen. Die Jalousien waren oben und boten den gewohnten düsteren Ausblick auf den halb vereisten Fjord unter bleiernen, tiefhängenden Wolken.
„Was neues über Nicolas?“ fragte Natasha als erstes, sobald sie Daniel vom Flur her in den Wohnraum kommen sah.
„Er ist noch bewusstlos, aber sein Zustand ist nicht mehr kritisch. Die Brüche sehen gut aus, die Fixierungen halten zuverlässig, auch wenn er sich bewegen sollte. Ich schätze seine Chance, durchzukommen, sehr gut ein.“ Mit dieser kurzen Prognose verabschiedete er sich wieder in die Küche.
„Euch ist klar, dass er nicht erfahren darf, welche Rolle er eigentlich spielt, nicht wahr?“ fragte Bernd in die Runde.
Worauf Natasha ihn fragend ansah. „Wie kommst du darauf?“
„Stell’ dir doch mal vor, wie er auf so eine Offenbarung reagieren würde. Er weiß ja noch nicht einmal, wie ihm geschehen ist.“
„Uns hat die Wahrheit doch auch nicht sonderlich geschadet, oder? Und wir sind dem enormen psychischen Druck ausgesetzt gewesen, schon im Voraus zu wissen, was der Welt bevorsteht“, argumentierte Natasha energisch.
„Ich glaube eher, uns hat das geholfen“, widersprach Aishe mit nachdenklicher Miene. „Stell’ dir nur mal vor, uns hätte das aus heiterem Himmel getroffen. Welchen Schock all die anderen Menschen verarbeiten mussten, deren Welt und deren Leben ohne jede Warnung in Schutt und Asche versunken ist.“
„Aber wir wissen auch, dass es noch schlimmer werden wird. Und aus diesem Wissen können wir ein wenig Kraft schöpfen, indem wir uns geistig darauf vorbereiten. Ich glaube, dass das auch für Nicolas gelten wird. Sobald er die Realität akzeptieren wird, kann auch er sich für das wappnen, was kommen wird.“ Karin senkte den Kopf. „Auch wenn dieser Weg für ihn lang und hart werden könnte.“
In diesem Moment veränderte sich etwas.
Es war eigentlich nur eine Kleinigkeit, doch ihre Sinne waren so geschärft, dass es allen fast augenblicklich auffiel.
Shin sprach es aus: „Die Lüftung ist ausgegangen.“
„Was ist da los?“ Ana stand auf und öffnete die Küchentür, in der auch sofort Abbey erschien.
„Der Strom ist ausgefallen. Vermutlich ist der Generator festgefroren oder etwas verstopft die Fallleitung. Daniel steigt gerade hoch zum Kontrollraum und stellt auf Batterie um, bis wir den Schaden behoben haben.“
„Batterie?“ echote Silke. „Was für eine Batterie?“
„Ach, tut mir leid, das hatten wir gar nicht erwähnt, nicht wahr? Im Falle eines Stromunterbruchs verfügen wir über eine Anzahl von Akkumulatoren, die zwischen Decke und Wassertanks unter dem Dach gelagert sind. Es sind russische Produkte, die auch für dieselelektrische U-Boote verwendet werden. Ein siebzig Meter langes Boot mit 7000 Tonnen Verdrängung kann zwei Tage lang mit dieser Ladekapazität getaucht fahren und dabei vierhundert Seemeilen zurücklegen.
Sie werden ständig vom Generator geladen, der auch das Haus versorgt. Sie allein könnten uns für Wochen mit Energie versorgen, doch im äußersten Notfall haben wir auch noch einen kleinen Dieselgenerator im Keller, der aber nur als letzter Ausweg gedacht ist, da er natürlich unseren kostbaren Heiz- und Kraftstoff verfeuert.“
Bernd schüttelte nur den Kopf. „Der T-X hat wohl wirklich an alles gedacht, was?“
„Ja, nur nicht daran, dass bei Frost auch größere Stücke des Felsens losgesprengt werden können und den Einlauf des Fallrohrs verschließen könnten. Wir schicken gleich Alex raus, der sieht erst mal nach, wo das Problem liegt. Euer Tagesablauf wird davon nicht beeinträchtigt werden. Daniel bringt euch nachher das Essen.“ Damit verschwand Abbey wieder, um wie immer irgendeiner Tätigkeit im Haus nachzugehen, welche sich ihrer Kenntnis entzog.
„Immerhin hat der Strom den ganzen Winter über nicht einmal schlapp gemacht“, gab Dimitri zu bedenken. „Ich hätte schon viel früher damit gerechnet, dass alles irgendwann einfriert. Das liegt sicher an der windgeschützten Lage der Fallleitung und am steilen Gefälle.“
„Na ja, aber wenn alles zugeschneit wird und die Temperatur ständig unter dem Gefrierpunkt ist, muss es doch irgendwann einfrieren.“ Nach Karins Einwurf wurde noch über dieses Thema diskutiert, bis Daniel trotz der zusätzlichen Arbeit mit der Stromversorgung pünktlich das Essen auftischte. Noch hatten sie Tiefkühlkost wie Gemüse und Fleisch, die an genießbares frisches Essen entfernt heranreichte, doch das würde nicht für immer so sein, wie manche von ihnen beim Kauen sinnierten.
Das Makabre dabei war, dass nicht mehr viele Menschen lebten, die etwas zu Essen brauchten, sodass andererseits kein Engpass in der Bevölkerung bestand.
Der Nachmittagsunterricht war beendet und sie hatten noch eine Stunde Zeit bis zum Abendessen. Die meisten von ihnen gingen wie stets kurz in ihre Zimmer, würden sich jedoch bald im Wohnraum einfinden oder, falls sie sich im Flur vor den Zimmern trafen, dort für ein kurzes Schwätzchen verweilen. Natasha war wie stets als erste ins Krankenzimmer geeilt, um nach ihrem Schützling zu sehen, was natürlich auch für Gerede in der Gruppe sorgte.
Daniel kam die Kellertreppe hinauf, in dicke Winterkleidung gewandet, und steuerte die Schleuse an, was von Karin, Caroline, Shin und Aishe verwundert zur Kenntnis genommen wurde.
Karin konnte nicht umhin, zu fragen: „Wolltet ihr nicht Alex zur Reparatur hinaus schicken?“
Er sah auf, wobei sich ihre Blicke trafen. „Das haben wir. Er ist noch nicht zurück gekehrt. Ich gehe nachsehen, ob er Hilfe bei der Reparatur braucht.“
„Ihm wird doch hoffentlich nichts passiert sein?“ befürchtete Aishe, wie immer besorgt um alles und jeden.
„Er ist ein Terminator. Viel kann ihm nicht passiert sein, außer dass er abgestürzt ist. Der Einlauf der Fallleitung liegt immerhin über zweihundert Meter hoch in der Steilwand des Osthanges des Rolla. Wenn er dort bei dem vielen vom Frost losgesprengten Gestein auf eine lose Stelle getreten ist, kann das schon passiert sein.“
„Vielleicht hätte einer von euch T-880ern gehen sollen, immerhin wiegt ihr jeweils hundert Kilo weniger und wärt nicht so stark gefährdet beim Klettern“, gab Shin zu bedenken.
„Das mag sein, ist jetzt aber nicht mehr zu ändern. Abbey ist in der Küche, wenn etwas sein sollte. Bis nachher.“ Er winkte zum Abschied kurz und betrat die Schleuse, die sich mit einem metallischen Klicken schloss.
Als er gerade das Haus verlassen hatte, kam Natasha aus dem Krankenraum heraus. Ihre Miene spiegelte tiefe Sorge und Mitgefühl. Karin erkannte sie kaum wieder. Leise fragte sie: „Wie geht es ihm?“
„Er ist noch immer ohne Bewusstsein. Daniel hat zwar gesagt, er ist auf dem Weg der Besserung, doch er wirkt so schwach und hilflos auf mich. Es tut mir richtig weh, ihn so daliegen zu sehen.“ Ihre Augen wurden wässrig.
„Es wird schon alles gut werden. Lass den Kopf nicht hängen, Mädchen.“ Karin tätschelte ihr tröstend auf die Schulter. Sie verschwand wortlos in ihrem Zimmer.
Shin sah ihr nach. „Könnt ihr das verstehen? Sie ist wie ausgewechselt. Ich habe das Gefühl, ich kenne sie gar nicht mehr.“
Aishe belehrte ihn: „Ist doch klar. Ihr Herz zerbricht, wenn sie ihn so leiden sieht. Sie ist ihm vom ersten Augenblick an verfallen, mit Leib und Seele.“
Caroline stutzte. „Glaubst du wirklich, sie ist in ihn verliebt? Aber... sie kennt ihn doch noch gar nicht! Sie hat ihn noch niemals in wachem Zustand erlebt. Das kann doch nicht sein!“
„Glaub mir, es gibt die Liebe auf den ersten Blick. Du bist von den Beweisen umgeben. Mach nur die Augen auf, meine Liebe.“ Aishe lächelte Shin an, der darauf wie ein Schuljunge zu grinsen begann.
„Na ja, ein bisschen spielen da wohl auch die extremen Umstände mit, oder nicht?“ Die kleine Elsässerin winkte ab und begab sich auch auf ihr Zimmer, um nach Natasha zu sehen.
„Wir sehen uns nachher.“ Karin trennte sich von ihren Freunden und betrat ihr eigenes Zimmer, wo sie Bernd direkt in die Arme lief.
„Hi, ich wollte gerade in den Wohnraum. Kommst du auch?“ Er ergriff sie an der Hüfte und zog sie an sich, um ihr einen Kuss zu geben, unter dem sie lachen musste.
„Gleich, Schatz, ich möchte mich nur noch schnell umziehen.“ Sie holte einen gemütlichen Jogginganzug aus ihrem Schrank und legte ihn sich zurecht.
Er zog ihr das Shirt aus dem Hosenbund. „Lass mich dir helfen.“
„Lass das, du Spinner! Wir können nicht ständig wie die Karnickel...“ Sie lachte erneut und schlug ihm spielerisch auf die Finger.
„Warum nicht? Nenn mir einen vernünftigen Grund.“ Er zog sie erneut an sich, sodass sie spürte, dass er durchaus bereit war, die Herausforderung anzunehmen.
„Wir verbrennen zu viele Kalorien. Geh lieber kalt duschen, bis ich ins Wohnzimmer komme.“ Sie gab ihm einen Klaps auf den Hintern und kümmerte sich nicht um seine – halbwegs – gespielte enttäuschte Miene, als sie ihn hinausschickte.
Und als sich die Tür schloss, starrte sie eine Sekunde nachdenklich auf das Holz vor sich. Ein seltsames Gefühl beschlich sie. Was war das nur?
Ihr Leben hatte sich so dramatisch verändert. Und das beste daran war eindeutig Bernd.
Daniel stapfte durch den fast knie hohen Schnee auf den Spuren, die Alex vor ihm gemacht hatte, auf den Sockel des über neunhundert Meter hohen ebenfalls schneebedeckten Rolla zu. Das obere Ende der Fallleitung, an dem Alex vielleicht noch arbeitete, hätte er nicht sehen können, da die Wolken so tief hingen, dass sie diesen Teil des Berges bereits einhüllten. Gleich nach der nächsten Biegung musste er in Sichtweite der rechts neben der Zufahrtsstrasse gelegenen Turbine am Ende der Fallleitung kommen. Er konnte nur mutmaßen, weshalb Alex sich nicht meldete. Doch noch hatte er keinen Grund dafür, etwas schlimmes zu befürchten.
Er ließ den letzten Felsvorsprung neben sich und sah ihn sofort. Alex lag nur wenige Meter neben der geschickt in die Landschaft eingepasste Turbine auf dem Bauch im Schnee und bewegte sich nicht. Eine deutliche Spur den Hang hinauf zeigte, wo er abgerutscht und den Hang hinabgestürzt war. Über zweihundert Meter an der beinahe senkrechten Steilwand waren auch für einen T-800 viel, sodass es Daniel nicht wunderte, dass sein kybernetischer Kollege außer Betrieb war.
Er überblickte die Szene in einem Sekundenbruchteil. Alex musste den Generator als erstes untersucht und für funktionstüchtig befunden haben, worauf er dann den lebensgefährlichen Anstieg zum oberen Ende des Fallrohres angetreten war. Bei diesem Wetter mit ständigem Nachtfrost lief Wasser in die Spalten des Vulkangesteins und gefror nachts, wobei es sich ausdehnte und durch diese erzielte Hebelwirkung kleine Stücke Gestein vom Felsen absprengte. Wenn genügend dieser Steinsplitter in der passenden Form und Größe genau vor das Einlaufgitter gefallen waren, war es denkbar, dass der Wasserdurchsatz nicht mehr gegeben war. Und sobald das Wasser bei dieser Kälte nicht mehr in Bewegung war, gefror es unweigerlich.
Daniel konnte nur hoffen, dass das Turbinengehäuse des Generators unten dabei leergelaufen war, wie es seine Konstruktion vorgesehen hatte, denn wenn es noch mit Wasser gefüllt gewesen wäre, als es ebenfalls zufror, konnte man es wahrscheinlich nicht mehr in Betrieb nehmen. Und dann hieß es Strom mit dem kleinen Dieselgenerator im Keller erzeugen, was sie Unmengen von kostbarem Heizöl kosten würde. Da Alex zur Zeit außer Funktion war, war seine Bergung und Reparatur, falls überhaupt durchführbar, zweitrangig, da der Zeitfaktor, wann dies geschehen würde, unerheblich war. Er setzte seine Prioritäten und entschied sich dafür, zunächst die nötigen Reparaturen in Angriff zu nehmen.
Daniel machte sich also auf den Weg, erstarrte aber schon nach einem Drittel des Weges nach oben, als sich auf einem kurzen Stück die Wolken über ihm ein wenig lichteten und er einen ungehinderten Blick auf die Entnahmestelle für das Fallrohr werfen konnte. Er sah genau den Beginn der tiefen Furchen in Schnee und Fels, wo der Cyborg mit seiner Vierteltonne Gewicht hinabgestürzt war.
Und er sah ein Stück darüber Spuren im Schnee, die von oben kamen und nach oben auf den Gipfel führten. Dann fielen ihm die Spuren von versengtem Gestein an der Stelle auf, wo Alex neben dem Einlauf gearbeitet hatte. Daniel brauchte nicht lange, um einen logischen Schluss zu ziehen.
Jemand hatte sich die Mühe gemacht, den Berg von der abgewandten Seite aus zu besteigen und sich von oben hierher hinabzulassen, damit im Schnee auf dieser Seite keine Spuren von ihm erkennbar sein würden. Den Einlauf der Fallleitung verstopfte der Unbekannte, um so ihre Stromproduktion lahm zulegen. Wohlwissend, dass jemand kommen würde, um den Schaden zu inspizieren und zu beheben, lag dieser Jemand dann auf der Lauer, um bei Alex’ Erscheinen zuzuschlagen. Dann brauchte er nur noch darauf zu warten, dass noch jemand kommen würde, um nach dem abgestürzten Terminator zu sehen.
Jetzt war nur noch Abbey bei der Gruppe im Haus.
Und er saß jetzt hier oben in der Felswand.
Nein.
Er ließ einfach los und rutschte halbwegs, stürzte halbwegs den steilen Hang hinab, um dann jedoch sanft das letzte auslaufende Stückchen zu rutschen und im hohen Schnee nur knapp neben Alex zu landen. Mit einer hastigen Bewegung drehte er ihn um und erblickte zwei versengte Stellen auf seiner Brust. Impulswaffentreffer.
Dann hastete er mit Höchsttempo zurück zum Haus.
Karin war mit Umziehen fertig und hatte noch ein wenig Ordnung gemacht in ihrem Schrank, da sie gestern eine Ladung frisch gewaschener Wäsche zurückerhalten hatte. Just als sie auf den Flur trat, hörte sie Aishe und Shin in ihrem Zimmer am Ende des Gangs reden, das sie offenbar gerade im Begriff waren zu verlassen. Sie schlenderte zu ihnen hinüber, als auch die Tür zu Carolines und Natashas Raum schräg gegenüber aufging und Caroline heraustrat. Sie sagte über die Schulter: „Ja, das kann schon sein. Wir sehen uns gleich im Wohnraum, okay?“
Dann bemerkte sie Karin und lächelte, indem sie die Tür schloss.
„Natasha ist noch ein bisschen down, aber das wird schon wieder.“
Spontan plauderten sie ein wenig, während auch Shin und Aishe zu ihnen stießen. Gerade wollten sie Anstalten machen, zu den anderen in den Wohnraum zu gehen, als sich die Außentür öffnete und Daniel eintrat.
„Ah, mal sehen, ob sie den Generator wieder hingekriegt haben“, sagte Shin arglos, doch Karin starrte auf das Gesicht und die Kleidung des Cyborgs, als dieser die Haustür mit einer Hand zuzog.
„Das ist nicht Daniel.“ Karin sprach den Alptraum laut aus, der sie gerade heimsuchte.
Sie hatten sie gefunden.
Caroline rief: „Schnell, Shin, hol Abbey!“
Es sprach für sie als Gruppe, dass niemand die Anweisung anzweifelte, auch Shin selbst nicht, der ohne zu zögern losspurtete und in Richtung Küche eilte. Gleichzeitig griffen die drei anderen zu den Waffen an den Wänden, während die Außentür ins Schloss fiel, sich verriegelte und die Innentür sich entriegelte, da keine Dekontamination mehr nötig war. Die nächsten Sekunden würden über Leben und Tod entscheiden, soviel stand fest.
Die schwere Panzerglastür öffnete sich einen spaltbreit. Alle brachten ihre Sturmgewehre in Anschlag; Caroline war die nächste, die nur darauf wartete, dass die Öffnung groß genug wurde, um hindurchzuschießen.
Der CSM-108 zog seine andere Hand hinter dem Rücken hervor und brachte ein M-80 Lasergewehr zum Vorschein. In einem Sekundenbruchteil sah Karin ihre Hoffnungen schwinden.
Der T-880 nutzte das Überraschungsmoment, um die Tür, welche sie selbst alle nur mühselig und zentimeterweise bewegen konnten, mit einem plötzlichen kräftigen Schwung aufzustoßen. Sie traf Caroline, die nicht schnell genug wegspringen konnte, und schleuderte sie zur Seite, wo sie heftig gegen die Wand prallte und bewusstlos herabsank.
Mit einem bösartigen Grinsen richtete CSM 108 das monströse, kalt schimmernde Lasergewehr auf das regungslose Mädchen am Boden. Schockiert sahen sie zu, wie er abdrückte.
Und nichts geschah.
„Lektion Nummer fünf im Umgang mit phasenkoordinierten Plasmaimpulsgewehren des Typs Westinghouse M-80: nach spätestens sechs Monaten im Feldeinsatz entlädt sich die Energiezelle auch bei Nichtgebrauch soweit, dass kein Schuss mehr abgegeben werden kann. Spätestens dann muss eine neue Zelle eingesetzt werden, Mistkerl.“ Karin drückte ab und entlud ein volles Magazin aus ihrem Heckler & Koch G3 in den Torso des Kampfroboters. Da dieser noch keine Erfahrung mit der kinetischen Energie von auf seinen Körper auftreffenden, großkalibrigen Vollmantelgeschossen hatte, wurde er von der Wucht des Feuerstosses umgeworfen, fiel in die Schleuse zurück und prallte mit dem Rücken an die Haustür, bevor er steif wie ein Brett umkippte. Die von seiner Panzerung abgeprallten Geschosse zersiebten die holzverkleidete Wand neben der Schleuse ihn einem Zufallsmuster.
Abbey kam aus der Küche herausgeschossen und lief mit irrwitzigem Tempo und donnernden Schritten zu ihnen hin. Sie hatte ihr eigenes Plasmagewehr in der Hand und kam abrupt zum Halt, als sie den regungslosen Daniel-Widerpart in der Schleuse liegen sah. Die Worte sprudelten aus ihr heraus, als sie die Waffe auf seinen Brustkorb richtete. „Sie greifen uns an, während Alex und Daniel nicht im Haus sind. Ich muss sofort in den Keller, der Zugang dort ist am wichtigsten. Wenn einer von ihnen da hineingelangt, kann er unermesslichen Schaden anrichten. Haltet den hier in Schach.“
Der CSM 108 öffnete seine Augen und sah hinab auf seinen zerfetzten Brustkorb, unter dem sein blutbeschmiertes Endoskelett schimmerte. Dann hob er den Blick, um in Abbeys Mündung zu starren.
Sie feuerte einen Schuss ab, der mit dem typischen Spielarkaden-Geräusch in die Wunde einschlug und ihn zucken und beben ließ, bevor er erneut zusammensackte. Dann drückte sie Karin die Strahlenwaffe in die Hand, da sie ihr Gewehr leer geschossen und gleich beiseite geworfen hatte. Sofort danach rannte sie in den Keller und rief über die Schulter: „Schnell, geht ins Wohnzimmer, dort wird der nächste angreifen. Caroline scheint nur bewusstlos; Karin, bleib’ bei ihr und bewache den hier, die anderen werden euch brauchen, Shin und Aishe. Ich hole mir die andere M-80 im Keller.“
Innerhalb von Sekunden waren alle aus dem Wohnzimmer in den Gang gerannt und hatten sich die nächsten greifbaren Waffen geschnappt. Natasha kam aus ihrem Zimmer und gesellte sich zu Karin, nachdem sie eine Kalaschnikow von der Wand neben sich abgenommen hatte. Erstaunlicherweise klappte das Zusammenspiel zwischen ihnen perfekt, sie agierten wie eine Einheit. Ohne große Kommentare liefen die anderen zurück ins Wohnzimmer, wo man einen dumpfen Schlag hörte, als ob etwas extrem Schweres umgefallen wäre. Ein Terminator musste durch die doppelt gepanzerte Glasfront gebrochen sein, indem er die Balkontür darin aus ihrer Umfassung geschlagen hatte, was an sich schon eine enorme Gewalttat darstellte. Karin sah über die Schulter und konnte sich dabei nicht vorstellen, dass ein T-880 soviel Masse und Kraft aufbringen konnte, um dort durch zu brechen. Schließlich hatte auch dieses Exemplar hier brav gewartet, bis die Schleuse offen stand.
„Pass auf!“ kreischte Natasha und riss ihr Gewehr hoch, doch es war bereits zu spät. Karin spürte einen heftigen Ruck, mit dem ihr das M-80 aus den Händen gerissen wurde. Sie verspürte einen solchen Schmerz dabei, dass sie dachte, sie hätte sich den Abzugsfinger gebrochen.
Oh nein, wie hatte sie nur so dumm sein können?
Mit dem selben, ekelerregend boshaften Grinsen von eben erhob sich der zerstört gewähnte CSM 108 mit mühsamen, ruckenden Bewegungen, um die eroberte Waffe, die er am Lauf hielt, umzugreifen. Karin war dabei Natasha im Weg, sodass diese nicht gefahrlos feuern konnte. Karin hatte leider die Befürchtung, dass es den Terminator vor ihr im Gegensatz zu Natasha nicht kümmern würde, wenn er durch sie hindurch feuern musste, um auch Natasha zu töten.
Das war’s also, dachte sie mit einem seltsam tauben Gefühl in der Magengegend. In einer Sekunde würde sie tot sein. Nun wusste sie auch endlich, warum in der düsteren Geschichtsschreibung dieser Zukunft kein Platz für sie gewesen war. Im Hintergrund hörte sie passend dazu, wie die anderen hektisch durcheinander schrieen und mehrere Salven Dauerfeuer auf ihren Gegner entluden.
Dann wurde der CSM 108 in einer blitzschnellen Bewegung, fast zu schnell für das menschliche Auge, mit unsäglicher Wucht gegen die Wand geschleudert, wo er wie eine Abrissbirne einschlug und sein Körper mehrere Zentimeter tief in den Stahlbeton hinter den zersplitterten weißen Holzbrettern eingegraben wurde, sodass sich seine Konturen ins Mauerwerk einprägten. Es traf ihn wie ein Blitzschlag und so heftig, dass er sich zum dritten Mal in kürzester Zeit vorübergehend ausschaltete, um eine interne Schadensdiagnose durchzuführen, wobei ihm das Ergebnis diesmal sicher nicht gefallen würde.
Karin war vor einem Lidschlag noch der festen Überzeugung gewesen, dass ihr Schicksal von einem rauchenden Loch in ihrer Brust besiegelt werden würde. Umso fassungsloser starrte sie nun hinab auf die eben noch besinnungslose Caroline, die das Fußgelenk des T-880 noch immer fest umklammert hielt.
„Was hat das zu... bedeuten?“ Das letzte Wort sprach sie in höchstem Erstaunen aus, weil ihr in diesem Moment klar wurde, was es zu bedeuten hatte.
„Wegen dir Dummchen ist meine Tarnung jetzt zum Teufel!“ Caroline sprang elegant auf die Beine, packte den regungslosen Cyborg, um ihn aus der Wand heraus und in einer einzigen bogenförmigen Bewegung hoch in die Luft zu reißen, nur um ihn dann mit aller Gewalt auf den Boden vor sich zu schmettern. Der Kopf des Daniel-Plagiats grub sich durch die Holzbohlen und hinterließ auch dort im massiven Stahlbeton einen Abdruck wie von einem Gipsguss. Sie ließ ihren Fuß auf seinen Schädel hernieder sausen und grub ihn dadurch noch einen Deut tiefer in den Grund. Als sie ihren Gegner wieder hochriss und mit einer wegwerfenden Bewegung in die Eingangsschleuse zurückwarf, war die eine Hälfte seines Gesichtes nur noch von Fetzen einer blutigen Masse umhüllt, die das wahre, stählerne Antlitz darunter nur unzulänglich verbergen konnte.
Caroline pickte das M-80 auf, als wäre es ein Plastikspielzeug, und warf es Karin zu, die von dem Schwung der schweren Strahlenwaffe beinahe von den Füssen geholt wurde. „Schnell, zu den anderen ins Wohnzimmer! Sie scheinen ernste Schwierigkeiten zu haben.“
Dann riss sie völlig mühelos die Glastür bis auf einen Spalt zu, doch weiter verfolgten sie das nahende Ende des CSM 108 nicht, da erneut ein panisches Kreischen, begleitet von mehreren Feuerstössen, aus dem Wohnzimmer erklang.
Natasha war bereits an der Wohnraumtür, als hinter ihnen eine gedämpfte Explosion erklang und das Haus einen Deut erzitterte. Karin hatte keine Ahnung, was das genau gewesen war, denn sie war voll und ganz von der grauenhaften Szene in Anspruch genommen, die sich ihr bot, als sie ins Wohnzimmer kam.
Es war ein totales Durcheinander, nichts von der Einrichtung stand noch an seinem ursprünglichen Platz. Die Balkontür mit ihrer Stärke von etwa zwei Dezimetern lag wie vermutet auf dem Boden, mit herausgerissenen Angeln; durch die entstandene Öffnung strömte eiskalte Polarluft ins Zimmer. Sessel und Stühle waren willkürlich im Raum verteilt, das Sofa und der Esstisch am anderen Ende des Zimmers waren beide umgeworfen worden und dienten als Barrikaden und Schutzwall, hinter dem Simon, Silke, Dimitri und Aishe Deckung genommen hatten und von wo aus sie ihren Gegner beharkt hatten. Offenbar hatten sie alle ihre Magazine verschossen und hantierten in höchster Eile mit neuen herum. Ein hübsches blondes Mädchen Anfang zwanzig mit klaren blauen Augen und einer schlanken sportlichen Figur in Bluejeans, Pullover und Turnschuhen marschierte unbeirrt auf das Sofa zu, hinter dem Dimitri und Aishe saßen und gerade hektisch nachluden.
Natasha sprang vor und leerte ihr Magazin mit einem gellenden Schrei in den Terminator, der unkontrolliert unter der Wucht der Geschosse hin und herzuckte und in sich zusammensackte, bevor er von den Füssen gerissen wurde und schwerfällig hintenüber kippte. Dabei glaubte Karin, mitten in einem Flashback zu sein, während sie etwas metallenes schimmern sah, wo eigentlich Dutzende von Einschusslöchern hätten sein müssen.
Als sich das Mädchen wieder erhob, erkannte Karin, dass sie viele faustgroße, silbern schimmernde Krater quer über ihrem Oberkörper verteilt aufwies, die wie eine Aufnahme von einem Wassertropfen aussahen, der im Moment des Auftreffens auf eine Wasseroberfläche abgelichtet worden war. Sie musste mit ansehen, wie sich die Einschusslöcher wie von Zauberhand schlossen und ihren netten rosa Pullover unversehrt wieder herstellten. Sie rief panisch: „Wie kann das sein?“
Das musste ein T-1000 sein, dachte Karin beim Abdrücken ihres M-80 und bemerkte kaum einen Rückstoss dabei. Die Wirkung bei ihrem Gegner war dafür umso größer.
Der hochenergetische Lichtbolzen fuhr in sie hinein und bohrte ein Loch durch ihren Bauch, durch das man hindurch sehen konnte, bevor er zischend in einem schwarzen Fleck auf dem Panzerglas der Fenster verpuffte. Völlig unvorbereitet auf diese Art des Beschusses, erstarrte der T-1000 für einen Moment und gab ein entsetzliches Geräusch von sich, das wie Fingernägel auf einer Schiefertafel klang. Nur langsam schloss sich die innen wie Quecksilber aussehende Wunde, als ihr Gegner einen weiteren Schritt auf sie zu tat. Sie schoss erneut, diesmal eine Dreiersalve, die alle handtellergroße Wunden in den Torso des so harmlos aussehenden Mädchens rissen, sich aber nur langsam schlossen. Offenbar besaß der T-1000 eine Art Prioritätenliste, auf dem das Verschließen seiner Wunden im Moment weit unten stand. Stattdessen wandte er seine Energie auf, um vorwärts zu gehen und sein Opfer, denn so betrachtete Karin sich mittlerweile angesichts ihres Gegners, schneller erreichen und terminieren zu können.
Ihre rechte Hand begann zu schimmern, in die Länge zu wachsen und eine sehr spitze und sehr scharfe Schwertklinge zu bilden. Verzweifelt hob sie die Plasmawaffe an und schoss erneut, doch diesmal gab es nur einen dicken, tiefen Krater, wie eine hässliche Einbeulung, als ob der Mechanismus aus Flüssigmetall bereits gelernt hätte, sich der Art des Beschusses anzupassen und dessen Wirkung abzumildern.
„Runter!“ Karin warf sich bei dem Ausruf hinter ihr reflexartig zu Boden und spürte, wie etwas sehr heißes über sie hinwegfegte und mit einem lauten Knall, der ihre ohnehin schon gemarterten Ohren noch zusätzlich betäubte, mitten im Zimmer mit einer kleinen Druckwelle wütete.
Als sie wieder aufsah, war der T-1000 beinahe halbiert. Ein riesiges Loch hatte seine rechte Körperhälfte weggerissen und im Raum verteilt, der Brustkorb war nur noch über einen zehn Zentimeter breiten Streifen Körpermasse am linken Rand seiner Flanke mit dem Unterleib verbunden. Überall im näheren Umkreis lagen kleine Tropfen und richtige Pfützen flüssigen, zähfließenden Metalls, die sich jedoch bereits wieder automatisch auf den Hauptkörper zu bewegten und dabei wie kleine glitzernde Würmer über den Boden und um herumliegende Stühle kullerten. Die einzige Funktion, die sie im Moment erfüllen mussten, war die Verbindung zur Hauptmasse wiederzuerlangen.
„Raus mit euch!“ schrie Caroline mit drängender Stimme. Karin rappelte sich auf und warf einen Blick auf sie. Aus ihrem Unterarm ragte eine schmale, zylindrische und gefährlich aussehende Apparatur, die an ihrem Ende zu glühen schien. Am Übergang zum Ellenbogen befand sich ein Streifen der gleichen metallisch schimmernden Substanz, aus der ihr tödlicher Feind zur Gänze zu bestehen schien. Sie richtete die Öffnung auf den Oberkörper des jungen blonden Mädchens, als es in unheimlichen Tempo wieder zusammenwuchs und über die Füße alle Fragmente in sich aufnahm, sobald diese sie erreichten.
Karin konnte nicht anders, als noch eine Dreiersalve in den Torso des Undings zu jagen, als es sich gerade wieder hergestellt hatte und einen Schritt auf sie zu machte. Ihre Miene entbehrte jeglicher menschlichen Emotion, als ihr Körper von den drei Plasmaimpulsen getroffen und herumgerissen wurde, wobei sie jedoch nur unwesentlich langsamer wurde und die Einschüsse nicht sofort restaurierte.
Dimitri sprang hinter seiner Deckung hervor und entleerte mit wutverzerrter Miene und Tränen in den Augen sein komplettes Magazin in einem unerträglich lauten Hämmern seines vollautomatischen Colt CAR-15 in die Flanke des T-1000. Dabei schrie er etwas unverständliches und musste dann von Silke und Simon regelrecht aus dem Raum geschleift werden, da er Anstalten machte, sich auf den Cyborg stürzen zu wollen. Der allgemeine Rückzug verlief davon abgesehen recht ordentlich, während der erneut von der puren kinetischen Energie des Mahlstromes an Vollmantelgeschossen durchsiebte Terminator wieder für eine Sekunde gestoppt worden war. Der Körper begann jedoch sich zu reparieren und wurde bei jedem ihrer Angriffe effizienter darin, als ob er sich allmählich an den Beschuss anpassen würde.
Karin war beim Hinausspurten klar geworden, dass man dieses Ding nur immer wieder verlangsamen oder aufhalten konnte, jedoch nicht wirklich zerstören. Seine Einzelteile fügten sich stets aufs Neue zusammen, unermüdlich und unerbittlich auf sein Ziel ausgerichtet, seine Gegner zu vernichten.
Kaum war Karin als letzte aus dem Raum, als Caroline sich im Türrahmen aufbaute und sich an der Spitze ihres „umgebauten“ Armes eine tennisballgroße Kugel aus reiner Energie zu bilden schien. Sie feuerte sie mit einem kleinen, scharfen Geräusch wie von zerreißendem Papier ab, wobei das Plasmageschoss auf seinem kurzen Weg durch das weitläufige Wohnzimmer durch die enorme Hitze auf seiner Flugbahn die Luft wabern ließ. Alle sprangen zurück und erlebten einen Moment später eine weitere Explosion, die jedoch hauptsächlich von Carolines Körper in der Tür abgehalten wurde.
Ohne zu zögern marschierte sie darauf in den Raum, worauf Karin und Silke um den schwach rauchenden Türpfosten herum spähten. Diesmal war der polimimetische Flüssigmetallkörper vom Treffer der Plasmakanone sauber in zwei Hälften gesprengt worden, die sich mangels Alternativen beide zu großen Klumpen verflüssigten und wabbelnd wie zwei riesige Tropfen Quecksilber aufeinander zukrochen. Furchtlos versuchte Caroline einen von ihnen weg zu treten, versetzte ihn aber nur in eine Drallbewegung, worauf er unbeirrbar weiter auf seinen zweiten Teil zueierte.
Kaum waren beide mit einem satten Schmatzen vereint, da erhob sich langsam die silberne Gestalt und nahm in Windeseile menschliche Gestalt an. In Sekundenbruchteilen konnte man beobachten, wie sich mehr Details ausbildeten, bis die fein ausgearbeiteten Konturen wieder Farbe und Struktur bekamen und das nett aussehende blonde Mädchen völlig unversehrt vor ihnen stand.
Im selben Augenblick, in dem sie feste Gestalt annahm, packte Caroline sie und schleuderte sie quer durch den Raum gegen die Rückwand des Zimmers. Sie prallte auf, verlor eine Sekunde ihre feste Konsistenz und trug dadurch keinen weiteren Schaden davon. Jetzt würde es hart auf hart kommen.
Mit wenigen Sätzen war die Blondine bei ihr und stieß ihr aus vollem Lauf beide ausgestreckte Arme gegen die Brust. Caroline flog durch das Zimmer und knallte gegen das dicke Panzerglas der Fenster. Das Glas erzitterte und bekam Risse, hielt aber stand, sodass sie nur einfach zu Boden fiel, wo sie dem T-1000 aus dem Liegen heraus den nächsten Schuss aus der Plasmakanone verpasste. Und wieder wurde der Oberkörper ihres Gegners auseinander gerissen, fiel in faustgroßen Klumpen zu Boden und verflüssigte sich umgehend, um sich wieder zu einer einzigen Masse zusammen zu fügen.
Der T-1000 erhob sich wiederum und bildete sein Äußeres aus, griff dabei aber überraschend hinter einen der klobigen Sessel und förderte eine M-16 zutage, die dort gelegen hatte. Bevor Caroline reagieren konnte, wurde sie von einem Feuerstoss getroffen, worauf ihr Brustkorb und linker Arm von vielen Einschlägen übersät wurde. Karin schrie auf, doch im Gegensatz zum T-1000 schien ihr der Beschuss fast gar nichts auszumachen. In Windeseile waren die vielen silbern glänzenden Einschlagslöcher in ihrem Körper wieder abgedichtet und auch die Wucht der Geschosse hatte sie kaum erzittern lassen, so als schüttele sie die Kugeln ab wie lästige Insekten. In diesem Moment wurde ihr klar, dass dieser T-X namens Caroline das am weitesten entwickelte Kriegsgerät war, das je existiert hatte.
Dummerweise hatte der T-1000 sich die Ablenkung durch den Beschuss auf Caroline zunutze gemacht und packte sie nun am Kragen, um die viermal leichtere Gegnerin mit voller Wucht gegen die Zimmerwand zu werfen. Wieder krachten die Bretter der Verkleidung und fielen in einem großen runden Fleck zermalmt zu Boden, während Caroline niederkam, nur um in der folgenden Sekunde scheinbar unversehrt wieder auf die Beine zu kommen.
„So wird das nichts“, murmelte Caroline zu Karins grenzenlosem Erstaunen, als habe sie lediglich ein kniffliges Problem zu lösen. „Ich kann sie unbegrenzt in Stücke blasen und sie wird sich immer wieder herstellen. Entweder lässt irgendwann ihre Fähigkeit zur Redundanz nach oder sie kloppt mich zu Brei, wenn sie die Gelegenheit dazu erhält. Dann ziehen wir eben andere Seiten auf.“
Inzwischen wurde die Blondine von Dimitri aufgehalten, denn dieser hatte Simon seine Kalaschnikow entrissen, sprang kurz ins Zimmer und beharkte den Feind mit einem vollen Magazin, bis dessen Torso und Kopf wieder einer Mondlandschaft glich und er hintenüber zu kippen drohte.
In diesem Moment trat Caroline von hinten an ihre Nemesis heran. Der Zeigefinger ihrer anderen Hand war ebenfalls von dem polimimetischen Überzug befreit worden und offenbarte einen ausfahrbaren Fortsatz, der ellenlang war und sehr spitz zulief. Sie rammte diesen tief in den Rücken des T-1000, während dieser noch bei seiner Widerherstellung war. Mit mehreren blauen Blitzen schoss etwas Undefinierbares ihren Finger entlang in den Leib ihres Gegners und ließ diesen erstarren. In einem Reflex riss das blonde Mädchen einen Arm herum und fegte Caroline damit weg von ihr.
Doch dann geschah etwas seltsames: der Terminator begann zu zucken und sich zu schütteln und kreischte auf markerschütternde Weise, als würde er starke Schmerzen verspüren, was natürlich unmöglich war. Dennoch gewann man den Eindruck, das Kunstwesen würde Leid erfahren, denn es sank auf die Knie, fuhr fort zu wimmern, unkontrolliert zu zucken und verlor schnell an Konsistenz. Allmählich konnte man keine menschlichen Konturen mehr erkennen, als er in sich zusammensackte und schließlich eine Form annahm, die Karin aufs höchste überraschte.
„Was ist denn jetzt passiert?“
„Ich besitze die Fähigkeit, in andere elektronisch gesteuerte Maschinen jeder Art Nanotechnologie einzuspeisen und deren Steuerung zu übernehmen. Da der Speicher und die Kontrollrechner beim T-1000 ebenfalls über diese winzig kleinen Steuereinheiten im gesamten Körper verteilt sind, konnte ich ihn problemlos infiltrieren und stilllegen.“ Caroline fuhr den spitzen langen Finger wieder ein und ließ ihre Hände sich wieder in den ursprünglichen Zustand zurück versetzen.
„Und was hast du mit ihm gemacht?“ wollte sie wissen, während auch Dimitri und Silke zaghaft den verwüsteten Raum betraten.
„Ich habe sozusagen <Format C:> gedrückt, das heißt, seinen Speicher gelöscht. Ohne jede Form von Kontrolle ist er wegen der ungeheuren Oberflächenspannung des Flüssigmetalls nur noch das, was du hier siehst.“ Sie lächelte nicht. Dieser ganze unglaubliche Kampf hatte keine neunzig Sekunden gedauert, während der niemand Zeit zum Nachdenken gehabt hatte, während alle ums nackte Überleben gekämpft hatten.
„Eine hübsche glänzende Kugel mit einem halben Meter Durchmesser?“ fragte Silke und hastete in den hinteren Teil des Raumes, dicht gefolgt von Dimitri, dessen Miene Leid und Trauer ausdrückte.
„Und einem Gewicht von über einer halben Tonne. Ja, Metall ist schwer, auch so eine polimimetische Legierung.“ Caroline sah zu ihren beiden Schützlingen hinüber, die sich über eine Reihe von umgeworfenen Stühlen beugten, um dahinter sehen zu können.
Dimitri warf einen Stuhl beiseite und begann zu schluchzen. Entsetzt beobachtete Karin, wie er den schlaffen, blutbefleckten Körper von Ana aus der Ecke herauszog und weinend in den Armen wiegte. Silke stand einen Meter rechts neben ihr und hielt sich eine Hand vor den Mund. Ihre Schultern begannen zu zucken und sie warf sich plötzlich herum, um zu Karin zu stürmen und sie fest zu umarmen.
„Oh, meine liebe Kleine, es tut mir so leid. Niemand hat so etwas verdient. Es tut mir so leid...“ Indem sie völlig bewegungsunfähig in Silkes Umarmung hing, wurde ihr plötzlich etwas bewusst. Die Erkenntnis traf sie wie ein Blitzschlag. Alles in ihr bäumte sich auf.
„Bernd!“
Sie versuchte sich von Silke zu lösen, doch die viel größere und kräftigere Schweizerin lockerte ihren Griff nicht, um sie davon abzuhalten, hinter die Sichtblende aus umgeworfenen Möbeln zu sehen. Dabei fiel es ihr immer schwerer, Karin zu halten, da diese jetzt schier übermenschliche Kräfte entwickelte, um zu ihrem geliebten Freund zu gelangen. Beschwichtigend sagte Silke: „Tu das nicht, Karin. Du musst das nicht sehen. Behalte ihn dir in Erinnerung, wie er vorher war.“
Irgendwie schaffte sie es doch, sich loszureißen und zu ihm zu stürzen. Als sie ihn erblickte und erkennen musste, was ein zum gnadenlosen Töten programmierter Kampfroboter aus frei formbarem Flüssigmetall mit einem Menschen anstellen konnte, blockierte ihr Verstand und sie weigerte sich innerlich, das zu glauben, was sie sah. Das war nicht mehr er, nur noch eine übelst zugerichtete leblose Hülle.
Aus weiter Ferne, wahrscheinlich aus dem Keller, waren Schüsse und Geschrei der anderen zu vernehmen. In diesem einsamen Moment, wo die Welt um sie herum kalt und grau wurde, war es ihr vollkommen gleichgültig, was nun geschehen würde. Sie war gerade in ein tiefes rabenschwarzes Loch geworfen worden.
Ihr Unterbewusst sein erwies ihr die Gnade, in Ohnmacht zu fallen. Ihr wurde schwarz vor Augen und sie fiel in die Arme von Caroline, die nun wieder beide Hände zur Verfügung hatte, um sie sanft aufzufangen und in ihr Bett zu tragen. Sie bekam nichts mehr von dem kurzen Rest des Kampfes mit, der sich schnell entschied, sobald Daniel zurück zum Haus geeilt war.
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Hallevik, Insel Rolla, Troms Fylke, Norwegen 24. März 2005
Wie aus einem schlimmen Alptraum gerissen fühlte sich Karin, als sie am nächsten Morgen aufwachte. Zu ihrer Überraschung fand sie sich im oberen Bett der Krankenstation wieder, deren untere Liege vom verletzten Nicolas Fraisier eingenommen wurde. Und noch verblüffender war die Tatsache, dass Natasha bei ihnen im Raum auf einem Stuhl zusammengesunken saß und schlief. Sie schien die ganze Nacht über sie gewacht zu haben.
Einen Moment lang betrachtete sie ihre alte Freundin, wie sie da in einem schwarzen Pullover, olivgrünen Militärhosen und –stiefeln vor sich hin döste. Wenn ihr jemand vor einem Jahr erzählt hätte, dass sie einmal ständig in solchen Klamotten herum laufen würde, hätte sie ihn bestenfalls für verrückt erklärt. Und jetzt...
Ja, jetzt...
Die Grausamkeit der Realität holte sie ein und traf sie unvermittelt. Mit einem Mal strömten ihr die Tränen aus den Augen und sie begann hemmungslos zu schluchzen. Dadurch weckte sie Natasha, was sie eigentlich hatte vermeiden wollen, doch sie konnte nicht mehr aufhören.
Beruhigend legte sie eine Hand auf Karins Schulter und zog sie an sich in eine freundschaftliche Umarmung: „Shhh. Weine nur, Mädchen. Das ist das einzige, was du jetzt noch tun kannst. Lass den Schmerz raus.“
„Das ist so... so grausam und... und un... ungerecht, Nati. Warum er? Warum?“ schluchzte sie haltlos und klammerte sich verzweifelt an ihre Freundin.
„Ich weiß es nicht. Aber es war schnell vorbei, er hatte kein Leid zu ertragen, sagen die anderen. Genau wie Ana.“
„Oh Gott, wir haben auch sie verloren. Ich habe sie so sehr gemocht, Nati.“ Erneut bebten Karins Schultern stärker.
„Es war ein harter Kampf, doch wir haben ihn überstanden. Auch wenn der Preis schrecklich hoch war und es uns unendlich schwer fallen wird, müssen wir nach vorne blicken. Wir haben noch vieles vor uns und ich glaube, wir werden noch viele Freunde und geliebte Menschen unter schrecklichen Umständen verlieren und betrauern.“ Sie löste Karin aus ihrer Umarmung und sah sie aus Armeslänge mit ihren klaren, hellen Augen an. Ihr Blick zeugte von einer inneren Ruhe und Stärke, die sie vor Beginn ihres neuen Lebens nicht besessen hatte. Er strahlte Zuversicht und Sicherheit aus und machte sie zu einer Persönlichkeit, der man blind vertrauen konnte.
Und Karin war in diesem Moment unsäglich stolz auf ihre Freundin.
„Ich kann es noch gar nicht fassen. In einem Moment scherzt man noch miteinander, dann gibt es einen Knall und man kann nie mehr mit ihm reden. Es ist so ungerecht, so plötzlich gehen zu müssen, ohne jede Vorwarnung. Als wir uns das letzte mal gesehen haben, haben wir uns geneckt und er wollte... aber ich habe ihn auf eine naive, spielerische Art abgewiesen. Hätte ich doch nur...“ Ihre Stimme versagte und bittere Tränen der Frustration und des Ärgers auf sich selbst rollten über ihre Wangen. „Ich konnte mich nicht einmal von ihm verabschieden.“
„Das wirst du noch können. Sobald du wieder auf den Beinen bist, werden wir Ana und ihn bestatten.“
„Bestatten? Wie denn das? Der Boden ist doch knochenhart gefroren.“ Karins Brauen hoben sich zweifelnd, als sie die Beine über die Bettkante schwang, um aufzustehen. Ihr kam zu Bewusstsein, wie pragmatisch sie schon wieder dachte und ihre großen hellbraunen Augen füllten sich wieder mit Tränen, worauf Natasha sie erneut trostspendend in die Arme nahm.
„Wart’s ab. Ich bin sicher, es würde ihnen gefallen haben.“
Hallevik, Insel Rolla, Troms Fylke, Norwegen 26. März 2005
Die Reparaturen am Haus hatten Tage der Mühsal und Entbehrungen von ihnen allen gefordert. Das Schlimmste war natürlich die Panzerglastür im Wohnzimmer, die sie nicht so ohne weiteres ersetzen konnten. Sie behalfen sich damit, die Tür wieder einzusetzen und provisorisch abzudichten. Dadurch wurde der Balkon zwar unbenutzbar, was jedoch keinen allzu großen Verlust darstellte. Sie stapelten die zertrümmerten Stühle und Bretter der Wandverkleidungen dort und rollten die Kugel auskristallisierten Flüssigmetalls hinaus, die einmal der T-1000 gewesen war, bevor sie die Tür versiegelten, sodass der nun verschenkte Raum wenigstens einen Zweck erfüllte.
Der Generator war nur oberflächlich verstopft worden, gerade genug, um den Ausfall des Aggregates sicherzustellen. Sie hatten ihn in kürzester Zeit wieder zum Laufen gebracht und bekamen somit wieder Strom.
Mit großem Bedauern mussten sie einsehen, dass Alex irreparabel beschädigt war. Er musste so unglücklich gestürzt sein, dass er aus über zweihundert Metern freiem Fall direkt auf den Felsen am Fuß des Berges gestürzt und regelrecht zerschellt war. Wenigstens konnten sie, nachdem sie seine organische Hülle entfernt hatten, wenigstens einen kleinen Teil seiner Komponenten als Ersatzteile verwenden, falls Abbey oder Daniel sie einmal benötigen würden, weil nur ein gewisser Prozentsatz der Technik des älteren T-800 für sie geeignet war. Zusammen mit dem im Kellerdurchgang zur Garage gestellten und überwältigten T-880 der Serie TSR 301 und dem auf Öland gefangenen waren das jetzt immerhin drei Terminatoren, auf deren Komponenten sie im Ernstfall zurückgreifen konnten.
Das Loch im Boden des Flurs war relativ leicht zu flicken, doch den Abdruck des feindlichen T-880 in der Wand neben der Luftschleuse des Vordereingangs ließen sie als Erinnerung an diesen schicksalhaften Tag unangetastet. Sie hatten viel verloren, aber auch an Entschlossenheit und Zusammenhalt in der Gruppe gewonnen. Die Luftschleuse hatte etwas abbekommen, als Caroline darin mit ihrer Plasmakanone den T-880 der Serie CSM 108 zerstört hatte. Von ihm war nicht viel übrig geblieben, was man hätte verwerten können. Seine Energiezellen allerdings hatte der T-X mit voller Absicht unversehrt gelassen. Sie konnten zum Laden der Energiezellen der Plasmaimpulswaffen verwendet werden, so wie sie es mit denen des ersten gefangenen Terminators getan hatten und so über funktionierende Strahlenwaffen verfügt hatten, während sich diejenigen der Angreifer zu deren großer Überraschung als unbrauchbar erwiesen hatten. Caroline hatte das so erklärt, dass es normalerweise nie vorkam, dass ein Terminator mit Waffe so lange im Feld blieb, dass die Energiezelle seines M-80 überhaupt die Gelegenheit bekommen konnte, sich zu entladen. Deshalb hatten die Terminatoren von Skynet keine Daten darüber gehabt, während den Rebellen, die Daniel und Abbey programmiert hatten, diese Tatsache von erbeuteten Strahlenwaffen her sehr wohl bekannt gewesen war, da sie nicht über die Infrastruktur verfügten, die vom Feind erbeuteten Lasergewehre aufzuladen.
Im Keller waren nur ein paar Kratzer im unterirdischen Durchgang vom Haus zur Garage auszubessern, wo der Terminator der Serie TSR 301, ergo der mit dem Aussehen von Abbey, einzudringen versucht hatte. Nachdem er hatte feststellen müssen, dass sein M-80 nicht mehr funktionierte, verschoss er noch zwei volle Magazine aus seinem Sturmgewehr während seines Versuches, von der Garage aus in die Kelleretage einzudringen. Daniel, der durch die Garage in die unterirdische Passage gelangt war, überwältigte seinen Feind von hinten durch die Booster-Funktion seiner getunten CPU. Da er dadurch stärker und schneller war als das von Skynet geschickte ‚Serienmodell’, gelang es ihm, die TSR 301-Serie von hinten in eine Umklammerung zu nehmen, die er nur so lange aufrecht zu erhalten brauchte, bis Abbey heran war, den Brustkorb des feindlichen T-880 geöffnet und deren Energiezellen entfernt hatte. So gereichte ihnen diese von den Rebellen ersonnene Technik im direkten physischen Zweikampf zum klaren Vorteil gegenüber ihrem Widerpart.
Ferner war da noch das Schloss eines Garagentors, das der TSR 301 zerstört hatte, als er sich gewaltsam Zutritt verschafft hatte. Sie konnten von Glück reden, dass er nicht noch alle ihre Fahrzeuge zerstört hatte, denn Gelegenheit dazu hätte er gehabt. Aber offenbar hatte ihr Feind seinen Plan für so narrensicher gehalten, dass sie die Autos wahrscheinlich zur Requirierung und zur Eigenbenutzung vorgesehen hatten, nachdem sie alle terminiert worden wären.
Womit sie nicht gerechnet hatten, war die Anwesenheit des T-X innerhalb ihrer Gruppe. Als sie sich heute zum Mittagessen zusammensetzten, lehnte Caroline wie stets seit einer Woche, seit ihrer Enttarnung, an der Wand des Wohnzimmers und sah ihnen beim Essen zu, bis Aishe fragte: „Willst du dich nicht zu uns setzen, auch wenn du nichts zu Essen brauchst? Du bist keine Ausgestoßene, nur weil wir jetzt deine Identität kennen.“
„Ja, und schließlich hast du ja auch früher schon nur sehr wenig gegessen“, fügte Shin kauend hinzu.
„Ich habe ein schlechtes Gewissen, dass ich mit an euren knappen Vorräten gezehrt habe, nur um meine Tarnung aufrecht zu erhalten. Ich fühle mich sehr eigennützig deshalb“, gestand sie ein.
„Hör doch auf, das hat uns doch schlussendlich das Leben gerettet“, begehrte Simon auf. „Ohne das Überraschungsmoment deiner Anwesenheit, das ihres zunichte gemacht hat, wären wir alle wahrscheinlich tot.“
„Gut, das mag stimmen. Andererseits basierte der Zeitplan ihres Angriffes allein darauf, dass sie durch den sabotierten Generator erst einen der Terminatoren hinauslocken und neutralisieren konnten, um dann zuzuschlagen, wenn der zweite nach dem Rechten sehen würde und nur noch einer von ihnen im Haus geblieben war. Wenn sie gewusst hätten, dass ein T-X hier wäre, hätten sie sich gehütet, uns jemals hier anzugreifen. Ich bin nicht zuletzt für den Zweck konstruiert worden, feindliche Terminatoren zu neutralisieren. Sie konnten ja nicht ahnen, dass dem Widerstand ein T-X in die Hände gefallen war und sich genau hier in diesem Zeitrahmen befindet.“
„Wie kam das eigentlich, dass du...?“ Silke hielt plötzlich inne, als ihr ein Gedanke kam. Sie zeigte mit dem Messer auf sie und sagte mit halbvollem Mund: „Warte mal. Wenn ich das richtig verstanden habe, musst du physischen Kontakt mit der Person gehabt haben, deren Aussehen du annehmen willst. Heißt das etwa...?“
Caroline sprang aus ihrer lässigen Haltung auf. „Um Himmels Willen, nein! Ich bin hier, um euch zu beschützen! Wie kannst du nur denken, ich hätte die echte Caroline terminiert, nur um ihren Platz einnehmen zu können?“
Silke sah auf ihre Hände hinab. „Tut mir leid. Aber wie hat sich das Ganze denn dann zugetragen?“
„Ich war unterwegs, um sie mitzunehmen und euch in Freiburg zu treffen, schließlich kannte auch ich durch den Bericht von NMF-2210, eurem ersten ‚Alex’, euren Treffpunkt im Auwald bei Freiburg und eure gesamten Aktivitäten zwischen dem 2. und 4. Juli des letzten Jahres. So wollte ich ursprünglich Caroline aufsammeln, doch dann musste ich erkennen, dass ich zu spät gekommen war. Den Entschluss, ihr Aussehen anzunehmen und mich direkt in die Gruppe einzuschleusen, hatte ich erst gefasst, als ich dort in ihrem Zimmer über ihrer sterblichen Hülle stand. Das große Problem dabei war, dass zwar ihr nichts davon wusstet, unsere Gegner aber sehr wohl, da einer von ihnen eben Caroline terminiert hatte und nur zwei und zwei hätte zusammenzählen müssen, sobald ich bei euch in ihrer Gestalt aufgetaucht wäre.“
Sie wandte sich an die ganze Gruppe und fuhr fort: „Es galt also, genau diesen einen Terminator aufzuspüren, bevor er mit den anderen seiner Gruppe kommunizieren konnte und so allen ihre Terminierung bestätigen konnte. Dabei kam mir zugute, dass sie ebenso wie wir auch absolute Funkstille halten mussten, um uns nicht eventuell ihre Position und Stärke zu verraten, was einen gravierenden strategischen Nachteil bedeutet hätte. Ich errechnete aufgrund des Verteilungsschemas der aufzuspürenden Ziele, der Größe der Städte, in denen sie lebten und der damit verbundenen Schwierigkeiten, sie dort aufzuspüren, sowie einer Unzahl anderer Parameter, das wahrscheinlichste Suchschema der gegnerischen Gruppe und kam bei allen Varianten auf das Ergebnis, dass genau die Einheit, die Caroline terminiert hatte, als nächstes nach Freiburg gehen würde, mit sehr großer Wahrscheinlichkeit um denjenigen zu unterstützen, der Simon im Visier hatte. Das war demnach mein Ziel. Und da ich Natashas richtigen Namen wusste und der Feind glücklicherweise nicht, hatte ich den Vorsprung, den er bei der Suche nach ihr hatte, wieder aufgeholt. Ich habe ihn erwischt, kurz nachdem er aus ihrer Wohnung kam. So erfuhren die anderen Terminatoren nichts von Carolines Terminierung und mussten annehmen, sollten sie mir später einmal begegnen, dass er seinen Auftrag nicht hatte ausführen können.“
„Da fällt mir gerade ein: was hat es eigentlich mit meiner obskuren Namensänderung auf sich? Dass ich mich in Zukunft Maja Maranoff nennen soll oder werde, nach meinem zweiten Vornamen und dem Mädchennamen meiner Mutter? Die Namenswahl an sich ist eigentlich in Ordnung, aber das ganze ist mir ehrlich gesagt ziemlich suspekt.“ Sie sah den T-X etwas hilflos an.
„Ich kann nur vermuten, dass du um diese Änderung nicht herumkommen wirst, bis du in den Widerstand eintreten wirst. Offenbar warst du das exponierteste Ziel, weshalb auch immer, sodass du ohne diesen neuen Namen noch schneller aufzufinden gewesen wärst und mit Sicherheit terminiert worden wärst. Vielleicht schließe ich diese nette kleine Zeitschleife in genau diesem Moment, wenn ich dir hiermit sage, du musst deinen Namen so schnell wie möglich ändern, um deine Identität in der Vergangenheit zu schützen.“
„Ja, ich werde darüber nachdenken. Wahrscheinlich kommt der Augenblick der Entscheidung irgendwann von selbst. Wenn es soweit ist, werde ich es erkennen.“ Natasha nickte versonnen.
„Wenn ich darüber nachdenke, ergeben sich für mich einige Zeichen, die darauf hingedeutet haben, dass du ein Terminator bist. Zum Beispiel bei deinen gespielten Fluchtversuchen vor dem ersten Alex bei Freiburg hast du dich nie stark gewehrt, sobald du dich einfangen gelassen hattest. Denn dann hätte er merken können, dass du sehr viel stärker bist, als es den Anschein hatte.“ Simon trumpfte auf und fuhr nach einem Moment des Nachdenkens fort: „Und deshalb hast du dich auch nicht von den Terminatoren im Hochhaus von einem Stockwerk in das andere heben lassen. Sie hätten sofort gemerkt, wie schwer du in Wirklichkeit bist.“
„Das ist richtig“, bestätigte Caroline, „doch am haarigsten war es im Hausflur vor Shins Wohnung in Erfurt. Ich hatte mich in die Schussbahn des TSR 301-Modells geworfen, als der eine Uzi auf uns abfeuerte. Die ersten Kugeln trafen alle mich, während ich Aishe und Natasha umwarf, den Rest bekam Alex ab. Niemand hatte gemerkt, dass ich getroffen worden war, doch meine Jacke, das einzige echte Kleidungsstück an mir, war von den Kugeln durchsiebt. Deshalb habe ich sie auch im Haus lassen müssen, unter dem Vorwand, sie in der Hitze des Gefechtes schlicht vergessen zu haben, damit das niemand merken konnte.“
„Und wie war das beim Safehouse in Öland? Niemand hatte auch nur den blassesten Schimmer davon, dass du zur Zeit des Gefechtes nicht im Haus warst“, stellte Shin ein wenig ratlos fest.
„Wir sind von drei Seiten her angegriffen worden. Ich habe mich durch mein Zimmerfenster geworfen und so schnell wie möglich zum Meer hin bewegt, um den Kampf am Strand entlang zu umgehen und mich von außen her, von der anderen Seite der kleinen Dünenkette den Feinden zu nähern. Den ersten habe ich eiskalt aus dem Hinterhalt erwischt. Nach meinem ersten Treffer war er deaktiviert und ist an der Stelle liegen geblieben, an der ich ihn erwischt habe. Dann habe ich den schon beschädigten weiblichen T-880 aus größerer Entfernung zweimal angeschossen, worauf auch dieser immobilisiert war. Den habt ihr dann später gefunden.
Als ihr gemerkt habt, dass ich eingegriffen habe und die beiden anderen einen strategischen Rückzug angetreten hatten, ist der zuerst von mir getroffene männliche T-880 wieder in Aktion getreten, was mir gerade recht kam. Er war kaum auf den Füssen und bot mir somit ein Ziel, als ich auch schon auf kürzeste Distanz einen Volltreffer auf seinen Brustkorb gelandet habe. Die Beschädigung durch meinen ersten Schuss hatte ausreichend Vorarbeit geleistet, um seine Panzerung zu durchschlagen und seine Brennstoffzellen explodieren zu lassen. Ich konnte mich gerade noch rechtzeitig in einer Kuhle zu Boden werfen. Die Detonation stiftete glücklicherweise genügend Verwirrung, um mich gerade noch unerkannt rechtzeitig in mein Zimmer zurück kehren zu lassen. Als ich merkte, dass ihr bereits beim ‚Durchzählen’ wart, habe ich mich als traumatisiert ausgegeben, damit es nicht weiter Argwohn erregen konnte, dass ich mich nicht gleich gemeldet hatte.“
„Schlau, schlau. Aber du bist auch einige Risiken für die Gruppe eingegangen, um deine Tarnung aufrecht zu erhalten, findest du nicht?“ forderte Aishe Rechenschaft von ihr.
„Ich habe stets versucht, die Risiken abzuwägen und so klein wie möglich zu halten. Worauf genau beziehst du dich?“
„Ein Beispiel aus jüngerer Zeit: als wir nach der Rettung von Nicolas die Fracht des Sea King bergen wollten, haben Abbey und Daniel bewusst nur Shin, mich und dich als Crew mitgenommen, weil wir die leichtesten in der Gruppe sind und damit mehr Güter hätten transportieren können. Und da sie dein Gewicht mit fünfzig Kilogramm angesetzt haben, wären wir fast mitsamt dem Hovercraft abgesoffen, als wir die gesamte Fracht an Bord hatten und alle eingestiegen sind. Und da keiner von euch Terminatoren schwimmen kann, hättet ihr uns auch nicht helfen können, wenn wir in der eiskalten See gelandet wären. Was glaubst du, wie lange kann ein Mensch in zwei Grad kaltem Wasser überleben? Ein paar Minuten vielleicht?“
„Das Griffon hat genug Reserven, um das aufzufangen, dessen war ich mir sicher, denn ich war es schließlich, der es beschafft und eigenhändig überholt hat. Seitdem hat der Motor acht PS mehr, läuft wie geschmiert und verträgt im Notfall auch etwas mehr als die werksseitig zugestandene Tonne Ladung. Ich habe darauf vertraut, dass Daniel die Überladung schnell genug am Verhalten des Bootes bemerkt, um euch wieder Fracht abwerfen zu lassen und in den grünen Bereich zurück zu gelangen.“
„Eiskalt kalkuliert, würde ich sagen“, gestand Shin ihr widerwillig mit grimmiger Miene zu. „Mir kommt gerade in den Sinn, dass Daniel während der Fahrt hierher einmal zu mir gesagt hat, unser Volvo fühle sich vom Ansprechverhalten des Motors und dem Fahrverhalten her überladen an, obwohl er es eigentlich nicht sein dürfte. Und du bist immer auf der rechten Seite hinten gesessen, damit das Fahrzeug keine ‚Schlagseite’ wegen ungleichmäßiger Beladung bekommen konnte. Es bleibt anscheinend immer am hohen Gewicht hängen, nicht wahr?“
“Der große Schwachpunkt bei meiner Konstruktion.“ Caroline zuckte mit den Schultern und lächelte schief.
„Darf ich etwas fragen?“ druckste Karin zögerlich herum und wartete auf Carolines Nicken, bis sie fortfuhr. „Wie war das mit Bernd? Ich meine, warum hast du zuerst mit ihm... sagen wir ‚kokettiert’, um ihn dann doch abzuschießen? Glaubst du, er hätte etwas merken können?“
„Ja. Dieses Risiko war schlicht zu hoch. Bei einem Menschen, der nichts von der Existenz von Terminatoren ahnt und nicht auf so einen Gedanken kommen konnte, hätte ich mich sicher vor Entdeckung gefühlt. Aber so hatte die gefahr bestanden, dass er gewisse Zeichen hätte richtig einordnen und einen Verdacht hegen können. Er war zu gut, um es nicht zu merken und kurz davor, mir auf die Schliche zu kommen“, gab Caroline zu. Ihr Gesicht drückte dabei fast schon Bedauern aus.
„Aber alles in allem war deine Tarnung so perfekt wie nur möglich. Wenn wir darüber nachdenken, finden wir sicher noch Dutzende von kleinen Hinweisen, die einzeln betrachtet alle harmlos sind, doch insgesamt darauf hinweisen würden, dass da etwas nicht gestimmt hat“, resümierte Aishe.
„Für mich ist es dennoch wichtig, dass ihr mich nicht als Maschine seht.“ Mit bangen Blicken musterte sie die Gesichter der Gruppe.
Natasha erhob sich und ging zu ihr, um sie mit gestreckten Armen an den Schultern zu packen und sie anzusehen. „Ich glaube ich spreche für alle, wenn ich sage, dass du uns dafür schon viel zu sehr ans Herz gewachsen bist. Allein Abbey und Daniel sind schon eher Freunde und Kameraden als nur Roboter. Sie sind unsere Mentoren und Beschützer, aber du bist mehr als das.“
Caroline war sichtlich gerührt. „Danke, Natasha. Es ist mir sehr wichtig, dass du so denkst.“
„Wir alle tun das, nicht wahr, Leute?“ krähte Shin übermütig und erntete zustimmendes Gemurmel.
Karin sah recht nachdenklich drein, als sie nachhakte: „Eine Sache noch, Caroline.“
„Ja?“ Sie sah auf, ungewiss über die nächste Frage, da sie eigentlich angenommen hatte, das ‚Verhör’ sei vorüber gewesen.
„Wir haben gelernt, dass jeder Terminator, nachdem er aktiviert wurde, immer erst aus eigener Erfahrung den Beschuss von Feuerwaffen erleben und den Umgang damit, also die Kompensation der Einschläge, bewältigen muss. Bei dir hatte ich allerdings den Eindruck, du würdest es kaum merken, als der T-1000 dich mit einer vollen Breitseite beharkt hat. Hat das mit deiner überlegenen Konstruktion zu tun?“
„Nein, durchaus nicht. Ich hatte gehofft, es nie erwähnen zu müssen, aber ich habe während meiner Zeit hier auch einige düstere Episoden erlebt, auf die ich nicht gerade mit Stolz zurück blicken kann. Und dieser Umstand, den du erwähnt hast, hat seinen Ursprung in einer dieser Episoden. Du hast recht, Karin, auf mich sind schon mehr Geschosse abgefeuert worden als bei unserem gesamten Kampf gegen die Eindringlinge letzte Woche.“
„Was? Wie kommt denn das?“, wollte Shin wissen.
„Nun, es war schon vor langer Zeit, als ich mich dazu entschieden habe, dass ich gewissermaßen Übung in dieser Disziplin haben sollte, wenn es dereinst hart auf hart kommen sollte. Heute bin ich froh über diese Entscheidung, da sie mir den Luxus erlaubt hat, während des Kampfes mit dem T-1000 alle Kugeln elegant einzustecken, ohne hintenüber zu kippen.
Aber beim ersten Mal ist es doch ziemlich hart gewesen. Natürlich kann ich mich noch genau daran erinnern. Ich habe ein sehr großkalibriges Geschoss aus einem schweren Maschinengewehr einstecken müssen, das einen Menschen in Stücke gerissen hätte. Es hat mich getroffen wie ein Dampfhammer und ich habe tatsächlich ein paar Sekunden alle Viere von mir gestreckt. In der allgemeinen Verwirrung ist zum Glück damals keinem aufgefallen, dass ich wieder aufgestanden bin und weitergemacht habe, aber ich war...“
„Halt, halt, halt!“ unterbrach Natasha sie ein wenig ungnädig. „Deine nostalgische Wehmut in allen Ehren, aber willst du uns nicht kurz erklären, wie und wo du dazu gekommen bist, dich beschießen zu lassen, mehrmals, wenn ich das richtig verstanden habe, ohne dass jemals irgend jemandem aufgefallen ist, dass du unverletzt geblieben bist?“
„Gut, aber es wird euch nicht gefallen. Sagt euch der Name ‚Davy Crockett’ irgendwas?“
Dimitri horchte auf. „Die kleinste je gebaute, tragbare Atombombe der Amerikaner für Feldeinsätze? Ja, ich habe sie erwähnt, als wir im Safehouse auf Öland attackiert wurden, aber was hat das mit...?“
„Nein, nein, nicht dieser Davy Crockett“, winkte Caroline ab, „die Person mit historischem Bezug. Die Legende von Davy Crockett.“
„Der furchtlose amerikanische Nationalheld, der im Krieg gegen die Mexikaner in der Schlacht um Fort Alamo gefallen ist?“ mutmaßte Simon.
„Ganz genau der“, lobte Caroline, schwächte jedoch gleich wieder ab, „jedenfalls so ungefähr. Ich glaube, ich beginne am besten mit der Problematik, der ich mich gegenüber sah. Ich war also in der Vergangenheit gestrandet, hatte mich gerade halbwegs in den USA eingelebt und die Kuba-Krise Anfang der Sechziger Jahre ausgesessen, als mir bewusst wurde, dass ich praktische Erfahrung im Einfangen von Kugeln bekommen musste. Die Schwierigkeit bestand darin, wie du ganz richtig bemerkt hast, Natasha, dass niemand etwas davon merken sollte. Ich musste demnach einen Ort finden, wo die Luft ziemlich bleihaltig war und wo angemessen Verwirrung und Desorganisation herrschte, damit niemand Wind davon bekam, was da eigentlich vor sich ging, wenn ich angeschossen oder vorzugsweise auch durchsiebt würde und keinen Schaden davontragen würde. Na, klingelt’s schon bei einem von euch?“
Alle sahen sich an und zuckten mit den Schultern, doch dann sprang Dimitri wie von der Tarantel gestochen auf. „Nein! Das kann es nicht sein, oder? Das hast du mit der ‚Legende von Davy Crockett’ also gemeint!“
„Sag’ bloß, ihr habt in Russland auch davon gehört“, bemerkte Caroline und wurde beinahe verlegen dabei.
„Aber klar, wenn man nach Dienstschluss bei einer Flasche Wodka beisammen sitzt, wird alles an wilden und unheimlichen Geschichten aufgewärmt, was es nur gibt.“
Natasha sah mit gerunzelter Stirn zu ihrem Kameraden auf. „Da wir anderen nicht mit dem militärischen Hintergrundwissen von Dimitri gesegnet sind, schlage ich vor, ihr erleuchtet uns ebenfalls.“
„Ja, gut. Wie ihr sicher wisst, tobte damals der Kalte Krieg in vollen Zügen. Dieser bestand im Wesentlichen aus dem Konflikt der verschiedenen Ideologien, dem sozialistischen Kommunismus und dem westlichen ‚Imperialismus’...“
„Jetzt mach mal halblang, gospodin“, bremste Natasha ihn erzürnt ein, worauf dieser verlegen zu Boden sah und Caroline für ihn die Ausführungen übernahm.
„Nun, Kern der Sache ist, dass sich alle der Tatsache bewusst waren, dass dieser Krieg aufgrund des atomaren Zerstörungspotentials der Supermächte niemals offen ausbrechen durfte. Statt dessen wurde der Streit der Weltanschauungen auf dem Rücken von Dritten ausgetragen. Und damals war der bei weitem heißeste Kriegsschauplatz ein Küstenstreifen in Südostasien, der von dicht wucherndem Dschungel bewachsen war und wo alles drunter und drüber ging. Aus dem kommunistisch regierten Norden fielen unentwegt Truppen ein, die von den Amerikanern, die der westlich orientierten Regierung im Südteil des Landes zu Hilfe kamen, nur unzulänglich und nicht sehr effektiv bekämpft werden konnten. Durch die hohe Verlustrate der Patrouillen in der ‚Grünen Hölle’, dem damit verbundenen Stress und den Traumata der Soldaten bis hin zu handfesten Psychosen resultierte logischerweise häufiger Drogenmissbrauch, in der Hoffnung, die Todesangst und Ungewissheit besser ertragen zu können. In dieser Zeit sind viele unerklärliche Dinge von den Soldaten im diffusen Halbdunkel des Regenwaldes gesehen worden, von denen die meisten als Unfug und Hirngespinste abgetan wurden. Aber manche Ereignisse und Erscheinungen haben es zum Legendenstatus gebracht, da viele Männer unabhängig voneinander und an verschiedenen Orten das selbe berichtet hatten.
Dazu gehört die Geschichte vom Geiste Davy Crocketts, der ruhelos durch die Wälder streift und über die US-Soldaten wachte. Keine Kugel konnte ihm etwas anhaben und er half oft, wenn Not am Mann war. Dieser Mythos wurde im Nachhinein dem Umstand zugeschrieben, dass sich die GIs in ihrer Verzweiflung an die heldenhafte Legende aus ihrer Kinderzeit klammerten, um so an etwas glauben zu können, was ihnen neuen Mut und Zuversicht verliehen hat.“
Als Caroline verstummte, sahen sie alle tatsächlich an, als sei sie eine übernatürliche Erscheinung. Aishe sprach es aus. „Du willst damit sagen, du warst der sagenumwobene Geist von Davy Crockett? Du warst das, der aufs Geratewohl im Kugelhagel aufgetaucht ist, einer Gruppe Soldaten in einer ausweglosen Situation den Hintern gerettet hast und danach wieder spurlos verschwunden bist? Aber... wie?“
Ausweichend erklärte Caroline: „Na ja, das Problem ist, man kann nicht allen helfen. Ich musste eine Menge Leute sinnlos sterben sehen, durch Minen, Sprengfallen, Feuerüberfälle und noch viel Entrsetzlicheres. Ich hatte damals eine schlimme Zeit durchzustehen, da alles was ich tat, die Zeitlinie verletzte konnte. Und wann immer ich im Einsatz ‚gefallen’ bin, nahm ich das Aussehen eines Zurückgebliebenen an, der ebenfalls tot oder schwer verwundet im Busch lag, um weiter herum zu kommen. Es ist nie etwas aufgefallen. Nach einem knappen Jahr hatte ich genug davon und bin zurück in die Staaten.“
„Das ist heftig.“ Nach Shins kurzem Kommentar versanken alle in brütendes Schweigen.
Hallevik, Insel Rolla, Troms Fylke, Norwegen 27. März 2005
Karin wachte auf und lauschte im Dämmerzustand auf das ruhige, tiefe Atmen von Bernd im anderen Bett, bis die Realität sie wieder einholte und sie schlagartig wach wurde. Sie musste sich allmählich an den Gedanken gewöhnen, dass er tot war. Und heute morgen würde sie das können, das fühlte sie tief in ihrem Herzen.
Das Frühstück ließen sie aus, denn niemand von ihnen hatte heute Hunger. So legten sie alle gleich warme Winterkleidung an und befreiten das Luftkissenboot vom Tarnüberzug. Als sie in der Kabine Platz genommen hatten, kamen Abbey und Daniel und trugen jeweils ein in weiße Laken gehülltes Bündel, dessen Inhalt für alle eindeutig war. Die beiden T-880 verzurrten ihre leblose Last auf dem Dach der flachen Kabine, dann stieg Abbey ein und nahm den Pilotenplatz ein, während Daniel zurückblieb, um nach Nicolas zu sehen.
Sie fuhren hinaus auf den Vågsfjorden, in die Mitte der weiten Wasserstraße gegenüber vom Safehouse, wo sie das Hovercraft über dem langsam treibenden Packeis zum Halt brachten und die Ausstiegsluke der Kabine öffneten. Caroline sah alle eindringlich an. „Will jemand noch ein paar letzte Worte sagen?“
Alle sahen betreten auf das blanke Riffelblech des Kabinenbodens.
„Angesichts der Sinnlosigkeit ihres Todes... nein.“ Dimitris Kiefer mahlten.
Karin stammelte tonlos: „Ich glaube, es... es hätte ihnen gefallen, hier... ihre letzte... Ruhe...“
Als ihre Stimme versagte und sie zu schluchzen begann, nahm Aishe sie in die Arme und bekam selbst feuchte Augen. Sie nickte Caroline zu, worauf diese sich behände aus der Kabine auf den schmalen Rand des Bootsdecks schwang und die erste der beiden Leichen losband. Mit langsamen und bedächtigen Bewegungen hievte sie den eingehüllten und beschwerten Körper auf den Rand des Gummiwulstes, welcher das Luftkissen unter dem Boot hielt und ließ ihn würdevoll herabgleiten. Er fiel in eine schmale Lücke zwischen zwei Eisschollen und versank schnell in den eiskalten Fluten.
Den meisten kamen die Tränen, als nun auch der zweite mit Gewichten bestückte Körper von dem klaren, dunklen Wasser des Nordmeeres aufgenommen wurde. Ohne viel Federlesens beendeten sie die schmucklose Zeremonie und kehrten zum Ufer von Rolla zurück. Ihnen war unterschwellig bewusst, dass dies nicht die letzten liebgewonnenen Menschen gewesen waren, die sie zu Grabe würden tragen müssen.
Später am Vormittag verließ Karin den Rest der Gruppe im Wohnraum, um nach Natasha zu sehen. Sie sah beim Hinausgehen über die Schulter und ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Auch ihr hochgeschätzter Gemeinschaftsraum würde nach diesem Kampf nie mehr derselbe sein. Sie hatten sich hier immer absolut sicher gefühlt, bis der T-1000 ihre Illusion zerstört hatte und sie mit einem flauen Gefühl im Magen zurückließ, das sie nun immer haben würden, wenn sie hier beisammen sitzen würden.
Und hier waren zwei von ihnen gestorben, auf eine unmenschlich grausame Weise. Nicht einmal die Bezeichnung ‚Hinrichtung’ wurde dem gerecht, was diese abstrakte, emotionslose Tötungsmaschine mit Ana und Bernd gemacht hatte.
Karin wischte den Gedanken beiseite und versuchte, den Blick nach vorne zu richten, als sie auf den Flur trat. Sie hatte eine recht gute Vorstellung davon, wo Natasha sein würde. Sie öffnete die hinterste rechte Tür direkt neben der Schleuse.
Natasha saß am Krankenbett von Nicolas und betrachtete den Franzosen, der mit tiefen ruhigen Atemzügen in seinem Bett lag. Ein Tropf war am Bettpfosten befestigt und führte ihm eine Glucoselösung zu, ein zweiter versorgte ihn mit einer Kochsalzlösung.
„Natasha, du kannst nicht immer nur hier sitzen und über ihn wachen. Wir tun für ihn, was wir können. Was ist nur los mit dir?“ fragte Karin besorgt.
„Ich weiß es doch auch nicht. Ich kann einfach nicht anders. Seit ich ihn zum ersten mal gesehen habe, habe ich das Bedürfnis, in seiner Nähe sein zu wollen. Kannst du das verstehen?“ Ein wenig schief lächelte sie zu ihm herüber.
„Ich glaube, du hast jemanden gefunden, Nati. Das macht den Gedanken ein wenig erträglicher, was ich verloren habe.“ Ungewollt brachen die Tränen wieder aus ihr heraus und sie drückten sich fest, um sich gegenseitig Trost und Nähe zu spenden.
„Where am I? Who are you?“
Die beiden Frauen fuhren wie vom Blitz getroffen auseinander und starrten hinab auf ihren Verwundeten, der erwacht war und aus halbgeschlossenen Augen zu ihnen herübersah. Dabei konnte man deutlich erkennen, dass ihm bereits die Drehung des Kopfes erhebliche Mühe machte.
Natasha sah Karin an, die kaum merklich nickte und dann ging. Sie beugte sich hinab und ergriff die Hand von Nicolas, dessen Augen sich ein wenig weiteten bei ihrem Anblick.
Auf Englisch sagte er leise: „Was ist passiert? Bin ich tot?“
Sie strich ihm sanft über die Stirn und erwiderte: „Aber nein. Wie kommst du nur darauf? Bist du im Delirium?“
„Nein, ich habe für einen Moment gedacht, du bist ein Engel.“ Seine tiefdunklen Augen schimmerten, als er zum ersten Mal seinen Mund zu einem Lächeln verzog, das sie strahlend erwiderte.
„Wie charmant. Nein, der Helikopter ist abgestürzt, in dem du geflogen bist. Wir haben dich aus dem Wrack gezogen, bevor es draußen auf dem Fjord gesunken ist. Seit drei Tagen liegst du hier bewusstlos; du warst der einzige Überlebende.“
„Drei Tage? Oh nein, ich muss...“ Er versuchte sich impulsiv zu erheben, zuckte jedoch zusammen und ließ sich mit schmerzgepeinigtem Gesicht und einem lauten Aufstöhnen wieder zurück sinken.
Natasha legte besänftigend eine Hand auf seinen Brustkorb: „Du bist schwer verletzt und darfst dich nicht bewegen, mein Lieber. Wohin willst du denn so schnell?“
„Mein Trägerschiff... es ist hier im Gebiet auf Patrouillenfahrt und versorgt die vorgeschobene Basis. Ich muss aufs Schiff zurück...“
„Langsam, mein Guter. Du hast nicht nur zahlreiche Knochenbrüche, sondern auch eine schwere Gehirnerschütterung und leichte innere Verletzungen. So bist du auf keinen Fall transportfähig. Wie heißt dein Schiff denn?“
„Es ist die H.M.S. Illustrious. Ein englischer Flugzeugträger, auf dem ich als Gastbeobachter der französischen Marine war, als der Tag des Jüngsten Gerichts stattfand.“ Er sah die Verwunderung in ihren Augen. „So nennen wir die Katastrophe, welche die Welt zerstört und nur wenige von uns am Leben gelassen hat. Wir können von Glück sagen, dass wir verschont geblieben sind.“
„Das wusste ich nicht. Wir sind seit dem Tag des Angriffs kaum aus dem Haus herausgekommen und haben keinerlei Informationen über das, was in der Welt passiert.“ Natasha wurde ein wenig schwermütig und nahm vorsichtig Nicolas Hand in ihre. „Ich wusste nicht einmal, dass Großbritannien überhaupt Flugzeugträger hat.“
Er schüttelte angestrengt den Kopf. „Nur noch einen. Wir sind zwei Tage lang unter einer Sturmfront über den Nordatlantik gelaufen, sodass die Russen keine aktuelle Position unseres Verbandes mehr hatten. So haben sie wahrscheinlich bei ihrem Angriff einfach die letzten Satellitenaufnahmen verwendet, um unseren ungefähren Kurs weiter zu berechnen. Und so lag ihr Schlag fast hundert Meilen hinter unserem Standort. Man muss dazu sagen, dass dieser Träger nur ein kleiner ist, verglichen mit den Riesenpötten der Amerikaner. Auf ihm sind nur leichte Senkrechtstarter und Hubschrauber stationiert. Alle anderen Flugzeugträger und sonstige schwere Kriegsschiffe von westlichen Ländern sind versenkt worden, bis auf uns.“
„Ich fürchte, in einem Punkt irrst du dich. Nicht die Russen haben angegriffen, sie haben sich nur verteidigt. Es waren Raketen von amerikanischem Boden aus, die zuerst gestartet wurden, und zwar auf Russland und China. Der verzweifelte russische Gegenschlag hat unsere Heimat vernichtet.“
Nicolas wollte hochfahren, zuckte aber erneut zurück, als die damit verbundenen Schmerzen ihn übermannten. „Das... das ist nicht dein Ernst, oder? Woher willst du das wissen?“
Sie erzählte, ohne auf seine Frage einzugehen: „Der Auslöser war ein militärisches Super-Computerprogramm der Amerikaner, das heimlich auf zig Millionen zivilen Rechnern mit Internetanschluss installiert worden war, um dessen gigantische Rechenkapazität zu bewältigen. Es basierte auf dem Prinzip der künstlichen Intelligenz, geriet aber tragischerweise außer Kontrolle, wie so manches in den USA dieser Tage. Skynet, so sein Name, entwickelte ein eigenes Bewusstsein, übernahm die totale Kontrolle über alle Kommunikationskanäle, legte diese lahm und nutzte das dadurch entstandene Chaos, um der Menschheit ohne deren Wissen den totalen Krieg zu erklären. Es feuerte sämtliche ballistischen Interkontinental- und strategische U-Boot-Raketen auf die Gegner der USA mit atomarem Vergeltungspotential ab, worauf diese ihrerseits im Gegenschlag die westliche Welt in Schutt und Asche legten. Das ist im großen und ganzen die Geschichte. Fazit: Vielen Dank, God’s own Courtry.“
„Das kann nicht dein Ernst sein. Das...“ Nicolas ungläubige Stimme versagte, als ihm etwas aufzugehen schien. Er legte seinen Kopf ganz langsam zur Seite und flüsterte mit todernster Stimme: „Wer bist du, dass du über diese Informationen verfügst? Niemand weiß, was eigentlich geschehen ist! Wo bin ich hier?“
„Das ist eine lange Geschichte und ich bin mir absolut sicher, dass du mir kein Wort davon glauben wirst. Ich würde es auch nicht, wenn ich an deiner Stelle wäre. Es klingt wie eine abgedrehte Science-Fiction-Story, ist aber leider Gottes die bittere Realität. Und wenn du glaubst, der Menschheit geht es im Moment dreckig nach diesem Atomkrieg, dann warte mal ab, was in den nächsten Jahrzehnten auf uns zukommt.“ Sie klang keinen Deut weniger ernst als er.
Unerwarteter weise musste er plötzlich lächeln. „Du glaubst offenbar an das, was du tust und du bist dir deiner Sache absolut sicher. Ich mag das.“
„Soll das ein Flirtversuch sein? Pass bloß auf, ich kenne euch Franzosen, ich komme aus Freiburg“, warnte sie ihn, lächelte aber ebenfalls. „Aber ja, du hast recht, ich bin überzeugt von meiner ‚Mission’. Und ich bin damals auf sehr spektakuläre Weise überzeugt worden, das kannst du mir glauben.“
„Dann überzeuge mich“, forderte er bestimmt.
„Alles zu seiner Zeit“, verfügte sie ebenso rigoros, „erst einmal brauchst du Ruhe, damit du so schnell wie möglich wieder zu Kräften kommst. Das Schicksal hat noch großes mit dir vor.“
„Klingt gut.“
Sie seufzte. Keiner von ihnen sollte dem zukünftigen General der Résistance und Führer der Menschheit in Europa im Kampf gegen die Maschinen verraten, welche Zukunft ihm zugedacht war. Jedenfalls noch nicht für eine lange Zeit.
Er hielt plötzlich inne, als ihm etwas einzufallen schien. „Es tut mir leid, ich habe dich noch nicht einmal gefragt, wie du heißt.“
Natasha öffnete den Mund, hielt inne und erstarrte. Dann wurden ihre Augen wässrig, als sie einen Entschluss fasste und ihm mit sanfter Stimme antwortete.
„Ich heiße Maja. Maja Maranoff.“
Hallevik, Insel Rolla, Troms Fylke, Norwegen 31. März 2005
Nicolas ging es zunehmend besser. Er aß wieder und kam zu Kräften, sodass es ihm natürlich auch immer langweiliger wurde. Er begann Fragen zu stellen, unangenehme Fragen, deren Beantwortung ihnen nicht möglich war, wollten sie ihn nicht überstrapazieren. Doch inzwischen dachten sie darüber nach, ihn in ihr Geheimnis einzuweihen.
Während des heutigen Vormittagsunterrichtes, den die Gruppe nunmehr nur noch zu siebt bestritt, wachte Caroline über Nicolas. Ihm kam es verdächtig vor, dass sie ihn praktisch Tag und Nacht nie alleine ließen, worauf er sie auch ansprach. Sie antwortete nur: „Uns liegt sehr viel an deiner Gesundheit und deiner Sicherheit.“
„Dann bewacht ihr mich? Habt ihr etwa Angst, dass ich abhauen könnte? Doch nicht in diesem Zustand!“ protestierte er.
„Gewiss nicht“, wiegelte sie ab. „Wir sorgen uns einfach um dich. Und wir haben uns beraten, dass es allmählich Zeit wird, dass du alle Zusammenhänge erfährst. Du erscheinst mir inzwischen stabil genug, um das zu verkraften. Ich habe allerdings vorher noch eine Frage an dich: Hältst du dich selbst eher für einen rationellen oder emotionellen Typ? Ich meine, wenn ich dir jetzt eine phantastische Geschichte auftische, würdest du mir spontan glauben, oder würdest du Beweise dafür verlangen?“
Er brütete für kurze Zeit vor sich her und kam dann zu einem Entschluss: „Ich denke, ich habe schon eine Menge Phantasie. Eure Story vom bösen Computerprogramm, das die Menschheit auslöschen wollte und deshalb einen Atomkrieg angezettelt hat, klingt nur auf den ersten Blick abwegig. Je länger ich darüber nachgedacht habe und das ganze hinterfragte, desto mehr Hinweise habe ich aufgrund der wenigen Fakten gefunden, die mir bekannt sind, dass eventuell doch etwas daran sein könnte.“
„Das klingt doch hoffnungsvoll“, meinte sie lächelnd.
„Moment, ich war noch nicht fertig“, unterbrach er sie, „denn ich wollte noch anmerken, dass ich zwar ein ‚Akte-X’-Fan bin, aber eher auf der Seite von Scully stehe. Damit meine ich, dass ich zwar bereit bin, auch das Unglaubliche zu glauben, wenn ich einen schlagkräftigen oder gewichtigen Beweis dafür erhalte.“
Caroline überlegte und sagte dann bedächtig: „Nun, ich habe mich heute morgen mit den anderen besprochen und wir sind übereingekommen, dass ich es versuchen soll. Bist du bereit?“
„Schieß los“, gab er fügsam zurück.
Sie begann: „Maja hat dir von der wahren Natur des Atomkrieges erzählt, aber sie hat dir noch nichts von den weiteren Plänen des Supercomputers gesagt. Dieser paranoide Bastard wird sich nämlich nicht damit zufrieden geben, diesen Konflikt entfesselt und damit die halbe Menschheit auf einen Schlag ausgelöscht zu haben. Nein, er will ganze Arbeit leisten und wird in automatisierten Fabriken nach und nach unvorstellbare Zahlen von immer weiter verfeinerten Kampfmaschinen produzieren und diese in die Welt hinaussenden, mit dem Ziel, auch noch den letzten Menschen im entlegensten Winkel der Erde aufzuspüren und zu terminieren. Zunächst sieht es auch ganz so aus, als hätte er Erfolg damit, doch dann...“
Nicolas hörte gebannt zu, wobei sich sein Gesicht immer mehr verfinsterte und deutliche Ablehnung signalisierte. Als sie mit dem Geschichtsunterricht für die nächsten dreißig Jahre geendet hatte und ihn erwartungsvoll ansah, verschränkte er die Arme über der Brust. „Und das alles soll ich dir abnehmen? Du hältst mich wohl für bescheuert.“
„Durchaus nicht, ich habe mit solch einer Reaktion gerechnet. Wer will schon freiwillig akzeptieren, dass der Menschheit nach einer so unvorstellbaren Katastrophe noch viel mehr Leid droht und auch mit Sicherheit über sie hereinfallen wird? Würde ich auch nicht wollen.“
„Caroline, du redest von Ereignissen, die in ferner Zukunft liegen. Dass ihr aus irgendeinem auch noch so obskuren Grund diese Sache mit Skynet herausgefunden haben könntet, kann ich ja noch mit viel Wohlwollen glauben, aber das geht zu weit! Könnt ihr etwa in die Zukunft sehen?“
„Nein, ich stamme aus der Zukunft. Genauso wie Abbey und Daniel. Aus unserer Sicht sind diese künftigen Geschehnisse historische Ereignisse.“
Nicolas lachte, klang aber nicht amüsiert. „Natürlich, warum bin ich nicht von selbst darauf gekommen.“
„Und wir drei sind keine Menschen.“
Jetzt lachte er nicht mehr. „Na toll, ich bin in einem Nest voller Verrückter gelandet.“
„Nein, nur die Welt ist verrückt geworden. Wir alle hier sind völlig normal.“ Caroline klang derart ernsthaft und sachlich, dass er einen Anlauf machte, ihre Gespinste mit purer Logik zu entkräften.
„Du bist also aus der Zukunft und du bist kein Mensch. Was bist du dann? Ein Außerirdischer?“
„Nein, ein Roboter. Ein Kunstmensch. Aber nur ich, denn Abbey und Daniel entstammen einer älteren Baureihe, sie sind Cyborgs. Ihr mechanisches Innenleben ist noch mit künstlich gezüchtetem menschlichem Gewebe überzogen, weil man damals noch keine andere Möglichkeit hatte, dieses anderweitig zu simulieren wie bei mir...“ Und damit enthüllte sie ihm auch noch die wahre Natur der Terminatoren und deren eigentliche Aufgabe in der Zukunft.
Danach blieb Nicolas ganz ruhig liegen und sah gegen die Unterseite des oberen Bettes. Leise wisperte er: „Kannst du das beweisen?“
Sie erhob sich und sagte mit einem schiefen Lächeln: „Geh nicht weg, ich bin gleich wieder da.“
„Ja, klar“, gab er ironisch zurück und besah sein linkes Bein, das geschient war.
Nach nur zwei Minuten kehrte sie zurück und holte einen runden, schimmernden Gegenstand in der Größe einer Melone hinter ihrem Rücken hervor, wo sie ihn verborgen gehalten hatte, und hielt ihn ihm vor die Nase. Noch bevor er eine einzige Frage stellen konnte, drehte sie ihn herum, worauf Nicolas mit einem ächzenden Laut auf den Kopf von Alex starrte, den sie vom Gewebe befreit, gesäubert und eingelagert hatten, falls sie einmal Bedarf für Ersatzteile daraus haben sollten. Sprachlos musterte er den chromglänzenden Totenschädel, der statt Kiefermuskeln zwei kleine Hydraulikzylinder aufwies und zwei perfekt geformte Zahnreihen, welche das Sensenmanngrinsen komplettierten. Mit Grausen starrte er auf die tief in den Höhlen liegenden Optikrezeptoren, wo ansonsten Augen wären.
„Das... das ist... Mann!“ Er lachte erneut. „Weißt du, einen Moment lang bin ich wirklich darauf hereingefallen. Ein tolles Spielzeug hast du da. Aus Kunstharz gegossen, stimmt’s? Nimmst du den als Briefbeschwerer?“
„Du wolltest doch gewichtige Argumente? Bitte!“ Sie nahm den Kopf in beide Hände und legte ihn auf Nicolas’ Bauch, ließ aber nicht ganz los, um ihn nur einen Teil des Gewichtes spüren zu lassen. Mit einem verblüfften Ächzen entwich die Luft aus seinen Lungen, als das unerwartet hohe Gewicht sein Zwerchfell nach oben presste.
„Uff! Mein Gott, der wiegt ja mindestens...“
„Knapp zwanzig Kilo. Glaubst du mir jetzt? Warum sollte ich mir so eine Mühe machen und einen massiven Schädel aus einer hochfesten Metalllegierung gießen und mit High-Tech voll stopfen, nur um dir einen Bären aufzubinden? Oder was hältst du davon? Auch nur ein Gimmick?“ Sie griff nach unten und zeigte ihre freie Hand vor, in der sie einen Unterarm mitsamt Hand von Alex hielt. Die vergleichsweise rudimentäre Technik des T-800 war zur Veranschaulichung besser geeignet als die weiterentwickelte, aber viel kompaktere Bauweise der Gliedmassen von T-880 und T-X.
Nun klappte ihm die Kinnlade hinab. Er griff instinktiv nach dem Glied, hielt es aber mit beiden Händen, als erwartete er bereits das hohe Gewicht, das es tatsächlich aufwies. Mit einem Kopfschütteln untersuchte er den Arm von allen Seiten eingehend und versuchte, einen der Finger zu bewegen, was ihm aber auch nicht mit äußerstem Krafteinsatz gelang.
„Darf ich?“ Sie griff nach der Hand und beugte und streckte den Daumen, wobei sich deutlich sichtbar der darin eingebettete Bowdenzug bewegte. Sie beugte zusätzlich das Handgelenk, wobei sich mehrere feingliedrige Stellzylinder mit leisem Sirren mitbewegten.
Nicolas hatte mit geweiteten Augen zugesehen und ließ sich nun ins Bett zurückfallen. „Oh Gott, du hast die Wahrheit gesagt. Und Abbey und Daniel sind ebenfalls Roboter?“
„Eigentlich Cyborgs, da sie von lebendem Gewebe umgeben sind. Ich hingegen werde von einer speziellen Flüssigmetalllegierung umhüllt, was es mir ermöglicht, mein Aussehen zu verändern.“ Sie hielt ihren rechten Unterarm nach oben, sodass er genau mit ansehen konnte, wie ihre Hand und das Gelenk plötzlich metallisch schimmerten und dann die umgebende Haut und das Fleisch wie Quecksilber an ihrer Hand hinabliefen. Statt eines Skeletts erschien darunter jedoch die schlanke, beinahe elegante Konstruktion ihrer Kunsthand. Als sie mit einer eigentlich putzig wirkenden Bewegung ihre Finger wackeln ließ, konnte man leise, aber deutlich das mechanische Surren der Servos und feingliedrigen Gliederantriebe vernehmen, da die mechanische Komponente nun vom schallschluckenden Bezug befreit war.
Nicolas war gegen die Wand zurück gerutscht, den blanken Horror im Gesicht. Sofort stellte sie ihr ursprüngliches Aussehen wieder her und beruhigte ihn: „Du musst keine Angst haben. Wie ich schon erzählt habe, bin ich auf deiner Seite. Nachdem die Rebellen in der Zukunft den Stützpunkt erobert hatten, auf dem ich entwickelt worden war, haben sie mich zu eurem Schutz umprogrammiert. Du siehst, du bist hier in Sicherheit.“
Er wagte sich fast nicht mehr hervor. „Das muss ich erst einmal verdauen. Und du wurdest aus der Zukunft hierher gesandt?“
„Aus der Zeitlinie, die den Ereignissen hier entspringt, ja. Das ist sehr kompliziert, aber wenn du erst einmal wieder auf den Beinen bist, wirst du in die Gruppe integriert werden. Die anderen freuen sich schon auf dich, vor allem Maja.“
„Ja, ich... komme sehr gut mit ihr aus.“ Er wurde ein wenig rot, konnte sich aber doch ein Lächeln nicht verkneifen.
Caroline seufzte und rang sich dann zu einem ganz und gar nicht maschinellen Kommentar durch: „Sie war dir vom ersten Moment an verfallen. Behandle sie gut, okay?“
„Das werde ich, verlass dich darauf.“ Er klang sehr ernsthaft und seine Augen leuchteten.
Sie lächelte: „Das werde ich. Ihr seid wohl vom Schicksal für einander bestimmt.“
Hallevik, Insel Rolla, Troms Fylke, Norwegen 29. April 2005
Karin wischte sich den Mund mit dem Unterarm ab und erhob sich mühsam von den Knien. Sie hatte es gerade noch auf die Toilette geschafft und spülte jetzt rasch die unappetitlichen Reste ihres Mageninhaltes hinunter, bevor jemand hinzukommen konnte. Dann wusch sie sich das Gesicht und verließ das Bad rasch. Es war zwar noch früh am morgen, doch man konnte nie wissen. Leise schloss sie die Badtür und schlich auf Zehenspitzen zu ihrem Zimmer zurück.
„Das war das dritte mal in einer Woche.“
Sie erstarrte und schloss mit gequälter Miene die Augen. Nein, noch nicht. Sie war noch nicht so weit.
Langsam drehte sie sich um und stellte sich Abbey und Daniel, die aus der Küche heraus gekommen waren. Mit schuldbewusster Miene sah sie die beiden an wie ein Schulmädchen, das bei etwas Verbotenem erwischt worden war.
„Wie lange weißt du es schon?“ fragte Abbey mit einfühlsamer Stimme, indem sie auf Karin zutrat und ihr in ihre hellbraunen, tränengefüllten Augen sah.
„Seit einer Woche. Ziemlich früh, oder?“ Mit einem schwachen Lächeln sah sie Daniel an.
„Du musst keine Angst haben, das werden wir schon schaffen. Wir sind wie eine große Familie, nicht wahr? Du wirst jedwede Unterstützung erfahren, die du brauchst.“
Sie fiel beiden um den Hals, einen Arm um je einen von ihnen und schluchzte. „Ich weiß. Aber was ist das für eine Welt, in die ich ein Kind hineingebären werde?“
Sie wechselten einen kurzen Blick. Abbey beruhigte sie: „So darfst du nicht denken. Jedes neue Leben bringt die Menschheit einen Schritt weiter zur Freiheit und zu einer guten Zukunft. Natürlich wird es schwer werden, ihn unter diesen Umständen großzuziehen, aber du musst dir auch vor Augen halten...“
„Ihn?“ Karin fuhr auf. „Ich bin gerade mal im zweiten Monat! Woher willst du wissen... oh nein! Es trifft alles ein, was ich befürchtet habe, oder?“
Wieder nahm Abbey sie in die Arme. „Es tut mir leid. Manche Dinge nehmen einfach ihren Lauf; wir können nichts dagegen unternehmen. Wir können nur alles menschenmögliche tun, um ihm die Zeit, die ihm zugedacht ist, so gut es geht zu gestalten. Ich glaube allerdings, er würde nicht wollen, dass wir ihn bevorzugt behandeln, nur weil wir zufällig sein Los kennen.“
„Wie kannst du nur so etwas sagen, Abbey? Ich werde einen Sohn bekommen von dem Mann, der kurz nach seiner Zeugung auf grausamste Weise sein Leben verloren hat. Und ich weiß jetzt schon, dass er eines Tages von Skynet gefangen und missbraucht werden wird, um sein Aussehen den tödlichen und verhassten Kampfrobotern zu leihen. Wie kann ich da nicht verzagen?“
„Ich weiß es ehrlich nicht. Das Schicksal hat dir eine schwere Bürde auferlegt, das mag stimmen. Was du daraus machst, liegt an dir allein. Es ist nun mal eine unabwendbare Realität, mit der wir von nun an leben müssen.“ Abbey schüttelte den Kopf.
Daniel erinnerte sie: „Wir haben Nicolas noch nicht gesagt, welche Rolle er einst spielen wird. Glaubst du, wir sollten das tun?“
Sie schüttelte den Kopf und legte einen Arm um Karins Schulter, um die benommene junge Frau zurück in ihr Zimmer zu geleiten. „Das würde ihn nur verwirren. Es ist noch zu früh. Lass ihn sich erst einmal in die Gruppe einleben, dann sehen wir weiter.“
Hallevik, Insel Rolla, Troms Fylke, Norwegen 2. Juni 2005
Die Gruppe hatte sich mit ihren jetzt acht Mitgliedern ganz gut wieder zurecht gerauft. Während sie weiterhin trainiert und ausgebildet wurden, fingen die Terminatoren an, weiter voraus zu denken. Die Polarnacht spendete rund um die Uhr ein wenig Licht durch die trüben grauen Wolken hindurch, der Schnee war größtenteils abgeschmolzen.
Daniel erforschte die Insel mit dem Auto sehr ausgiebig über mehrere Tage und musste feststellen, dass ihre Gruppe die einzige Population auf Rolla darstellte. Die wenigen, welche die Flutwellen und den radioaktiven Fallout überlebt haben mochten, waren entweder in ihren Häusern verhungert oder im extrem harten Winter erfroren. Manch einer würde die Insel per Boot oder durch den Tunnel nach Andørja verlassen haben. Das war die positivste Überraschung seit langem für sie, dass durch die umsichtige Bauweise der Norweger der hoch gelegene Tunneleingang bei Hamnvik auf der der damaligen Flutwellen abgewandten Inselseite nicht vom Wasser erreicht worden war und die Röhre unter dem Meer hindurch so noch immer passierbar war. Er fuhr sogar hindurch auf die Nachbarinsel und fuhr auch diese entlang bis zur ebenfalls intakten Hängebrücke von Andørja aufs Festland. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass auch diese gefahrlos befahrbar war, kehrte er zum Safehouse zurück.
Mittlerweile stand auch fest, dass der Sturm direkt nach dem Wasserstoffbombenangriff der Russen auf offener See den Fallout tatsächlich in einem solchen Masse hinfort gespült hatte, dass man sich nun ohne gesundheitliches Risiko im Freien bewegen konnte, auch wenn die Temperatur noch immer höchstens fünf Grad Celsius betrug. Und lange würde es nicht so warm bleiben.
Sie fragten sich manchmal, wie irgend jemand den nächsten Winter überstehen sollte, der nicht mit solchen Segnungen wie ihrem Safehouse ausgerüstet war. Dies war schließlich eine richtige Festung, speziell gebaut für den einen Zweck, ihnen allen das Überleben zu ermöglichen.
Eines Tages würden ihnen die Vorräte ausgehen und sie würden sich aufmachen auf ihre beschwerliche Reise über die skandinavischen Alpen, durch den Süden Lapplands hindurch und quer über die finnische Seenplatte bis in die vor Kälte starren Weiten Westrusslands, wo ihre Zukunft im Kampf gegen die Todesmaschinen Skynets liegen würde. Sie würden sich vor den Säuberungskommandos verbergen, die Menschen organisieren und koordinieren und so allmählich die Grundstrukturen des eurasischen Widerstands schaffen, die sich allmählich nach Süden hin ausdehnen würden, wo es noch viele Menschen gab.
Diese Menschen, Afrikaner, Araber und Asiaten würden kommen und für die Freiheit der gesamten Menschheit kämpfen. Sie würden die spärlichen Ressourcen der südlichen Hemisphäre mit den wenigen im Norden teilen, welche Skynets Krieg zurück zu ihm tragen würden, seine Maschinenkomplexe zerstören, seine Nachschublieferungen überfallen und für sich selbst abzweigen würden, um damit die spärlichen Güter, die sie selbst aus Afrika und dem Nahen Osten erhalten würden, aufzustocken.
Sie würden die Gefangenen- und Vernichtungslager der Killermaschinen überrennen und die zur Tötung vorgesehenen Menschen befreien, worauf diese sich dem Widerstand anschließen konnten. Sie würden sich vermehren und, im Untergrund lebend, immer zahlreicher werden, bis sie den stählernen Armeen Skynets zahlenmäßig überlegen wären. Und durch ihre unnachgiebige Entschlossenheit würde der Tag kommen, an dem die Maschinen auf der größten zusammenhängenden Landmasse der Erde bezwungen sein würden. Sämtliche verfügbaren Einheiten würden übersetzen und ihren Brüdern und Schwestern in Nordamerika, von wo aus das Übel seinen Anfang genommen hatte, gegen die letzten Bastionen des paranoiden Supercomputers beistehen und bei deren Eroberung helfen. Auch Karins Sohn, der seltsamerweise Daniel wie aus dem Gesicht geschnitten schien, würde sich eines Tages, kurz nach dem Sieg freiwillig zu den Truppen melden, die bei der Befreiung Amerikas helfen würden. Karin würde ihn anflehen, betteln und weinen, doch er würde nicht hören und mitfahren. Es war sein Schicksal.
Das Leben würde einen Weg finden, sich gegen die künstliche Intelligenz zu behaupten und ihre Welt in eine neue Ära des Friedens und der Einheit zu führen.
Doch noch lagen diese Ereignisse wie viele andere auch im dunstigen Nebelschleier einer fernen Zukunft.
- E P I L O G -
Niznij Novgorod, Russland 12. Dezember 2025
Die kleine Einheit saß tatenlos in den Ruinen in den Vororten der ehemaligen Millionenstadt Gorkij herum, vor sich hin dösend, leise miteinander wispernd oder stumm auf das ruhige Wasser der Wolga hinaussehend. Dort im Südwesten, wo jetzt der milchige Fleck am Horizont verschwand, der die Lage der Sonne hinter den dicken, tiefhängenden Wolkenschichten anzeigte, hatte einmal Moskau gelegen, keine 300 km von hier. Es war trocken, aber bitterkalt und es würde bald noch kälter werden, sobald es dämmern würde. Sie waren gerade aus den Bunkern und Tunnelanlagen des Untergrundes hervorgekommen und gönnten sich den Luxus von etwas Tageslicht, bevor sie im potentiellen Schutz der Dunkelheit zu ihrer nächsten Mission aufbrechen würden. Dabei vermieden sie es tunlichst, durch irgendetwas auf sich aufmerksam zu machen, was fliegende Patrouillen oder JKs anlocken könnte.
Eine kleine Gruppe Soldaten, wahrscheinlich Kundschafter, kam mehr stolpernd als gehend, jede sich bietende Deckung ausnutzend, die Anhöhe herauf. Sie sahen allesamt zerlumpt und sehr mitgenommen aus, am Ende ihrer Kräfte.
Wortlos winkten die Wartenden sie heran, sicherheitshalber mit sämtlichen Waffen im Anschlag.
Man konnte nie wissen. Der Führende, ein Lieutenant von höchstens fünfundzwanzig Jahren, nannte seinen Namen und die Kennung und berichtete atemlos von einem Hinterhalt am Nordrand von Gorkij. Er verlangte den Führenden der Bunkeranlagen zu sprechen.
„Da wirst du Pech haben, denn der Generalmajor kommt gleich mit uns auf Patrouille, sobald es dunkel ist. Hier draußen in den Vororten ist es sicher genug für Inspektionen der Vorposten von hohen Offizieren. Aber der diensthabende Bunkerkommandant da unten wird eure Information sicher zu schätzen wissen.“
Der junge Scout erstarte. „Der... der Generalmajor ist hier?“
Ein behelmter Kopf in der entfernten Zimmerecke hob sich. Jetzt erst bemerkte er den langen hellbraunen Pferdeschwanz, der unter dem klobigen Kopfschutz herausragte und starrte in die hellblauen Augen einer Frau Ende Vierzig. Sofort stand er stramm und grüßte zackig. „Verzeihung, Sir, ich hatte keine Ahnung, dass Sie...“
„Schon gut, Soldat. Und grüßen Sie nie mehr, wenn sie vor einem Fenster stehen und weithin sichtbar sind. Wir wollen den Bastarden doch nicht noch zeigen, welches die lohnendsten Ziele sind, nicht wahr?“
Mit entsetzter Miene beeilte sich der offenbar recht unerfahrene Soldat, sich von der Fensterhöhlung zu entfernen. „Tut mir leid. Ich wollte nicht...“
„Schon gut,“ unterbrach sie ihn erneut. „Der Bunkereingang ist dort hinten im Gang. Erholen Sie sich ein wenig, bevor Sie sich neu einteilen lassen.“
Dankbar hastete der Späher weiter und winkte sein knappes Dutzend Soldaten mit sich. Generalmajor Maja Maranoff betrachtete die erschöpften, gebückt dahinschlurfenden Männer und Frauen. Sie war etwa in ihrem Alter gewesen, als ihr komfortables, dekadentes Leben mit einem gewaltigen Paukenschlag geendet und ewigen Dekaden der Entbehrung, des Leidens und des Schmerzes gewichen war. Ihre Gedanken drifteten zurück in jene Zeit, längst vergessene Orte und Gesichter tauchten blass und verschwommen in ihrer Erinnerung auf...
Der vorletzte Soldat richtete sich auf und nahm den Helm ab. Langes rotes Haar fiel wie ein seidiger Vorhang herab, als die sehr feminin anmutende Gefreite den Kopf leicht schüttelte.
Der Schock traf sie wie ein Vorschlaghammer.
In diesem Moment sah der Neuankömmling auf sie herab. Ihre Augen weiteten sich vor ungläubigem Erstaunen.
„Abbey? Abbey Benton?“
Abbey sah hinab und erstarrte. „Kennen wir uns?“
„Mein Gott, du bist keinen Tag gealtert! Was treibst du bloß hier? Ich...“ Sie verstummte, als sie den Blick ihres Gegenübers auf den Rangabzeichen auf ihrem Oberarm ruhen sah. Abbey indes musste einsehen, dass ihre Tarnung als einfacher Soldat aufgeflogen war und verstellte sich nicht länger.
„Natasha Orloff alias Generalmajor Maja Maranoff! Es ist also wahr geworden. Alles hätte ich für möglich gehalten, aber nicht das! Die Menschheit muss wirklich verzweifelt sein, wenn jemand wie du zum Generalmajor werden kann.“
Natasha/Maja lachte: „Nicht so vorlaut, sonst kannst du was erleben, Soldat! Meine Güte, ich dachte, nach der Schlacht um Wolfsburg vor dreizehn Jahren würde ich dich nie wieder sehen. Du hast das Fiasko überlebt?“
Abbey machte ein verkniffenes Gesicht, das ihr bedeuten sollte, nicht zu viel preiszugeben. „Du weißt doch, dass ich ein zäher Brocken bin. Nachdem wir die ganze Scheiße dort in die Luft geblasen hatten, hatte ich noch eine Weile mit den versprengten Einheiten in Mitteleuropa zu tun. Du kannst dir ja denken, dass auch ein Winter in Deutschland kein Zuckerschlecken ist. Jedenfalls hab’ ich mich dann so von einer Einheit zur anderen durchgeschlagen und mich langsam nach Russland vorgearbeitet. Ich wusste ja, dass Nicolas und du hier irgendwo seid. Und wie geht es euch?“
„Ganz gut. Du solltest die Kleinen mal sehen. Zwei richtige Energiebündel, ganz wie der Vater. Ana ist elf und der kleine Bernd wird bald acht.“
Abbey stockte und riss die Augen auf: „Du... du hast sie nach...?“
Sie nickte: „Es erschien mir einfach richtig. So wird ihr Andenken gewahrt. Zu viele unserer Freunde werden das Ende dieses sinnlosen Krieges nicht mehr sehen, doch ihnen war es nicht einmal vergönnt, seinen Anfang noch mit zu erleben. Deshalb...“
Ihr versagte die Stimme, als sie sich gemeinsam an den Tag voller Schrecken erinnerten.
„Und hast du eine Ahnung, wie es Daniel und Caroline ergangen ist?“
„Das wirst du mir sowieso nicht glauben. Hör dir das an...“
Dann blies der Generalmajor ihre Inspektion ab, um zusammen mit ihrer längst verloren gewähnten kybernetischen Freundin in den Bunker hinab zu gehen und im Kreis ihrer Familie über Gott und die Welt zu plaudern.
Es erfüllte Maja/Natasha mit tiefster Befriedigung, zu sehen, dass der T-880, auch nachdem er von allen seinen Schützlingen getrennt worden war, weiter auf der Seite des Widerstands gekämpft hatte. Sie hatte sich dafür entschieden, dem Leben den Vorzug vor der Vernichtung zu geben, was sie so menschlich machte, wie man nur sein konnte.
- E N D E -
Hallevik, Insel Rolla, Troms Fylke, Norwegen 4. Februar 2005
Shin und Aishe standen ungeduldig in der Garage. Sie waren die ersten „Glücklichen“, die für den Praxisunterricht auserkoren waren. Ironischerweise war es die fast ein Meter dicke Schneeschicht, die den nur noch schwach strahlenden Boden so stark abschirmte, dass sie ohne Atemschutz ins Freie konnten. Dick eingepackt gegen die eisige Februarkälte, wollten sie die anderthalb Stunden Tageslicht mit ersten Schießübungen verbringen.
Alex öffnete das rechte Garagentor, worauf sie zunächst tief durchatmen mussten. Vor ihnen, direkt am Rand des weiten Überhanges des Garagendaches, türmte sich eine hüfthohe weiße Wand auf.
„Seht ihr die Bäume dort hinten? Versucht einfach, die Stämme zu treffen, ungefähr auf Augenhöhe. Ich zähle die Treffer. Bereit?“
Sie sahen einander an, mit entschlossenen Mienen, bevor sie beide im Stehen je eine AK-47 Kalaschnikow anlegten und mit Einzelschusseinstellung je zwanzig Schuss auf die relativ dünnen Stämme am anderen Ende des Vorplatzes, in etwa fünfzig Meter Abstand abgaben. Zufrieden schloss Alex darauf das Tor wieder. „Das war schon sehr gut. Aishe hatte neun Treffer, Shin sieben. Übergebt eure Waffen jetzt den nächsten beiden.“
„Das war alles?“ fragte Aishe enttäuscht. Der Rückstoß der Waffe hätte sie zwar bei jedem Abdrücken fast umgeworfen, aber sie hatte sich mit eisernem Willen dagegen angestemmt und tapfer ihre Munition verschossen. Jetzt machte diese kleine zierliche, aber eisern durchtrainierte Türkin mit dem süßen herzförmigen Gesicht eine grimmige Miene und erweckte den Eindruck, als wollte sie am liebsten noch ein Magazin per Dauerfeuer entleeren.
Ihre Ausbildung trug definitiv Früchte.
„Geht schon, ab ins Haus mit euch. Sagt Ana und Dimitri Bescheid. Ich bin überzeugt, Dimitri wird die beste Leistung erbringen, da er bereits beim Militär mit genau diesem Typ geschossen hat. Und für jemanden mit Erfahrung ist dieser Abstand ein Kinderspiel.“
„Abwarten.“ Aishe war bereits auf der engen, steilen Treppe hinab in den Verbindungsgang zum Keller des Hauses. Nur widerwillig folgte Shin ihr; auch er hatte Blut geleckt und würde am liebsten weiterschießen.
Als sie durch den kurzen, finsteren Gang ins Haus gelangt waren, warteten dort schon besagte nächste Schützen. Wortlos drückten sie ihnen die Waffen in die Hand und gingen auf ihre Stube. Es war zwar mitten am Tag, doch diejenigen, die ihre erste Übung hinter sich hatten, konnten bis zum Abendessen frei über ihre Zeit verfügen. So verteilten sie sich allmählich auf ihre Zimmer und den Wohnraum.
Natasha legte sich hochzufrieden auf ihr Bett und griff nach dem Roman, den sie nach langer Wartezeit endlich von Silke bekommen hatte. Sie hatte gemeinsam mit Dimitri die höchste Trefferquote von fünfzehn Schuss erzielt, obwohl sie noch nie vorher mit einer Waffe geschossen hatte. Caroline hatte nur achtmal getroffen und sich mit saurer Miene die Lobeshymnen von Alex auf sie anhören müssen. Als Natasha ihm daraufhin geschmeichelt über den Unterarm gestrichen hatte, hatte sie sich pikiert abgewendet.
Nun plante sie einen geruhsamen Nachmittag. Lange hatte sie jedoch keine Ruhe, da nach einem kurzen dumpfen Klopfen Alex eintrat. Sie drehte sich auf dem Bett herum und sah ihn neugierig an. Konnte sie endlich am Ziel sein? War das möglich?
„Ich möchte gerne mit dir reden“, begann er und stellte sich breitbeinig in den Raum. Sie schwang ihre Beine über das Bett und hockte sich auf die Kante.
„Worum geht es, Alex?“
„Mir ist dein Verhalten in letzter Zeit aufgefallen. Es gibt einige Anzeichen dafür, die mir signalisieren, dass ich mit dir persönlich sprechen sollte.“ Er verzog kaum eine Miene.
Sie sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an, musterte ihn forschend. „Ich weiß nicht genau, was du meinst.“
„Zum einen fällt mir auf, dass du dich zunehmend von den anderen absonderst. Hat das einen bestimmten Grund?“
„Ich bin sehr nachdenklich geworden, was einige Dinge angeht und brauche deshalb mehr Zeit für mich alleine. Den Anstoß hat diese ungeheure Schmach gegeben, glaube ich. Du weißt was ich meine. Wie konnte er das nur tun?“ Sie senkte den Blick.
„Du beziehst dich auf deine Begegnung mit dem T-X.“ Alex Miene schien sich schmerzhaft zu verziehen. „Ich bin mir nicht sicher, dass er so gehandelt hätte, wie er es tat, wenn er die Konsequenzen gekannt hätte.“
„Ja, ein toller Psychopathen-Roboter, von dem unsere Sicherheit teilweise abhängt.“ Ihr Blick wanderte zu seinen Händen, verweilte an den Fingerspitzen. „Er nutzt die Tatsache, dass er sein Aussehen beliebig verändern kann, für Motive aus, die sicher nicht hehr zu nennen sind.“
„Du urteilst etwas vorschnell über ihn, aber das ist nicht der eigentliche Grund, weshalb ich unter vier Augen mit dir reden wollte.“ Seine Miene schien sich zu glätten. „Ich möchte mit dir über dein Verhalten mir gegenüber reden.“
„So? Das hat aber lange gedauert. Ich dachte schon, du begreifst es niemals.“ In einer flüssigen Bewegung rutschte sie vom Bett hinab und landete auf den Füssen vor ihm. Er überragte sie um einen Kopf und musste auf sie hinabsehen.
„Deine ständigen kleinen Andeutungen sind mir nicht entgangen. Die Frage dabei ist, was du dir davon versprichst. Fühlst du dich einsam und suchst in mir eine Art Partnerersatz? Erhoffst du dir auf rein körperlicher Ebene etwas von diesen kleinen Gesten?“ Nun wirkte er fast ein wenig misstrauisch.
„Ich werde dir gleich eine Antwort auf deine Fragen geben. Es wird dich bestimmt überraschen. Komm doch mal schnell mit auf den Flur hinaus.“ Sie war bereits zur Tür hinaus, noch bevor er reagieren konnte.
Er trat auf den Flur und erstarrte.
Natasha hatte das nächstgelegene, an der Wand hängende Sturmgewehr abgenommen, entsichert und richtete es aus einer Entfernung von weniger als drei Metern auf den Brustkorb des hünenhaften Cyborgs. Ihr Gesicht war bar jeder Emotion. „So, wie hättest du es gerne, Mistkerl? Ich weiß selbst, dass ich dir mit dieser Waffe nichts anhaben kann, aber ich bin sicher, so scharf und ständig auf dem Sprung, wie alle zur Zeit sind, werden hier auf dem Flur etwa zwei Sekunden, nachdem ich dieses Magazin in dich hineingepumpt habe, alle anderen der Gruppe stehen. Und ich glaube wirklich nicht, dass dir das in den Kram passen würde.“
„Das stimmt, ich...“ Alex machte einen vorsichtigen Schritt auf sie zu.
„Und wenn du auch nur einen Deut näher kommst als jetzt, werde ich auf jeden Fall schießen. Ich weiß, wie schnell du sein kannst“, schnauzte sie ihn an.
„Okay, du hast gewonnen. Was willst du?“ fragte er ergeben.
„Was wohl? Wissen wer du bist, natürlich. Ich werde es keinem Menschen erzählen, versprochen.“ Sie nickte ihm grimmig zu.
„Das ist ein Wort. Gut, gehen wir ins Zimmer zurück.“ Er drehte sich um und bewegte sich extrem vorsichtig zurück in Natashas Raum. Dabei war er so bedacht wie möglich, keine schnelle oder verdächtige Bewegung zu machen, die sie zum Abdrücken verleiten konnte. Denn ihr Finger war sehr nahe am Druckpunkt des Abzugs gewesen, wie er gesehen hatte.
„Bis zum Fenster weitergehen und dann schön brav mit dem Gesicht zum Fenster stehen bleiben“, gebot Natasha.
„Woher hast du es gewusst?“ erklang die Stimme von Alex, der ihrer Forderung nachkam.
„Ich habe mich bei den anderen ein wenig umgehört, was sie zur fraglichen Zeit gemacht hatten und mit wem sie zusammen waren, während du als ‚Bernd’ bei mir warst. Am Tag nach dem Atomschlag waren alle noch so durch den Wind, dass das nicht weiter aufgefallen ist. Drei Kandidaten sind darauf übriggeblieben.
Ich hatte schon eine Weile einen Verdacht. Zum einen habe ich seit Wochen darauf gewartet, dass du in Alex’ Rolle schlüpfst, um mich nochmals zu besuchen. Zum anderen haben wir gelernt, dass T-1000 und T-X nur das imitieren können, was sie durch physikalischen Kontakt analysieren. Alex’ Finger sind aber nur unzulänglich verheilt, seit er sie im Hochhaus in Freiburg zerschunden hat. Deine Hände hingegen sind makellos. Da wir wenig direkten Körperkontakt mit den Terminatoren haben, waren die Chancen gut, dass du auf eine frühere Gelegenheit zurückgreifst, bei der du ihn berührt hattest, um ihn zu kopieren. Tja“, fuhr sie ungnädig fort, „und jetzt lass mal sehen.“
„Also gut.“ Alex stand stocksteif da, als sich auf seinem Hinterkopf plötzlich ein silbern schimmernder Fleck auftat. Mit einem ungläubigen Aufkeuchen verfolgte Natasha, wie sich der silberne Fleck auf den ganzen Kopf ausdehnte, dann über den Oberkörper und die Arme, bis der gesamte Körper aus flüssigem Quecksilber zu bestehen schien, das aus einem unerfindlichen Grund seine Form beibehielt anstatt zu Boden zu fließen. Gleichzeitig wurde der glänzende Körper schmaler und schmaler, bis er grotesk und unmenschlich in der Silhouette erschien. Der unnatürlich, fast insektenhaft anmutende Kopf und der grotesk dünne Hals wirkten fast unheimlich. Das flüssige Metall verschwand für einen Sekundenbruchteil im Inneren der nun zutage tretenden, unglaublich robust und komplex anmutenden Konstruktion aus künstlichen Gliedmassen, die während des Prozesses gemeinsam mit dem Rückgrat ein Stück zusammenfuhren und dem Cyborg so von einem riesigen, massigen Mann zu einer anderen Statur verhalfen. Noch während der Umwandlung trat das polimimetische Metall wieder aus dem Innern des kühl bläulich leuchtenden Endoskeletts aus und formte eine Gestalt, die Natasha vertraut war.
Als die Metamorphose vollendet war, drehte sich der T-X um und fragte mit einem sanften Lächeln auf den Lippen: „Na, überrascht?“
Natasha war das Gewehr aus der Hand geglitten und mit einem dumpfen Schlag mit dem Lauf voraus auf den Boden gefallen. Mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen starrte sie auf die wahre Gestalt des unbekannten Gönners. „Du? Das ist kein blöder Witz? Du bist es wirklich?“
„Hättest du nicht gedacht, was? Es tut mir leid, was ich dir angetan habe, das musst du mir bitte glauben. Wie gesagt, ich habe vielleicht wirklich ein Rad ab. Und du kannst dir denken, dass es nicht so erfreulich ist, dabei zu sitzen und mitanhören zu müssen, wie alle anderen in offenen Diskussionen meinen Geisteszustand anzweifeln.“ Der T-X sah nun stark bedrückt aus.
„Warum hast du es dann getan? Ich meine, warum bist du in die Rolle von einem von uns geschlüpft? Und...“ Natasha stockte, als ihr etwas aufging. „Oh Gott, was ist mit... mit deinem ‚Original’ passiert?“
„Die Zielperson, die ich schützen wollte, war bereits tot, als ich sie aufgesucht habe. Die anderen Terminatoren haben sie erwischt. Deshalb habe ich deren Identität angenommen und mich von euch aufsammeln gelassen, als die Zeit reif war. So kann ich von innerhalb der Gruppe heraus noch besser für euren Schutz sorgen. Und für euch wirke ich doch menschlich genug, nicht wahr?“ Breit grinsend verschränkte der T-X die Arme vor der Brust.
„Zu menschlich. Aber ändere dein Verhalten jetzt bloß nicht, nur weil ich deine Identität kenne; das würde nur auffallen. Doch eines würde ich doch noch gerne wissen: warum hast du mich in Gestalt von Bernd ‚heimgesucht’?“ Ungewollt musste sie schmunzeln, obwohl die Folgen dieser Affäre für sie höchst unerfreulich gewesen waren.
„Nun, ich wollte dir eine Freude machen. Zu diesem Zeitpunkt wussten wir ja nichts davon, dass Bernd längst nicht mehr solo war, weshalb es offenbar für dich und auch für mich in Ordnung war. Dummerweise sind unsere Freunde nicht auf den Kopf gefallen und haben auch gleich die richtigen Schlüsse gezogen, als alles herauskam.“ Der Cyborg zuckte mit den Achseln. „Wie gesagt, es tut mir leid.“
„Oh, das muss es nicht. Du hast es offenbar nicht böse gemeint damals. Und du hast auch nicht gehört, dass ich mich damals beklagt hatte, oder? Oh Mann, wie krank!“ Natasha schüttelte den Kopf, zögerte kurz und wollte dann wissen: „Wie alt bist du denn jetzt eigentlich? Nicht körperlich, meine ich.“
„Mal sehen: meine CPU befand sich zwölf Jahre im Körper von Daniel im aktiven Zustand, dann fünf Jahre in dem von Abbey. Ich wurde eingemottet, reaktiviert und zurück gesandt, wobei ich durch einen Unfall beim Zeitsprung im Jahr 1955 gelandet bin. Seitdem bin ich ununterbrochen in diversen Erscheinungen aktiv gewesen, davon fünfunddreißig Jahre in männlichen und vierzehn in weiblichen. Insgesamt habe ich einen Erfahrungsschatz von über 66 Lebensjahren. Eine ganze Menge, möchte ich meinen.“ Nachdenklich musterte der Kunstmensch sein Gegenüber. „Und, wie geht es jetzt weiter?“
„Ich werde mir nichts anmerken lassen und wir fahren mit dem üblichen Tagesgeschäft fort.“ Zögerlich nahm Natasha ihre Waffe wieder auf.
„Danke, Natasha. Das werde ich dir nicht vergessen.“
„Ich werde dich daran erinnern, wenn es soweit ist.“ Mit einem Augenzwinkern verließ sie das Zimmer, um das Gewehr wieder an die Wand zu hängen.
Hallevik, Insel Rolla, Troms Fylke, Norwegen 20. März 2005
Es herrschten inzwischen beinahe zwölf Stunden Tageslicht, von denen gut eine Stunde um die Mittagszeit hell genug war, um die Jalousien wieder auszulösen. So legten sie das gemeinsame Mittagessen auf die Zeit, in der sie hinaus auf den Vågsfjorden sehen konnten, wo unzählige Eisschollen in einem geschlossenen Teppich langsam vom Golfstrom nach Norden getrieben wurden. Von den Vesterålen am fernen anderen Ufer war bei den dichten, tiefhängenden Wolken nichts zu sehen. Es lag noch immer kniehoch Schnee, der die schwach verseuchten Bodenschicht abdeckte.
Ihre Rationen nahmen weiterhin ab, wenn auch so unmerklich, dass sie sich schon weit zurückerinnern mussten, um sich die reelle Kürzung vor Augen zu halten. Sie waren durch das ständige körperliche Training, das in einem vernünftigen Rahmen gehalten wurde, um sie nicht zu sehr auszuzehren, belastbar und genügsam geworden. Abbey und Daniel waren nicht ohne Grund stolz auf die Gruppe, die mittlerweile für so ziemlich alles bereit schien. Die Bande, die zwischen ihnen geschmiedet war, konnte man nicht mehr ohne weiteres durchtrennen.
Sie saßen nach dem Essen noch am Tisch und unterhielten sich über belanglose Dinge oder sahen hinaus auf den düsteren, trüben Fjord, als etwas Bernds Aufmerksamkeit erregte. Er stand auf, trat ans Fenster und starrte hinaus. Sofort wurde es ruhig am Tisch und einige andere standen ebenfalls auf.
„Was ist?“ fragte Aishe und trat neben ihn an die Scheiben der Fensterfront.
„Ich dachte, ich hätte was gesehen...“ Er klang unsicher.
„Auf dem Wasser?“ Shin war ebenfalls neugierig geworden.
Caroline sprang auf und deutete nach draußen. „Da, ich sehe es auch. Am Himmel!“
Alle richteten ihren Blick auf die schmale Linie zwischen Horizont und bleierner Wolkendecke. Karin sagte zweifelnd: „Ist das ein Flugzeug?“
„Nein, ein Hubschrauber.“ Caroline kniff die Augen zusammen. „Scheint ein ziemlich großer zu sein.“
Bernd stimmte zu: „Ja, sieht nach einem westlichen Modell aus. Er fliegt quer zu uns über die Mitte des Fjordes, etwa fünf Kilometer entfernt von uns.“
„Meint ihr, sie haben uns entdeckt?“ fragte Aishe ein wenig ängstlich.
„Glaube ich nicht. Mich wundert, dass überhaupt noch irgend jemand in der Gegend ist, der einen Hubschrauber unterhalten kann.“ Dimitri kratzte sich nachdenklich am Kinn. „Ich werde mal in der Küche Bescheid sagen...“
„Seht euch das an!“ schrie Shin aufgeregt. Sofort spähten alle wieder aufmerksam hinaus. „Sieht aus, als ob er runtergeht.“
„Will er etwa auf dem Eis landen? Aber das ist doch viel zu dünn und brüchig, um so eine schwere Maschine zu tragen...“ Ana schüttelte ungläubig den Kopf.
„Dieser Helikopter hat Schwimmer. Er kann notfalls auf dem Wasser landen. Aber er ist viel zu schnell dafür... oh mein Gott!“ Dimitri brach ab, als er mit Entsetzen wie alle anderen auch sah, dass der massige Rumpf des Drehflüglers mit hoher Geschwindigkeit und in flachem Winkel auf die Eisdecke prallte, nochmals einige Meter aufstieg und dann endgültig auf die Oberfläche aufschlug. Dabei schlitterte er halbwegs über die Eiskruste, die sofort unter ihm wegbrach und ihn dabei unsanft abbremste. Der Rumpf drehte sich dabei langsam zur Seite und neigte sich, bis die ersten Rotorblätter das Eis berührten und augenblicklich wegbrachen, alle innerhalb einer Umdrehung des Rotors. Es sah höchst spektakulär aus, wie die insgesamt fünf riesigen, mindestens zehn Meter langen Auftriebsblätter in hohem Bogen in alle Richtungen davon geschleudert wurden, sich in der Luft weiter drehten und sich überschlugen, bis sie irgendwann auf dem Eis aufkamen und unmittelbar unter die Oberfläche verschwanden.
Der hellgraue Rumpf des Hubschraubers drehte sich im Weiterrutschen weiter, bis er fast querstand und sich selbst in eine Rollbewegung versetzte. Er überschlug sich dreimal seitlich, wobei der Heckrotor ebenfalls abbrach. Wie durch ein Wunder kam er dann auf seiner Unterseite zu liegen, sank aber durch die Bootsform seines Rumpfes nicht, sondern trieb in dem kleinen länglichen See, den er selbst in die dünne Eisdecke gerissen hatte.
„Oh shit! Ob das jemand überlebt hat? Das hat echt übel ausgesehen.“ Wie Shin konnte niemand so recht glauben, wessen sie da gerade Zeugen geworden waren. Die Tatsache, dass sie durch das dicke Panzerglas der Fenster hindurch keinen einzigen Laut von der Havarie draußen vernommen hatten, machte die Szene etwas unrealistisch.
Caroline hatte ihren Kopf durch die Küchentür gesteckt und rief hinein: „He, wir habe gerade einen Hubschrauberabsturz mitangesehen. Etwa drei Kilometer westlich und einen nördlich von hier, mitten im Fjord. Sah nach einem größeren Marinehelikopter aus, wahrscheinlich eine Sikorsky. Er ist fast ungebremst aufs Eis geknallt, treibt aber noch auf dem Wasser.“
Sofort war Daniel im Wohnraum und eilte zum Fenster. „Tatsächlich, eine Sikorsky S-61 Sea King. Ein Transport- und U-Boot-Jagdhelikopter der Royal Navy. Woher kommt der denn?“
„Ist das schlimm für uns?“ zeigte sich Aishe wie stets um ihr Wohlergehen besorgt.
„Wir haben ein großes Problem“, antwortete er. „Wir wissen nicht, ob es weitere Kräfte gibt, die nach dieser Maschine suchen werden. Wenn ja, dürfen sie das Wrack auf keinen Fall hier vorfinden. Ich sage Alex Bescheid, Abbey wird bei euch bleiben.“
„Was... was meint er damit?“ fragte sich Karin laut.
„Dimitri, Natasha, zieht Kälteschutzanzüge an und kommt sofort in die Garage. Wir könnten euch vielleicht brauchen.“ Daniel war bereits aus dem Zimmer heraus, bevor auch nur einer reagieren konnte.
„Cool, ein Einsatz.“ Dimitri machte sich sofort auf, dicht gefolgt von Natasha, die nur über die Schulter zu Karin sah und ahnungslos mit den Schultern zuckte.
„So ein Mist, endlich passiert hier mal was und dann müssen wir schön brav hier sitzen bleiben und zusehen“, wetterte Shin missmutig und sah hinaus zum Helikopter, der unverändert im Fjord trieb, nun jedoch fast eingeschlossen von den langsam nachrückenden Eisschollen.
„Was sie wohl vorhaben?“ fragte Simon sich.
„Wahrscheinlich werden sie mit dem Boot, das unter dem Dach der Garage gelagert ist, zum Wrack rüberfahren“, vermutete Bernd. „Wird sicher nicht einfach bei all dem Treibeis. Ich möchte mal wissen, was Daniel vorhat.“
Alex war bereits zu Daniel gestoßen, als Dimitri und Natasha dick eingemummt gegen die Kälte in die Garage traten. Sie bemerkten, dass das rechte Tor offen stand und gingen ins Freie, wo sie eine Überraschung erwartete. Eine Querseite des steilen Giebeldaches war komplett hochgeklappt und ruhte auf stabilen, armdicken Hydraulikhebern. Mittels einer nachträglich angehängten Leiter waren die beiden Cyborgs hoch in den geräumigen Hohlraum unter dem Garagendach geklettert und hatten zwei schmale, mindestens zehn Meter lange Rampen zutage gefördert und brachten diese gerade am Rand des Daches an, sodass das Boot auf diesen Rampen zu Boden gleiten konnte. Als der Rumpf des Bootes heraus geschoben wurde, erschien jedoch kein spitz zulaufender Bug, sondern ein dunkler, unförmiger und runder Gummiwulst.
„Was ist das denn?“ Natasha konnte mit dem Gebilde nichts anfangen, doch Dimitri strahlte auf einmal.
„Ein Luftkissenboot! Genial!“
„Ein...? Echt? Oh Mann, das wird ja immer besser.“ Natasha wusste nicht recht, ob sie sich der Freude von Dimitri anschließen oder skeptisch bleiben sollte.
„Damit ist es kein Problem, zum Helikopter zu kommen. Auf Eis sind diese Dinger sogar noch schneller als über Wasser. Wie viel macht es?“
„Mehr als 70 km/h auf Eis“, bestätigte Alex und ließ das dunkelgrün gestrichene Gebilde, das haargenau unter das Dach zu passen schien, langsam mit Hilfe einer Winde die Rampe hinabgleiten. Es war etwa neun Meter lang und etwa vier ein halb Meter breit, schien jedoch relativ flach und gedrungen von der Form her. Der Aufbau setzte sich aus einem kleinen Cockpit für eine Person und einer Kabine, in der man nicht aufrecht stehen, sondern nur sitzen konnte, zusammen. Am Heck befand sich ein großer Antriebsrotor mit über einem Meter Durchmesser.
„Dies hier ist ein englisches Griffon 1000 TD. Wir haben eine Transportkapazität von zwölf Personen oder einer runden Tonne Fracht mit diesem Boot, bei einer maximalen Fahrtdauer von siebzehn Stunden. Dies ist ein Militärmodell, das der T-X aus Altbeständen in England erworben, generalüberholt und in jedweder Hinsicht modernisiert hat. In dieser Region ist es das ideale Fortbewegungsmittel, da es über Wasser, Eis, flaches Land und bei umsichtiger Steuerung sogar langsam über Strassen bewegt werden kann. Es wird von einem deutschen Motor, einem zweihundert-PS-Diesel von Deutz angetrieben.“ Daniel klinkte den Haken der Winde aus, nachdem das Fahrzeug vollständig herab gelassen war, um dann zusammen mit Alex die Rampen wieder unter dem Dach zu verstauen und dieses zu schließen.
„Sieht echt cool aus.“ Dimitri konnte gar nicht mehr an sich halten vor Begeisterung und umrundete das Luftkissenboot einmal, während Natasha beunruhigt auf den Fjord hinaussah, wo sich die unzähligen Eisschollen aneinander rieben und sich gegenseitig kaum merklich weiter durch die Meerenge schoben.
Daniel und Alex stiegen nacheinander durch die schmale Luke in der Mitte der Kabine und bedeuteten ihnen nach zu folgen. Schweren Herzens kletterte Natasha über den dicken Gummiwulst, unter dem das Luftpolster gebildet wurde, um sich dann in die enge und finstere Kabine hinabzulassen. Sie zog die Luke hinter sich zu und studierte den Schließmechanismus einige Sekunden, bevor sie die Tür verriegelte. Knapp unter der Decke der Kabine waren in die Seitenwände zwei schmale Fensterreihen eingelassen, die ein wenig Licht in die Kabine ließen. Der Durchgang zum Cockpit war ebenso eng gebaut, doch ihre beiden Mentoren hatten sich bereits auf die Vordersitze gezwängt und ließen nun die Motoren an.
Die beiden Passagiere setzten sich auf die vordersten beiden der zwölf Sitze direkt neben der Luke zum Cockpit, um soviel wie möglich sehen zu können. Sie spürten das leichte Schwanken, mit dem sich das Boot vom Grund erhob, als sich das Luftkissen mit laut vernehmbarem Heulen unter ihm aufbaute. Ein seltsames Gefühl, dachte Natasha, doch dann begann sich das Gefährt bereits vorwärts zu bewegen und beschleunigte zügig, während es auf die Küste zuhielt. Bei jeder Lenkbewegung legte es sich ein wenig quer und schob über die Seite, bis es die neue Fahrtrichtung eingeschlagen hatte. Das war gewöhnungsbedürftig, machte seltsamerweise aber auch Spaß, wie Natasha nach kurzer Zeit fand.
Sie rasten nun mit beängstigendem Tempo über das Treibeis und näherten sich dem havarierten Hubschrauber rasch. Nach nur zwei Minuten drosselte Alex die Fahrt und ging langsam in eine Umrundung des Wracks, um es von allen Seiten begutachten zu können.
Daniel resümierte die gemachten Beobachtungen: „Der Rumpf ist stark beschädigt, zerbeult und weist mehrere größere Risse in der Struktur auf. Rotor und Heck sind verloren gegangen, doch die Unterseite scheint intakt, der Rumpf ist schwimmfähig. Keine Lebenszeichen an Bord zu bemerken.“
Sie krochen langsam auf eine Luke an der rechten Seite zu, neben der Alex das Griffon in der Schwebe hielt. Daniel kam nach hinten und öffnete den Ausstieg, durch den sogleich die eisige trockene Arktisluft hereinströmte. Er beugte sich vor und rüttelte am Türgriff der Schiebetür des Helikopters, doch sie war vom Absturz derart verzogen, dass sie sich nicht mehr auf ihren Schienen bewegen ließ. Kurzentschlossen packte er die Tür an ihren Aussenkanten und riss sie unter lautem metallischen Kreischen aus ihren Führungen, wonach er sie einfach fallen ließ. Sie brach durch die dünne neugebildete Eisschicht rund um den Rumpf der Sikorsky und versank augenblicklich. Daniel indes bedeutete ihnen im Boot zu bleiben und sprang mit einem beherzten Satz den knappen Meter vom Luftkissenboot ins finstere Innere des Transporthubschraubers.
Mit zunehmendem Bangen warteten Dimitri und Natasha auf ein Zeichen von ihm, doch er brauchte etwa zwei Minuten, um den geräumigen Innenraum auszukundschaften. Dann erschien er an der Luke und rief zu ihnen hinein: „Kommt schnell, es gibt viel zu tun.“
Sie sahen sich an und schluckten, dann kamen sie seiner Anweisung ohne weiteres Zögern nach. Kurz nacheinander sprangen sie hinüber in die gähnende dunkle Öffnung in der Flanke des Sea King, wo Daniel sie auffing. Im ersten Moment wirkte die Hauptkabine wie ein Trümmerfeld. Sie war offenbar bis unters Dach mit Unmengen an verschiedensten Vorratsgütern, Lebensmitteln und Ersatzteilen vollgeladen worden. Die Verzurrung der Paletten hatte die drei Überschläge erwartungsgemäß nicht überstanden, weshalb alles kreuz und quer übereinandergeworfen worden war und man kaum noch erkennen konnte, wo oben und unten war. Mit Grausen erspähte Natasha eine postmortal erstarrte Hand, welche unter einem Haufen von umgeworfenen Kisten herausragte.
Noch während sich ihre Augen ans Zwielicht in der Hauptkabine gewöhnten, informierte er sie: „Dies war ein Patrouillen- und Versorgungsflug mit kleiner Mannschaft. Es gab fünf Besatzungsmitglieder an Bord, von denen zwei noch leben. Einer von ihnen ist so schwer verletzt, dass wir nichts mehr für ihn tun können. Er hat multiple Frakturen, viel Blut verloren und ist aufgrund der vermuteten inneren Verletzungen nicht transportfähig. Der zweite hatte Glück und war angeschnallt auf einem Beobachterplatz im Heck des Cockpits. Er ist ohne Bewusstsein und hat wahrscheinlich ebenfalls mehrere Knochenbrüche sowie eine schwere Gehirnerschütterung, wird jedoch durchkommen.
Ihr werdet euch von den Vorräten in der Kabine hier so viel schnappen, wie ihr könnt, und die Sachen ins Boot verfrachten. Wir haben etwa eine Stunde, um voll zu laden, bevor wir umkehren müssen. Ich möchte aber nicht so lange warten, damit der Verletzte nicht noch weiter auskühlt und sich seine Chancen noch verschlechtern.“
„Dann fahren wir den Verletzten eben zuerst zurück und kommen wieder, um die Fracht zu bergen. Es sind doch nur ein paar Minuten Fahrt bis zum Haus und zurück“, schlug Natasha vor, worauf Dimitri sie verblüfft anstarrte.
„Du hast recht, wir werden es so machen. Das Leben dieses Menschen ist wichtiger als eventuelle Güter, die wir hier noch ergattern können. Der Rumpf des Helikopters ist weitgehend intakt, sodass er von selbst nicht sinken wird. Schnappt euch einfach soviel ihr tragen könnt für diesmal.“ Daniel nickte und wirkte nachdenklich, während er nach vorne und oben kletterte, um in den Cockpitbereich zu gelangen.
Einen Moment darauf war er mit dem Verletzten zurück und trug den schlaffen, leblos scheinenden Körper zur Luke. Sie konnten nichts von ihm erkennen, als Daniel ihn vorsichtig hinüberwuchtete und ins Innere des Luftkissenbootes bugsierte.
Sie waren kaum zurück aufs Hovercraft gesprungen und ins Innere der Kabine gekrochen, als Alex auch schon stark beschleunigte und mit Höchstgeschwindigkeit aufs Ufer zuschoss. Natasha konnte nun einen ersten Blick auf den ohnmächtigen Insassen des Helikopters werfen. Er hatte kurzgeschorenes, schwarzes Haar und ein markantes, eckiges Gesicht mit einer Adlernase und einem kräftigen Kinn sowie einen breiten Mund mit schmalen Lippen. Für sie wirkte er wie ein Südeuropäer, auch aufgrund des drahtigen, schmalen und nicht zu großen Körperbaus.
„Wer das wohl ist?“ fragte sie sich, doch Daniel hatte sie gehört.
„Das ist Nicolas Fraisier.“
Dimitri fuhr herum. „Du... du kennst ihn?“
„Das will ich wohl meinen. Er ist der Anführer der europäischen Widerstandsbewegung.“
In kürzester Zeit wurde der Verwundete ins Haus geschafft und ins leerstehende Zimmer neben der Luftschleuse gebracht, das kurzerhand zur Krankenstation erklärt wurde. Aus praktischen Erwägungen übernahm Alex die Versorgung ihres Neuankömmlings, wobei ihm die ehemaligen Medizinstudenten Silke und Bernd assistierten. Da sowohl Daniel wie auch Abbey jeweils einhundert Kilogramm weniger wogen als Alex, übernahmen sie die Leitung der Bergungsoperation der Helikopterfracht. Und um zusätzliches Gewicht zu sparen, das sie dafür an Fracht aufnehmen konnten, nahmen sie als Ladehilfen nur die leichtesten mit, nämlich Aishe, Caroline und Shin.
Bei ihrer Rückkehr trafen die drei auf Natasha, als sie die Kellertreppe heraufkamen. Sie war die einzige, die vor der Tür des Krankenzimmers Wache hielt, während alle anderen in den Wohnraum übergewechselt hatten. Erstaunt fragte Aishe: „Was tust du denn noch hier?“
„Ich weiß auch nicht, ich möchte einfach wissen, wie es ihm geht. Sie sind seit einer Stunde da drin und verarzten ihn, aber mich lassen sie nicht rein. Nur einmal hat Silke den Kopf zur Tür rausgesteckt und mich eine Schüssel warmes Wasser holen lassen. Und bei euch?“
Shin stöhnte auf: „Was für ein Trip! Wir haben das Luftkissenboot überladen und wären um ein Haar abgesoffen, als wir alle zurück ins Boot gestiegen sind. Unsere beiden T-880 rätseln jetzt noch herum, wo der Fehler liegen könnte. Na ja, soviel zur hochgelobten Technik der Elektronengehirne. Aber dass man sich bei 800 kg Fracht um über einhundert Kilo verrechnen oder verschätzen kann... wenn wir nicht aufs Geratewohl in Windeseile alles Greifbare über Bord geworfen hätten, hätte uns niemand mehr helfen können.“
Aishe fügte hinzu: „Ja, und das Beste ist, dass Daniel bei unserer Abfahrt ganz cool mal so eben zwei Handgranaten in die Kabine geworfen und so den Hubschrauber versenkt hat. Jetzt deutet nichts mehr darauf hin, dass er jemals auf dem Fjord notgelandet ist. Das Eis hat sich im Nu wieder über ihm geschlossen.“
„Ja, und über das Luftkissenboot haben wir ein Wintertarnnetz gespannt. Es ist aus der Luft oder vom Wasser aus so gut wie nicht zu entdecken“, komplettierte Caroline den Bericht.
Natasha sah zu Shin hin. „Und was habt ihr so alles geborgen?“
„Vor allem Trockenfutter, Notrationen und so weiter. Das Zeug hält ewig und reicht uns jahrelang, wenn unsere Vorräte einmal ausgehen werden. Außerdem medizinische Versorgungsgüter und allgemeine technische Ersatzteile. Wenn man die Lage berücksichtigt, in der sich die Weltwirtschaft momentan befindet, ist das ein unermessliches Vermögen, was wir da rausgeholt haben.“
Caroline zog einen Mundwinkel hoch: „Irgendwas hast du nicht verstanden, Shin. Es gibt keine Weltwirtschaft mehr und sie befindet sich auch nicht momentan in irgendeiner Lage. Die gesamten Produktionskapazitäten der Industrienationen sind unwiederbringlich ausradiert worden.“
Er winkte ab. „Ja, schon gut. Ich habe nur versucht, ein wenig optimistisch zu sein.“
„Und ich versuche, ein wenig realistisch zu sein.“
Worauf Shin zur Kellertreppe wies. „Na ja, wenn du mal lachen willst, da geht’s lang.“
Worauf sie tatsächlich kurz auflachte.
Aishe legte einen Arm um Natashas Schultern. „Komm schon, Mädchen, hier kannst du im Moment nichts tun. Wir gehen am besten zu den anderen ins Wohnzimmer.“
„Ja, gut,“ willigte Natasha zögerlich ein, „ich habe nur das Gefühl, als müsste ich irgendetwas tun. Eigentlich blöd, ich weiß.“
Hallevik, Insel Rolla, Troms Fylke, Norwegen 23. März 2005
Am späten Vormittag kam die Gruppe nach dem Sport aus der Dusche und versammelte sich am Esstisch. Es würde noch ein wenig dauern, bis das Mittagessen soweit wäre, sodass sie die Ereignisse der letzten Tage Revue passieren ließen. Die Jalousien waren oben und boten den gewohnten düsteren Ausblick auf den halb vereisten Fjord unter bleiernen, tiefhängenden Wolken.
„Was neues über Nicolas?“ fragte Natasha als erstes, sobald sie Daniel vom Flur her in den Wohnraum kommen sah.
„Er ist noch bewusstlos, aber sein Zustand ist nicht mehr kritisch. Die Brüche sehen gut aus, die Fixierungen halten zuverlässig, auch wenn er sich bewegen sollte. Ich schätze seine Chance, durchzukommen, sehr gut ein.“ Mit dieser kurzen Prognose verabschiedete er sich wieder in die Küche.
„Euch ist klar, dass er nicht erfahren darf, welche Rolle er eigentlich spielt, nicht wahr?“ fragte Bernd in die Runde.
Worauf Natasha ihn fragend ansah. „Wie kommst du darauf?“
„Stell’ dir doch mal vor, wie er auf so eine Offenbarung reagieren würde. Er weiß ja noch nicht einmal, wie ihm geschehen ist.“
„Uns hat die Wahrheit doch auch nicht sonderlich geschadet, oder? Und wir sind dem enormen psychischen Druck ausgesetzt gewesen, schon im Voraus zu wissen, was der Welt bevorsteht“, argumentierte Natasha energisch.
„Ich glaube eher, uns hat das geholfen“, widersprach Aishe mit nachdenklicher Miene. „Stell’ dir nur mal vor, uns hätte das aus heiterem Himmel getroffen. Welchen Schock all die anderen Menschen verarbeiten mussten, deren Welt und deren Leben ohne jede Warnung in Schutt und Asche versunken ist.“
„Aber wir wissen auch, dass es noch schlimmer werden wird. Und aus diesem Wissen können wir ein wenig Kraft schöpfen, indem wir uns geistig darauf vorbereiten. Ich glaube, dass das auch für Nicolas gelten wird. Sobald er die Realität akzeptieren wird, kann auch er sich für das wappnen, was kommen wird.“ Karin senkte den Kopf. „Auch wenn dieser Weg für ihn lang und hart werden könnte.“
In diesem Moment veränderte sich etwas.
Es war eigentlich nur eine Kleinigkeit, doch ihre Sinne waren so geschärft, dass es allen fast augenblicklich auffiel.
Shin sprach es aus: „Die Lüftung ist ausgegangen.“
„Was ist da los?“ Ana stand auf und öffnete die Küchentür, in der auch sofort Abbey erschien.
„Der Strom ist ausgefallen. Vermutlich ist der Generator festgefroren oder etwas verstopft die Fallleitung. Daniel steigt gerade hoch zum Kontrollraum und stellt auf Batterie um, bis wir den Schaden behoben haben.“
„Batterie?“ echote Silke. „Was für eine Batterie?“
„Ach, tut mir leid, das hatten wir gar nicht erwähnt, nicht wahr? Im Falle eines Stromunterbruchs verfügen wir über eine Anzahl von Akkumulatoren, die zwischen Decke und Wassertanks unter dem Dach gelagert sind. Es sind russische Produkte, die auch für dieselelektrische U-Boote verwendet werden. Ein siebzig Meter langes Boot mit 7000 Tonnen Verdrängung kann zwei Tage lang mit dieser Ladekapazität getaucht fahren und dabei vierhundert Seemeilen zurücklegen.
Sie werden ständig vom Generator geladen, der auch das Haus versorgt. Sie allein könnten uns für Wochen mit Energie versorgen, doch im äußersten Notfall haben wir auch noch einen kleinen Dieselgenerator im Keller, der aber nur als letzter Ausweg gedacht ist, da er natürlich unseren kostbaren Heiz- und Kraftstoff verfeuert.“
Bernd schüttelte nur den Kopf. „Der T-X hat wohl wirklich an alles gedacht, was?“
„Ja, nur nicht daran, dass bei Frost auch größere Stücke des Felsens losgesprengt werden können und den Einlauf des Fallrohrs verschließen könnten. Wir schicken gleich Alex raus, der sieht erst mal nach, wo das Problem liegt. Euer Tagesablauf wird davon nicht beeinträchtigt werden. Daniel bringt euch nachher das Essen.“ Damit verschwand Abbey wieder, um wie immer irgendeiner Tätigkeit im Haus nachzugehen, welche sich ihrer Kenntnis entzog.
„Immerhin hat der Strom den ganzen Winter über nicht einmal schlapp gemacht“, gab Dimitri zu bedenken. „Ich hätte schon viel früher damit gerechnet, dass alles irgendwann einfriert. Das liegt sicher an der windgeschützten Lage der Fallleitung und am steilen Gefälle.“
„Na ja, aber wenn alles zugeschneit wird und die Temperatur ständig unter dem Gefrierpunkt ist, muss es doch irgendwann einfrieren.“ Nach Karins Einwurf wurde noch über dieses Thema diskutiert, bis Daniel trotz der zusätzlichen Arbeit mit der Stromversorgung pünktlich das Essen auftischte. Noch hatten sie Tiefkühlkost wie Gemüse und Fleisch, die an genießbares frisches Essen entfernt heranreichte, doch das würde nicht für immer so sein, wie manche von ihnen beim Kauen sinnierten.
Das Makabre dabei war, dass nicht mehr viele Menschen lebten, die etwas zu Essen brauchten, sodass andererseits kein Engpass in der Bevölkerung bestand.
Der Nachmittagsunterricht war beendet und sie hatten noch eine Stunde Zeit bis zum Abendessen. Die meisten von ihnen gingen wie stets kurz in ihre Zimmer, würden sich jedoch bald im Wohnraum einfinden oder, falls sie sich im Flur vor den Zimmern trafen, dort für ein kurzes Schwätzchen verweilen. Natasha war wie stets als erste ins Krankenzimmer geeilt, um nach ihrem Schützling zu sehen, was natürlich auch für Gerede in der Gruppe sorgte.
Daniel kam die Kellertreppe hinauf, in dicke Winterkleidung gewandet, und steuerte die Schleuse an, was von Karin, Caroline, Shin und Aishe verwundert zur Kenntnis genommen wurde.
Karin konnte nicht umhin, zu fragen: „Wolltet ihr nicht Alex zur Reparatur hinaus schicken?“
Er sah auf, wobei sich ihre Blicke trafen. „Das haben wir. Er ist noch nicht zurück gekehrt. Ich gehe nachsehen, ob er Hilfe bei der Reparatur braucht.“
„Ihm wird doch hoffentlich nichts passiert sein?“ befürchtete Aishe, wie immer besorgt um alles und jeden.
„Er ist ein Terminator. Viel kann ihm nicht passiert sein, außer dass er abgestürzt ist. Der Einlauf der Fallleitung liegt immerhin über zweihundert Meter hoch in der Steilwand des Osthanges des Rolla. Wenn er dort bei dem vielen vom Frost losgesprengten Gestein auf eine lose Stelle getreten ist, kann das schon passiert sein.“
„Vielleicht hätte einer von euch T-880ern gehen sollen, immerhin wiegt ihr jeweils hundert Kilo weniger und wärt nicht so stark gefährdet beim Klettern“, gab Shin zu bedenken.
„Das mag sein, ist jetzt aber nicht mehr zu ändern. Abbey ist in der Küche, wenn etwas sein sollte. Bis nachher.“ Er winkte zum Abschied kurz und betrat die Schleuse, die sich mit einem metallischen Klicken schloss.
Als er gerade das Haus verlassen hatte, kam Natasha aus dem Krankenraum heraus. Ihre Miene spiegelte tiefe Sorge und Mitgefühl. Karin erkannte sie kaum wieder. Leise fragte sie: „Wie geht es ihm?“
„Er ist noch immer ohne Bewusstsein. Daniel hat zwar gesagt, er ist auf dem Weg der Besserung, doch er wirkt so schwach und hilflos auf mich. Es tut mir richtig weh, ihn so daliegen zu sehen.“ Ihre Augen wurden wässrig.
„Es wird schon alles gut werden. Lass den Kopf nicht hängen, Mädchen.“ Karin tätschelte ihr tröstend auf die Schulter. Sie verschwand wortlos in ihrem Zimmer.
Shin sah ihr nach. „Könnt ihr das verstehen? Sie ist wie ausgewechselt. Ich habe das Gefühl, ich kenne sie gar nicht mehr.“
Aishe belehrte ihn: „Ist doch klar. Ihr Herz zerbricht, wenn sie ihn so leiden sieht. Sie ist ihm vom ersten Augenblick an verfallen, mit Leib und Seele.“
Caroline stutzte. „Glaubst du wirklich, sie ist in ihn verliebt? Aber... sie kennt ihn doch noch gar nicht! Sie hat ihn noch niemals in wachem Zustand erlebt. Das kann doch nicht sein!“
„Glaub mir, es gibt die Liebe auf den ersten Blick. Du bist von den Beweisen umgeben. Mach nur die Augen auf, meine Liebe.“ Aishe lächelte Shin an, der darauf wie ein Schuljunge zu grinsen begann.
„Na ja, ein bisschen spielen da wohl auch die extremen Umstände mit, oder nicht?“ Die kleine Elsässerin winkte ab und begab sich auch auf ihr Zimmer, um nach Natasha zu sehen.
„Wir sehen uns nachher.“ Karin trennte sich von ihren Freunden und betrat ihr eigenes Zimmer, wo sie Bernd direkt in die Arme lief.
„Hi, ich wollte gerade in den Wohnraum. Kommst du auch?“ Er ergriff sie an der Hüfte und zog sie an sich, um ihr einen Kuss zu geben, unter dem sie lachen musste.
„Gleich, Schatz, ich möchte mich nur noch schnell umziehen.“ Sie holte einen gemütlichen Jogginganzug aus ihrem Schrank und legte ihn sich zurecht.
Er zog ihr das Shirt aus dem Hosenbund. „Lass mich dir helfen.“
„Lass das, du Spinner! Wir können nicht ständig wie die Karnickel...“ Sie lachte erneut und schlug ihm spielerisch auf die Finger.
„Warum nicht? Nenn mir einen vernünftigen Grund.“ Er zog sie erneut an sich, sodass sie spürte, dass er durchaus bereit war, die Herausforderung anzunehmen.
„Wir verbrennen zu viele Kalorien. Geh lieber kalt duschen, bis ich ins Wohnzimmer komme.“ Sie gab ihm einen Klaps auf den Hintern und kümmerte sich nicht um seine – halbwegs – gespielte enttäuschte Miene, als sie ihn hinausschickte.
Und als sich die Tür schloss, starrte sie eine Sekunde nachdenklich auf das Holz vor sich. Ein seltsames Gefühl beschlich sie. Was war das nur?
Ihr Leben hatte sich so dramatisch verändert. Und das beste daran war eindeutig Bernd.
Daniel stapfte durch den fast knie hohen Schnee auf den Spuren, die Alex vor ihm gemacht hatte, auf den Sockel des über neunhundert Meter hohen ebenfalls schneebedeckten Rolla zu. Das obere Ende der Fallleitung, an dem Alex vielleicht noch arbeitete, hätte er nicht sehen können, da die Wolken so tief hingen, dass sie diesen Teil des Berges bereits einhüllten. Gleich nach der nächsten Biegung musste er in Sichtweite der rechts neben der Zufahrtsstrasse gelegenen Turbine am Ende der Fallleitung kommen. Er konnte nur mutmaßen, weshalb Alex sich nicht meldete. Doch noch hatte er keinen Grund dafür, etwas schlimmes zu befürchten.
Er ließ den letzten Felsvorsprung neben sich und sah ihn sofort. Alex lag nur wenige Meter neben der geschickt in die Landschaft eingepasste Turbine auf dem Bauch im Schnee und bewegte sich nicht. Eine deutliche Spur den Hang hinauf zeigte, wo er abgerutscht und den Hang hinabgestürzt war. Über zweihundert Meter an der beinahe senkrechten Steilwand waren auch für einen T-800 viel, sodass es Daniel nicht wunderte, dass sein kybernetischer Kollege außer Betrieb war.
Er überblickte die Szene in einem Sekundenbruchteil. Alex musste den Generator als erstes untersucht und für funktionstüchtig befunden haben, worauf er dann den lebensgefährlichen Anstieg zum oberen Ende des Fallrohres angetreten war. Bei diesem Wetter mit ständigem Nachtfrost lief Wasser in die Spalten des Vulkangesteins und gefror nachts, wobei es sich ausdehnte und durch diese erzielte Hebelwirkung kleine Stücke Gestein vom Felsen absprengte. Wenn genügend dieser Steinsplitter in der passenden Form und Größe genau vor das Einlaufgitter gefallen waren, war es denkbar, dass der Wasserdurchsatz nicht mehr gegeben war. Und sobald das Wasser bei dieser Kälte nicht mehr in Bewegung war, gefror es unweigerlich.
Daniel konnte nur hoffen, dass das Turbinengehäuse des Generators unten dabei leergelaufen war, wie es seine Konstruktion vorgesehen hatte, denn wenn es noch mit Wasser gefüllt gewesen wäre, als es ebenfalls zufror, konnte man es wahrscheinlich nicht mehr in Betrieb nehmen. Und dann hieß es Strom mit dem kleinen Dieselgenerator im Keller erzeugen, was sie Unmengen von kostbarem Heizöl kosten würde. Da Alex zur Zeit außer Funktion war, war seine Bergung und Reparatur, falls überhaupt durchführbar, zweitrangig, da der Zeitfaktor, wann dies geschehen würde, unerheblich war. Er setzte seine Prioritäten und entschied sich dafür, zunächst die nötigen Reparaturen in Angriff zu nehmen.
Daniel machte sich also auf den Weg, erstarrte aber schon nach einem Drittel des Weges nach oben, als sich auf einem kurzen Stück die Wolken über ihm ein wenig lichteten und er einen ungehinderten Blick auf die Entnahmestelle für das Fallrohr werfen konnte. Er sah genau den Beginn der tiefen Furchen in Schnee und Fels, wo der Cyborg mit seiner Vierteltonne Gewicht hinabgestürzt war.
Und er sah ein Stück darüber Spuren im Schnee, die von oben kamen und nach oben auf den Gipfel führten. Dann fielen ihm die Spuren von versengtem Gestein an der Stelle auf, wo Alex neben dem Einlauf gearbeitet hatte. Daniel brauchte nicht lange, um einen logischen Schluss zu ziehen.
Jemand hatte sich die Mühe gemacht, den Berg von der abgewandten Seite aus zu besteigen und sich von oben hierher hinabzulassen, damit im Schnee auf dieser Seite keine Spuren von ihm erkennbar sein würden. Den Einlauf der Fallleitung verstopfte der Unbekannte, um so ihre Stromproduktion lahm zulegen. Wohlwissend, dass jemand kommen würde, um den Schaden zu inspizieren und zu beheben, lag dieser Jemand dann auf der Lauer, um bei Alex’ Erscheinen zuzuschlagen. Dann brauchte er nur noch darauf zu warten, dass noch jemand kommen würde, um nach dem abgestürzten Terminator zu sehen.
Jetzt war nur noch Abbey bei der Gruppe im Haus.
Und er saß jetzt hier oben in der Felswand.
Nein.
Er ließ einfach los und rutschte halbwegs, stürzte halbwegs den steilen Hang hinab, um dann jedoch sanft das letzte auslaufende Stückchen zu rutschen und im hohen Schnee nur knapp neben Alex zu landen. Mit einer hastigen Bewegung drehte er ihn um und erblickte zwei versengte Stellen auf seiner Brust. Impulswaffentreffer.
Dann hastete er mit Höchsttempo zurück zum Haus.
Karin war mit Umziehen fertig und hatte noch ein wenig Ordnung gemacht in ihrem Schrank, da sie gestern eine Ladung frisch gewaschener Wäsche zurückerhalten hatte. Just als sie auf den Flur trat, hörte sie Aishe und Shin in ihrem Zimmer am Ende des Gangs reden, das sie offenbar gerade im Begriff waren zu verlassen. Sie schlenderte zu ihnen hinüber, als auch die Tür zu Carolines und Natashas Raum schräg gegenüber aufging und Caroline heraustrat. Sie sagte über die Schulter: „Ja, das kann schon sein. Wir sehen uns gleich im Wohnraum, okay?“
Dann bemerkte sie Karin und lächelte, indem sie die Tür schloss.
„Natasha ist noch ein bisschen down, aber das wird schon wieder.“
Spontan plauderten sie ein wenig, während auch Shin und Aishe zu ihnen stießen. Gerade wollten sie Anstalten machen, zu den anderen in den Wohnraum zu gehen, als sich die Außentür öffnete und Daniel eintrat.
„Ah, mal sehen, ob sie den Generator wieder hingekriegt haben“, sagte Shin arglos, doch Karin starrte auf das Gesicht und die Kleidung des Cyborgs, als dieser die Haustür mit einer Hand zuzog.
„Das ist nicht Daniel.“ Karin sprach den Alptraum laut aus, der sie gerade heimsuchte.
Sie hatten sie gefunden.
Caroline rief: „Schnell, Shin, hol Abbey!“
Es sprach für sie als Gruppe, dass niemand die Anweisung anzweifelte, auch Shin selbst nicht, der ohne zu zögern losspurtete und in Richtung Küche eilte. Gleichzeitig griffen die drei anderen zu den Waffen an den Wänden, während die Außentür ins Schloss fiel, sich verriegelte und die Innentür sich entriegelte, da keine Dekontamination mehr nötig war. Die nächsten Sekunden würden über Leben und Tod entscheiden, soviel stand fest.
Die schwere Panzerglastür öffnete sich einen spaltbreit. Alle brachten ihre Sturmgewehre in Anschlag; Caroline war die nächste, die nur darauf wartete, dass die Öffnung groß genug wurde, um hindurchzuschießen.
Der CSM-108 zog seine andere Hand hinter dem Rücken hervor und brachte ein M-80 Lasergewehr zum Vorschein. In einem Sekundenbruchteil sah Karin ihre Hoffnungen schwinden.
Der T-880 nutzte das Überraschungsmoment, um die Tür, welche sie selbst alle nur mühselig und zentimeterweise bewegen konnten, mit einem plötzlichen kräftigen Schwung aufzustoßen. Sie traf Caroline, die nicht schnell genug wegspringen konnte, und schleuderte sie zur Seite, wo sie heftig gegen die Wand prallte und bewusstlos herabsank.
Mit einem bösartigen Grinsen richtete CSM 108 das monströse, kalt schimmernde Lasergewehr auf das regungslose Mädchen am Boden. Schockiert sahen sie zu, wie er abdrückte.
Und nichts geschah.
„Lektion Nummer fünf im Umgang mit phasenkoordinierten Plasmaimpulsgewehren des Typs Westinghouse M-80: nach spätestens sechs Monaten im Feldeinsatz entlädt sich die Energiezelle auch bei Nichtgebrauch soweit, dass kein Schuss mehr abgegeben werden kann. Spätestens dann muss eine neue Zelle eingesetzt werden, Mistkerl.“ Karin drückte ab und entlud ein volles Magazin aus ihrem Heckler & Koch G3 in den Torso des Kampfroboters. Da dieser noch keine Erfahrung mit der kinetischen Energie von auf seinen Körper auftreffenden, großkalibrigen Vollmantelgeschossen hatte, wurde er von der Wucht des Feuerstosses umgeworfen, fiel in die Schleuse zurück und prallte mit dem Rücken an die Haustür, bevor er steif wie ein Brett umkippte. Die von seiner Panzerung abgeprallten Geschosse zersiebten die holzverkleidete Wand neben der Schleuse ihn einem Zufallsmuster.
Abbey kam aus der Küche herausgeschossen und lief mit irrwitzigem Tempo und donnernden Schritten zu ihnen hin. Sie hatte ihr eigenes Plasmagewehr in der Hand und kam abrupt zum Halt, als sie den regungslosen Daniel-Widerpart in der Schleuse liegen sah. Die Worte sprudelten aus ihr heraus, als sie die Waffe auf seinen Brustkorb richtete. „Sie greifen uns an, während Alex und Daniel nicht im Haus sind. Ich muss sofort in den Keller, der Zugang dort ist am wichtigsten. Wenn einer von ihnen da hineingelangt, kann er unermesslichen Schaden anrichten. Haltet den hier in Schach.“
Der CSM 108 öffnete seine Augen und sah hinab auf seinen zerfetzten Brustkorb, unter dem sein blutbeschmiertes Endoskelett schimmerte. Dann hob er den Blick, um in Abbeys Mündung zu starren.
Sie feuerte einen Schuss ab, der mit dem typischen Spielarkaden-Geräusch in die Wunde einschlug und ihn zucken und beben ließ, bevor er erneut zusammensackte. Dann drückte sie Karin die Strahlenwaffe in die Hand, da sie ihr Gewehr leer geschossen und gleich beiseite geworfen hatte. Sofort danach rannte sie in den Keller und rief über die Schulter: „Schnell, geht ins Wohnzimmer, dort wird der nächste angreifen. Caroline scheint nur bewusstlos; Karin, bleib’ bei ihr und bewache den hier, die anderen werden euch brauchen, Shin und Aishe. Ich hole mir die andere M-80 im Keller.“
Innerhalb von Sekunden waren alle aus dem Wohnzimmer in den Gang gerannt und hatten sich die nächsten greifbaren Waffen geschnappt. Natasha kam aus ihrem Zimmer und gesellte sich zu Karin, nachdem sie eine Kalaschnikow von der Wand neben sich abgenommen hatte. Erstaunlicherweise klappte das Zusammenspiel zwischen ihnen perfekt, sie agierten wie eine Einheit. Ohne große Kommentare liefen die anderen zurück ins Wohnzimmer, wo man einen dumpfen Schlag hörte, als ob etwas extrem Schweres umgefallen wäre. Ein Terminator musste durch die doppelt gepanzerte Glasfront gebrochen sein, indem er die Balkontür darin aus ihrer Umfassung geschlagen hatte, was an sich schon eine enorme Gewalttat darstellte. Karin sah über die Schulter und konnte sich dabei nicht vorstellen, dass ein T-880 soviel Masse und Kraft aufbringen konnte, um dort durch zu brechen. Schließlich hatte auch dieses Exemplar hier brav gewartet, bis die Schleuse offen stand.
„Pass auf!“ kreischte Natasha und riss ihr Gewehr hoch, doch es war bereits zu spät. Karin spürte einen heftigen Ruck, mit dem ihr das M-80 aus den Händen gerissen wurde. Sie verspürte einen solchen Schmerz dabei, dass sie dachte, sie hätte sich den Abzugsfinger gebrochen.
Oh nein, wie hatte sie nur so dumm sein können?
Mit dem selben, ekelerregend boshaften Grinsen von eben erhob sich der zerstört gewähnte CSM 108 mit mühsamen, ruckenden Bewegungen, um die eroberte Waffe, die er am Lauf hielt, umzugreifen. Karin war dabei Natasha im Weg, sodass diese nicht gefahrlos feuern konnte. Karin hatte leider die Befürchtung, dass es den Terminator vor ihr im Gegensatz zu Natasha nicht kümmern würde, wenn er durch sie hindurch feuern musste, um auch Natasha zu töten.
Das war’s also, dachte sie mit einem seltsam tauben Gefühl in der Magengegend. In einer Sekunde würde sie tot sein. Nun wusste sie auch endlich, warum in der düsteren Geschichtsschreibung dieser Zukunft kein Platz für sie gewesen war. Im Hintergrund hörte sie passend dazu, wie die anderen hektisch durcheinander schrieen und mehrere Salven Dauerfeuer auf ihren Gegner entluden.
Dann wurde der CSM 108 in einer blitzschnellen Bewegung, fast zu schnell für das menschliche Auge, mit unsäglicher Wucht gegen die Wand geschleudert, wo er wie eine Abrissbirne einschlug und sein Körper mehrere Zentimeter tief in den Stahlbeton hinter den zersplitterten weißen Holzbrettern eingegraben wurde, sodass sich seine Konturen ins Mauerwerk einprägten. Es traf ihn wie ein Blitzschlag und so heftig, dass er sich zum dritten Mal in kürzester Zeit vorübergehend ausschaltete, um eine interne Schadensdiagnose durchzuführen, wobei ihm das Ergebnis diesmal sicher nicht gefallen würde.
Karin war vor einem Lidschlag noch der festen Überzeugung gewesen, dass ihr Schicksal von einem rauchenden Loch in ihrer Brust besiegelt werden würde. Umso fassungsloser starrte sie nun hinab auf die eben noch besinnungslose Caroline, die das Fußgelenk des T-880 noch immer fest umklammert hielt.
„Was hat das zu... bedeuten?“ Das letzte Wort sprach sie in höchstem Erstaunen aus, weil ihr in diesem Moment klar wurde, was es zu bedeuten hatte.
„Wegen dir Dummchen ist meine Tarnung jetzt zum Teufel!“ Caroline sprang elegant auf die Beine, packte den regungslosen Cyborg, um ihn aus der Wand heraus und in einer einzigen bogenförmigen Bewegung hoch in die Luft zu reißen, nur um ihn dann mit aller Gewalt auf den Boden vor sich zu schmettern. Der Kopf des Daniel-Plagiats grub sich durch die Holzbohlen und hinterließ auch dort im massiven Stahlbeton einen Abdruck wie von einem Gipsguss. Sie ließ ihren Fuß auf seinen Schädel hernieder sausen und grub ihn dadurch noch einen Deut tiefer in den Grund. Als sie ihren Gegner wieder hochriss und mit einer wegwerfenden Bewegung in die Eingangsschleuse zurückwarf, war die eine Hälfte seines Gesichtes nur noch von Fetzen einer blutigen Masse umhüllt, die das wahre, stählerne Antlitz darunter nur unzulänglich verbergen konnte.
Caroline pickte das M-80 auf, als wäre es ein Plastikspielzeug, und warf es Karin zu, die von dem Schwung der schweren Strahlenwaffe beinahe von den Füssen geholt wurde. „Schnell, zu den anderen ins Wohnzimmer! Sie scheinen ernste Schwierigkeiten zu haben.“
Dann riss sie völlig mühelos die Glastür bis auf einen Spalt zu, doch weiter verfolgten sie das nahende Ende des CSM 108 nicht, da erneut ein panisches Kreischen, begleitet von mehreren Feuerstössen, aus dem Wohnzimmer erklang.
Natasha war bereits an der Wohnraumtür, als hinter ihnen eine gedämpfte Explosion erklang und das Haus einen Deut erzitterte. Karin hatte keine Ahnung, was das genau gewesen war, denn sie war voll und ganz von der grauenhaften Szene in Anspruch genommen, die sich ihr bot, als sie ins Wohnzimmer kam.
Es war ein totales Durcheinander, nichts von der Einrichtung stand noch an seinem ursprünglichen Platz. Die Balkontür mit ihrer Stärke von etwa zwei Dezimetern lag wie vermutet auf dem Boden, mit herausgerissenen Angeln; durch die entstandene Öffnung strömte eiskalte Polarluft ins Zimmer. Sessel und Stühle waren willkürlich im Raum verteilt, das Sofa und der Esstisch am anderen Ende des Zimmers waren beide umgeworfen worden und dienten als Barrikaden und Schutzwall, hinter dem Simon, Silke, Dimitri und Aishe Deckung genommen hatten und von wo aus sie ihren Gegner beharkt hatten. Offenbar hatten sie alle ihre Magazine verschossen und hantierten in höchster Eile mit neuen herum. Ein hübsches blondes Mädchen Anfang zwanzig mit klaren blauen Augen und einer schlanken sportlichen Figur in Bluejeans, Pullover und Turnschuhen marschierte unbeirrt auf das Sofa zu, hinter dem Dimitri und Aishe saßen und gerade hektisch nachluden.
Natasha sprang vor und leerte ihr Magazin mit einem gellenden Schrei in den Terminator, der unkontrolliert unter der Wucht der Geschosse hin und herzuckte und in sich zusammensackte, bevor er von den Füssen gerissen wurde und schwerfällig hintenüber kippte. Dabei glaubte Karin, mitten in einem Flashback zu sein, während sie etwas metallenes schimmern sah, wo eigentlich Dutzende von Einschusslöchern hätten sein müssen.
Als sich das Mädchen wieder erhob, erkannte Karin, dass sie viele faustgroße, silbern schimmernde Krater quer über ihrem Oberkörper verteilt aufwies, die wie eine Aufnahme von einem Wassertropfen aussahen, der im Moment des Auftreffens auf eine Wasseroberfläche abgelichtet worden war. Sie musste mit ansehen, wie sich die Einschusslöcher wie von Zauberhand schlossen und ihren netten rosa Pullover unversehrt wieder herstellten. Sie rief panisch: „Wie kann das sein?“
Das musste ein T-1000 sein, dachte Karin beim Abdrücken ihres M-80 und bemerkte kaum einen Rückstoss dabei. Die Wirkung bei ihrem Gegner war dafür umso größer.
Der hochenergetische Lichtbolzen fuhr in sie hinein und bohrte ein Loch durch ihren Bauch, durch das man hindurch sehen konnte, bevor er zischend in einem schwarzen Fleck auf dem Panzerglas der Fenster verpuffte. Völlig unvorbereitet auf diese Art des Beschusses, erstarrte der T-1000 für einen Moment und gab ein entsetzliches Geräusch von sich, das wie Fingernägel auf einer Schiefertafel klang. Nur langsam schloss sich die innen wie Quecksilber aussehende Wunde, als ihr Gegner einen weiteren Schritt auf sie zu tat. Sie schoss erneut, diesmal eine Dreiersalve, die alle handtellergroße Wunden in den Torso des so harmlos aussehenden Mädchens rissen, sich aber nur langsam schlossen. Offenbar besaß der T-1000 eine Art Prioritätenliste, auf dem das Verschließen seiner Wunden im Moment weit unten stand. Stattdessen wandte er seine Energie auf, um vorwärts zu gehen und sein Opfer, denn so betrachtete Karin sich mittlerweile angesichts ihres Gegners, schneller erreichen und terminieren zu können.
Ihre rechte Hand begann zu schimmern, in die Länge zu wachsen und eine sehr spitze und sehr scharfe Schwertklinge zu bilden. Verzweifelt hob sie die Plasmawaffe an und schoss erneut, doch diesmal gab es nur einen dicken, tiefen Krater, wie eine hässliche Einbeulung, als ob der Mechanismus aus Flüssigmetall bereits gelernt hätte, sich der Art des Beschusses anzupassen und dessen Wirkung abzumildern.
„Runter!“ Karin warf sich bei dem Ausruf hinter ihr reflexartig zu Boden und spürte, wie etwas sehr heißes über sie hinwegfegte und mit einem lauten Knall, der ihre ohnehin schon gemarterten Ohren noch zusätzlich betäubte, mitten im Zimmer mit einer kleinen Druckwelle wütete.
Als sie wieder aufsah, war der T-1000 beinahe halbiert. Ein riesiges Loch hatte seine rechte Körperhälfte weggerissen und im Raum verteilt, der Brustkorb war nur noch über einen zehn Zentimeter breiten Streifen Körpermasse am linken Rand seiner Flanke mit dem Unterleib verbunden. Überall im näheren Umkreis lagen kleine Tropfen und richtige Pfützen flüssigen, zähfließenden Metalls, die sich jedoch bereits wieder automatisch auf den Hauptkörper zu bewegten und dabei wie kleine glitzernde Würmer über den Boden und um herumliegende Stühle kullerten. Die einzige Funktion, die sie im Moment erfüllen mussten, war die Verbindung zur Hauptmasse wiederzuerlangen.
„Raus mit euch!“ schrie Caroline mit drängender Stimme. Karin rappelte sich auf und warf einen Blick auf sie. Aus ihrem Unterarm ragte eine schmale, zylindrische und gefährlich aussehende Apparatur, die an ihrem Ende zu glühen schien. Am Übergang zum Ellenbogen befand sich ein Streifen der gleichen metallisch schimmernden Substanz, aus der ihr tödlicher Feind zur Gänze zu bestehen schien. Sie richtete die Öffnung auf den Oberkörper des jungen blonden Mädchens, als es in unheimlichen Tempo wieder zusammenwuchs und über die Füße alle Fragmente in sich aufnahm, sobald diese sie erreichten.
Karin konnte nicht anders, als noch eine Dreiersalve in den Torso des Undings zu jagen, als es sich gerade wieder hergestellt hatte und einen Schritt auf sie zu machte. Ihre Miene entbehrte jeglicher menschlichen Emotion, als ihr Körper von den drei Plasmaimpulsen getroffen und herumgerissen wurde, wobei sie jedoch nur unwesentlich langsamer wurde und die Einschüsse nicht sofort restaurierte.
Dimitri sprang hinter seiner Deckung hervor und entleerte mit wutverzerrter Miene und Tränen in den Augen sein komplettes Magazin in einem unerträglich lauten Hämmern seines vollautomatischen Colt CAR-15 in die Flanke des T-1000. Dabei schrie er etwas unverständliches und musste dann von Silke und Simon regelrecht aus dem Raum geschleift werden, da er Anstalten machte, sich auf den Cyborg stürzen zu wollen. Der allgemeine Rückzug verlief davon abgesehen recht ordentlich, während der erneut von der puren kinetischen Energie des Mahlstromes an Vollmantelgeschossen durchsiebte Terminator wieder für eine Sekunde gestoppt worden war. Der Körper begann jedoch sich zu reparieren und wurde bei jedem ihrer Angriffe effizienter darin, als ob er sich allmählich an den Beschuss anpassen würde.
Karin war beim Hinausspurten klar geworden, dass man dieses Ding nur immer wieder verlangsamen oder aufhalten konnte, jedoch nicht wirklich zerstören. Seine Einzelteile fügten sich stets aufs Neue zusammen, unermüdlich und unerbittlich auf sein Ziel ausgerichtet, seine Gegner zu vernichten.
Kaum war Karin als letzte aus dem Raum, als Caroline sich im Türrahmen aufbaute und sich an der Spitze ihres „umgebauten“ Armes eine tennisballgroße Kugel aus reiner Energie zu bilden schien. Sie feuerte sie mit einem kleinen, scharfen Geräusch wie von zerreißendem Papier ab, wobei das Plasmageschoss auf seinem kurzen Weg durch das weitläufige Wohnzimmer durch die enorme Hitze auf seiner Flugbahn die Luft wabern ließ. Alle sprangen zurück und erlebten einen Moment später eine weitere Explosion, die jedoch hauptsächlich von Carolines Körper in der Tür abgehalten wurde.
Ohne zu zögern marschierte sie darauf in den Raum, worauf Karin und Silke um den schwach rauchenden Türpfosten herum spähten. Diesmal war der polimimetische Flüssigmetallkörper vom Treffer der Plasmakanone sauber in zwei Hälften gesprengt worden, die sich mangels Alternativen beide zu großen Klumpen verflüssigten und wabbelnd wie zwei riesige Tropfen Quecksilber aufeinander zukrochen. Furchtlos versuchte Caroline einen von ihnen weg zu treten, versetzte ihn aber nur in eine Drallbewegung, worauf er unbeirrbar weiter auf seinen zweiten Teil zueierte.
Kaum waren beide mit einem satten Schmatzen vereint, da erhob sich langsam die silberne Gestalt und nahm in Windeseile menschliche Gestalt an. In Sekundenbruchteilen konnte man beobachten, wie sich mehr Details ausbildeten, bis die fein ausgearbeiteten Konturen wieder Farbe und Struktur bekamen und das nett aussehende blonde Mädchen völlig unversehrt vor ihnen stand.
Im selben Augenblick, in dem sie feste Gestalt annahm, packte Caroline sie und schleuderte sie quer durch den Raum gegen die Rückwand des Zimmers. Sie prallte auf, verlor eine Sekunde ihre feste Konsistenz und trug dadurch keinen weiteren Schaden davon. Jetzt würde es hart auf hart kommen.
Mit wenigen Sätzen war die Blondine bei ihr und stieß ihr aus vollem Lauf beide ausgestreckte Arme gegen die Brust. Caroline flog durch das Zimmer und knallte gegen das dicke Panzerglas der Fenster. Das Glas erzitterte und bekam Risse, hielt aber stand, sodass sie nur einfach zu Boden fiel, wo sie dem T-1000 aus dem Liegen heraus den nächsten Schuss aus der Plasmakanone verpasste. Und wieder wurde der Oberkörper ihres Gegners auseinander gerissen, fiel in faustgroßen Klumpen zu Boden und verflüssigte sich umgehend, um sich wieder zu einer einzigen Masse zusammen zu fügen.
Der T-1000 erhob sich wiederum und bildete sein Äußeres aus, griff dabei aber überraschend hinter einen der klobigen Sessel und förderte eine M-16 zutage, die dort gelegen hatte. Bevor Caroline reagieren konnte, wurde sie von einem Feuerstoss getroffen, worauf ihr Brustkorb und linker Arm von vielen Einschlägen übersät wurde. Karin schrie auf, doch im Gegensatz zum T-1000 schien ihr der Beschuss fast gar nichts auszumachen. In Windeseile waren die vielen silbern glänzenden Einschlagslöcher in ihrem Körper wieder abgedichtet und auch die Wucht der Geschosse hatte sie kaum erzittern lassen, so als schüttele sie die Kugeln ab wie lästige Insekten. In diesem Moment wurde ihr klar, dass dieser T-X namens Caroline das am weitesten entwickelte Kriegsgerät war, das je existiert hatte.
Dummerweise hatte der T-1000 sich die Ablenkung durch den Beschuss auf Caroline zunutze gemacht und packte sie nun am Kragen, um die viermal leichtere Gegnerin mit voller Wucht gegen die Zimmerwand zu werfen. Wieder krachten die Bretter der Verkleidung und fielen in einem großen runden Fleck zermalmt zu Boden, während Caroline niederkam, nur um in der folgenden Sekunde scheinbar unversehrt wieder auf die Beine zu kommen.
„So wird das nichts“, murmelte Caroline zu Karins grenzenlosem Erstaunen, als habe sie lediglich ein kniffliges Problem zu lösen. „Ich kann sie unbegrenzt in Stücke blasen und sie wird sich immer wieder herstellen. Entweder lässt irgendwann ihre Fähigkeit zur Redundanz nach oder sie kloppt mich zu Brei, wenn sie die Gelegenheit dazu erhält. Dann ziehen wir eben andere Seiten auf.“
Inzwischen wurde die Blondine von Dimitri aufgehalten, denn dieser hatte Simon seine Kalaschnikow entrissen, sprang kurz ins Zimmer und beharkte den Feind mit einem vollen Magazin, bis dessen Torso und Kopf wieder einer Mondlandschaft glich und er hintenüber zu kippen drohte.
In diesem Moment trat Caroline von hinten an ihre Nemesis heran. Der Zeigefinger ihrer anderen Hand war ebenfalls von dem polimimetischen Überzug befreit worden und offenbarte einen ausfahrbaren Fortsatz, der ellenlang war und sehr spitz zulief. Sie rammte diesen tief in den Rücken des T-1000, während dieser noch bei seiner Widerherstellung war. Mit mehreren blauen Blitzen schoss etwas Undefinierbares ihren Finger entlang in den Leib ihres Gegners und ließ diesen erstarren. In einem Reflex riss das blonde Mädchen einen Arm herum und fegte Caroline damit weg von ihr.
Doch dann geschah etwas seltsames: der Terminator begann zu zucken und sich zu schütteln und kreischte auf markerschütternde Weise, als würde er starke Schmerzen verspüren, was natürlich unmöglich war. Dennoch gewann man den Eindruck, das Kunstwesen würde Leid erfahren, denn es sank auf die Knie, fuhr fort zu wimmern, unkontrolliert zu zucken und verlor schnell an Konsistenz. Allmählich konnte man keine menschlichen Konturen mehr erkennen, als er in sich zusammensackte und schließlich eine Form annahm, die Karin aufs höchste überraschte.
„Was ist denn jetzt passiert?“
„Ich besitze die Fähigkeit, in andere elektronisch gesteuerte Maschinen jeder Art Nanotechnologie einzuspeisen und deren Steuerung zu übernehmen. Da der Speicher und die Kontrollrechner beim T-1000 ebenfalls über diese winzig kleinen Steuereinheiten im gesamten Körper verteilt sind, konnte ich ihn problemlos infiltrieren und stilllegen.“ Caroline fuhr den spitzen langen Finger wieder ein und ließ ihre Hände sich wieder in den ursprünglichen Zustand zurück versetzen.
„Und was hast du mit ihm gemacht?“ wollte sie wissen, während auch Dimitri und Silke zaghaft den verwüsteten Raum betraten.
„Ich habe sozusagen <Format C:> gedrückt, das heißt, seinen Speicher gelöscht. Ohne jede Form von Kontrolle ist er wegen der ungeheuren Oberflächenspannung des Flüssigmetalls nur noch das, was du hier siehst.“ Sie lächelte nicht. Dieser ganze unglaubliche Kampf hatte keine neunzig Sekunden gedauert, während der niemand Zeit zum Nachdenken gehabt hatte, während alle ums nackte Überleben gekämpft hatten.
„Eine hübsche glänzende Kugel mit einem halben Meter Durchmesser?“ fragte Silke und hastete in den hinteren Teil des Raumes, dicht gefolgt von Dimitri, dessen Miene Leid und Trauer ausdrückte.
„Und einem Gewicht von über einer halben Tonne. Ja, Metall ist schwer, auch so eine polimimetische Legierung.“ Caroline sah zu ihren beiden Schützlingen hinüber, die sich über eine Reihe von umgeworfenen Stühlen beugten, um dahinter sehen zu können.
Dimitri warf einen Stuhl beiseite und begann zu schluchzen. Entsetzt beobachtete Karin, wie er den schlaffen, blutbefleckten Körper von Ana aus der Ecke herauszog und weinend in den Armen wiegte. Silke stand einen Meter rechts neben ihr und hielt sich eine Hand vor den Mund. Ihre Schultern begannen zu zucken und sie warf sich plötzlich herum, um zu Karin zu stürmen und sie fest zu umarmen.
„Oh, meine liebe Kleine, es tut mir so leid. Niemand hat so etwas verdient. Es tut mir so leid...“ Indem sie völlig bewegungsunfähig in Silkes Umarmung hing, wurde ihr plötzlich etwas bewusst. Die Erkenntnis traf sie wie ein Blitzschlag. Alles in ihr bäumte sich auf.
„Bernd!“
Sie versuchte sich von Silke zu lösen, doch die viel größere und kräftigere Schweizerin lockerte ihren Griff nicht, um sie davon abzuhalten, hinter die Sichtblende aus umgeworfenen Möbeln zu sehen. Dabei fiel es ihr immer schwerer, Karin zu halten, da diese jetzt schier übermenschliche Kräfte entwickelte, um zu ihrem geliebten Freund zu gelangen. Beschwichtigend sagte Silke: „Tu das nicht, Karin. Du musst das nicht sehen. Behalte ihn dir in Erinnerung, wie er vorher war.“
Irgendwie schaffte sie es doch, sich loszureißen und zu ihm zu stürzen. Als sie ihn erblickte und erkennen musste, was ein zum gnadenlosen Töten programmierter Kampfroboter aus frei formbarem Flüssigmetall mit einem Menschen anstellen konnte, blockierte ihr Verstand und sie weigerte sich innerlich, das zu glauben, was sie sah. Das war nicht mehr er, nur noch eine übelst zugerichtete leblose Hülle.
Aus weiter Ferne, wahrscheinlich aus dem Keller, waren Schüsse und Geschrei der anderen zu vernehmen. In diesem einsamen Moment, wo die Welt um sie herum kalt und grau wurde, war es ihr vollkommen gleichgültig, was nun geschehen würde. Sie war gerade in ein tiefes rabenschwarzes Loch geworfen worden.
Ihr Unterbewusst sein erwies ihr die Gnade, in Ohnmacht zu fallen. Ihr wurde schwarz vor Augen und sie fiel in die Arme von Caroline, die nun wieder beide Hände zur Verfügung hatte, um sie sanft aufzufangen und in ihr Bett zu tragen. Sie bekam nichts mehr von dem kurzen Rest des Kampfes mit, der sich schnell entschied, sobald Daniel zurück zum Haus geeilt war.
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Hallevik, Insel Rolla, Troms Fylke, Norwegen 24. März 2005
Wie aus einem schlimmen Alptraum gerissen fühlte sich Karin, als sie am nächsten Morgen aufwachte. Zu ihrer Überraschung fand sie sich im oberen Bett der Krankenstation wieder, deren untere Liege vom verletzten Nicolas Fraisier eingenommen wurde. Und noch verblüffender war die Tatsache, dass Natasha bei ihnen im Raum auf einem Stuhl zusammengesunken saß und schlief. Sie schien die ganze Nacht über sie gewacht zu haben.
Einen Moment lang betrachtete sie ihre alte Freundin, wie sie da in einem schwarzen Pullover, olivgrünen Militärhosen und –stiefeln vor sich hin döste. Wenn ihr jemand vor einem Jahr erzählt hätte, dass sie einmal ständig in solchen Klamotten herum laufen würde, hätte sie ihn bestenfalls für verrückt erklärt. Und jetzt...
Ja, jetzt...
Die Grausamkeit der Realität holte sie ein und traf sie unvermittelt. Mit einem Mal strömten ihr die Tränen aus den Augen und sie begann hemmungslos zu schluchzen. Dadurch weckte sie Natasha, was sie eigentlich hatte vermeiden wollen, doch sie konnte nicht mehr aufhören.
Beruhigend legte sie eine Hand auf Karins Schulter und zog sie an sich in eine freundschaftliche Umarmung: „Shhh. Weine nur, Mädchen. Das ist das einzige, was du jetzt noch tun kannst. Lass den Schmerz raus.“
„Das ist so... so grausam und... und un... ungerecht, Nati. Warum er? Warum?“ schluchzte sie haltlos und klammerte sich verzweifelt an ihre Freundin.
„Ich weiß es nicht. Aber es war schnell vorbei, er hatte kein Leid zu ertragen, sagen die anderen. Genau wie Ana.“
„Oh Gott, wir haben auch sie verloren. Ich habe sie so sehr gemocht, Nati.“ Erneut bebten Karins Schultern stärker.
„Es war ein harter Kampf, doch wir haben ihn überstanden. Auch wenn der Preis schrecklich hoch war und es uns unendlich schwer fallen wird, müssen wir nach vorne blicken. Wir haben noch vieles vor uns und ich glaube, wir werden noch viele Freunde und geliebte Menschen unter schrecklichen Umständen verlieren und betrauern.“ Sie löste Karin aus ihrer Umarmung und sah sie aus Armeslänge mit ihren klaren, hellen Augen an. Ihr Blick zeugte von einer inneren Ruhe und Stärke, die sie vor Beginn ihres neuen Lebens nicht besessen hatte. Er strahlte Zuversicht und Sicherheit aus und machte sie zu einer Persönlichkeit, der man blind vertrauen konnte.
Und Karin war in diesem Moment unsäglich stolz auf ihre Freundin.
„Ich kann es noch gar nicht fassen. In einem Moment scherzt man noch miteinander, dann gibt es einen Knall und man kann nie mehr mit ihm reden. Es ist so ungerecht, so plötzlich gehen zu müssen, ohne jede Vorwarnung. Als wir uns das letzte mal gesehen haben, haben wir uns geneckt und er wollte... aber ich habe ihn auf eine naive, spielerische Art abgewiesen. Hätte ich doch nur...“ Ihre Stimme versagte und bittere Tränen der Frustration und des Ärgers auf sich selbst rollten über ihre Wangen. „Ich konnte mich nicht einmal von ihm verabschieden.“
„Das wirst du noch können. Sobald du wieder auf den Beinen bist, werden wir Ana und ihn bestatten.“
„Bestatten? Wie denn das? Der Boden ist doch knochenhart gefroren.“ Karins Brauen hoben sich zweifelnd, als sie die Beine über die Bettkante schwang, um aufzustehen. Ihr kam zu Bewusstsein, wie pragmatisch sie schon wieder dachte und ihre großen hellbraunen Augen füllten sich wieder mit Tränen, worauf Natasha sie erneut trostspendend in die Arme nahm.
„Wart’s ab. Ich bin sicher, es würde ihnen gefallen haben.“
Hallevik, Insel Rolla, Troms Fylke, Norwegen 26. März 2005
Die Reparaturen am Haus hatten Tage der Mühsal und Entbehrungen von ihnen allen gefordert. Das Schlimmste war natürlich die Panzerglastür im Wohnzimmer, die sie nicht so ohne weiteres ersetzen konnten. Sie behalfen sich damit, die Tür wieder einzusetzen und provisorisch abzudichten. Dadurch wurde der Balkon zwar unbenutzbar, was jedoch keinen allzu großen Verlust darstellte. Sie stapelten die zertrümmerten Stühle und Bretter der Wandverkleidungen dort und rollten die Kugel auskristallisierten Flüssigmetalls hinaus, die einmal der T-1000 gewesen war, bevor sie die Tür versiegelten, sodass der nun verschenkte Raum wenigstens einen Zweck erfüllte.
Der Generator war nur oberflächlich verstopft worden, gerade genug, um den Ausfall des Aggregates sicherzustellen. Sie hatten ihn in kürzester Zeit wieder zum Laufen gebracht und bekamen somit wieder Strom.
Mit großem Bedauern mussten sie einsehen, dass Alex irreparabel beschädigt war. Er musste so unglücklich gestürzt sein, dass er aus über zweihundert Metern freiem Fall direkt auf den Felsen am Fuß des Berges gestürzt und regelrecht zerschellt war. Wenigstens konnten sie, nachdem sie seine organische Hülle entfernt hatten, wenigstens einen kleinen Teil seiner Komponenten als Ersatzteile verwenden, falls Abbey oder Daniel sie einmal benötigen würden, weil nur ein gewisser Prozentsatz der Technik des älteren T-800 für sie geeignet war. Zusammen mit dem im Kellerdurchgang zur Garage gestellten und überwältigten T-880 der Serie TSR 301 und dem auf Öland gefangenen waren das jetzt immerhin drei Terminatoren, auf deren Komponenten sie im Ernstfall zurückgreifen konnten.
Das Loch im Boden des Flurs war relativ leicht zu flicken, doch den Abdruck des feindlichen T-880 in der Wand neben der Luftschleuse des Vordereingangs ließen sie als Erinnerung an diesen schicksalhaften Tag unangetastet. Sie hatten viel verloren, aber auch an Entschlossenheit und Zusammenhalt in der Gruppe gewonnen. Die Luftschleuse hatte etwas abbekommen, als Caroline darin mit ihrer Plasmakanone den T-880 der Serie CSM 108 zerstört hatte. Von ihm war nicht viel übrig geblieben, was man hätte verwerten können. Seine Energiezellen allerdings hatte der T-X mit voller Absicht unversehrt gelassen. Sie konnten zum Laden der Energiezellen der Plasmaimpulswaffen verwendet werden, so wie sie es mit denen des ersten gefangenen Terminators getan hatten und so über funktionierende Strahlenwaffen verfügt hatten, während sich diejenigen der Angreifer zu deren großer Überraschung als unbrauchbar erwiesen hatten. Caroline hatte das so erklärt, dass es normalerweise nie vorkam, dass ein Terminator mit Waffe so lange im Feld blieb, dass die Energiezelle seines M-80 überhaupt die Gelegenheit bekommen konnte, sich zu entladen. Deshalb hatten die Terminatoren von Skynet keine Daten darüber gehabt, während den Rebellen, die Daniel und Abbey programmiert hatten, diese Tatsache von erbeuteten Strahlenwaffen her sehr wohl bekannt gewesen war, da sie nicht über die Infrastruktur verfügten, die vom Feind erbeuteten Lasergewehre aufzuladen.
Im Keller waren nur ein paar Kratzer im unterirdischen Durchgang vom Haus zur Garage auszubessern, wo der Terminator der Serie TSR 301, ergo der mit dem Aussehen von Abbey, einzudringen versucht hatte. Nachdem er hatte feststellen müssen, dass sein M-80 nicht mehr funktionierte, verschoss er noch zwei volle Magazine aus seinem Sturmgewehr während seines Versuches, von der Garage aus in die Kelleretage einzudringen. Daniel, der durch die Garage in die unterirdische Passage gelangt war, überwältigte seinen Feind von hinten durch die Booster-Funktion seiner getunten CPU. Da er dadurch stärker und schneller war als das von Skynet geschickte ‚Serienmodell’, gelang es ihm, die TSR 301-Serie von hinten in eine Umklammerung zu nehmen, die er nur so lange aufrecht zu erhalten brauchte, bis Abbey heran war, den Brustkorb des feindlichen T-880 geöffnet und deren Energiezellen entfernt hatte. So gereichte ihnen diese von den Rebellen ersonnene Technik im direkten physischen Zweikampf zum klaren Vorteil gegenüber ihrem Widerpart.
Ferner war da noch das Schloss eines Garagentors, das der TSR 301 zerstört hatte, als er sich gewaltsam Zutritt verschafft hatte. Sie konnten von Glück reden, dass er nicht noch alle ihre Fahrzeuge zerstört hatte, denn Gelegenheit dazu hätte er gehabt. Aber offenbar hatte ihr Feind seinen Plan für so narrensicher gehalten, dass sie die Autos wahrscheinlich zur Requirierung und zur Eigenbenutzung vorgesehen hatten, nachdem sie alle terminiert worden wären.
Womit sie nicht gerechnet hatten, war die Anwesenheit des T-X innerhalb ihrer Gruppe. Als sie sich heute zum Mittagessen zusammensetzten, lehnte Caroline wie stets seit einer Woche, seit ihrer Enttarnung, an der Wand des Wohnzimmers und sah ihnen beim Essen zu, bis Aishe fragte: „Willst du dich nicht zu uns setzen, auch wenn du nichts zu Essen brauchst? Du bist keine Ausgestoßene, nur weil wir jetzt deine Identität kennen.“
„Ja, und schließlich hast du ja auch früher schon nur sehr wenig gegessen“, fügte Shin kauend hinzu.
„Ich habe ein schlechtes Gewissen, dass ich mit an euren knappen Vorräten gezehrt habe, nur um meine Tarnung aufrecht zu erhalten. Ich fühle mich sehr eigennützig deshalb“, gestand sie ein.
„Hör doch auf, das hat uns doch schlussendlich das Leben gerettet“, begehrte Simon auf. „Ohne das Überraschungsmoment deiner Anwesenheit, das ihres zunichte gemacht hat, wären wir alle wahrscheinlich tot.“
„Gut, das mag stimmen. Andererseits basierte der Zeitplan ihres Angriffes allein darauf, dass sie durch den sabotierten Generator erst einen der Terminatoren hinauslocken und neutralisieren konnten, um dann zuzuschlagen, wenn der zweite nach dem Rechten sehen würde und nur noch einer von ihnen im Haus geblieben war. Wenn sie gewusst hätten, dass ein T-X hier wäre, hätten sie sich gehütet, uns jemals hier anzugreifen. Ich bin nicht zuletzt für den Zweck konstruiert worden, feindliche Terminatoren zu neutralisieren. Sie konnten ja nicht ahnen, dass dem Widerstand ein T-X in die Hände gefallen war und sich genau hier in diesem Zeitrahmen befindet.“
„Wie kam das eigentlich, dass du...?“ Silke hielt plötzlich inne, als ihr ein Gedanke kam. Sie zeigte mit dem Messer auf sie und sagte mit halbvollem Mund: „Warte mal. Wenn ich das richtig verstanden habe, musst du physischen Kontakt mit der Person gehabt haben, deren Aussehen du annehmen willst. Heißt das etwa...?“
Caroline sprang aus ihrer lässigen Haltung auf. „Um Himmels Willen, nein! Ich bin hier, um euch zu beschützen! Wie kannst du nur denken, ich hätte die echte Caroline terminiert, nur um ihren Platz einnehmen zu können?“
Silke sah auf ihre Hände hinab. „Tut mir leid. Aber wie hat sich das Ganze denn dann zugetragen?“
„Ich war unterwegs, um sie mitzunehmen und euch in Freiburg zu treffen, schließlich kannte auch ich durch den Bericht von NMF-2210, eurem ersten ‚Alex’, euren Treffpunkt im Auwald bei Freiburg und eure gesamten Aktivitäten zwischen dem 2. und 4. Juli des letzten Jahres. So wollte ich ursprünglich Caroline aufsammeln, doch dann musste ich erkennen, dass ich zu spät gekommen war. Den Entschluss, ihr Aussehen anzunehmen und mich direkt in die Gruppe einzuschleusen, hatte ich erst gefasst, als ich dort in ihrem Zimmer über ihrer sterblichen Hülle stand. Das große Problem dabei war, dass zwar ihr nichts davon wusstet, unsere Gegner aber sehr wohl, da einer von ihnen eben Caroline terminiert hatte und nur zwei und zwei hätte zusammenzählen müssen, sobald ich bei euch in ihrer Gestalt aufgetaucht wäre.“
Sie wandte sich an die ganze Gruppe und fuhr fort: „Es galt also, genau diesen einen Terminator aufzuspüren, bevor er mit den anderen seiner Gruppe kommunizieren konnte und so allen ihre Terminierung bestätigen konnte. Dabei kam mir zugute, dass sie ebenso wie wir auch absolute Funkstille halten mussten, um uns nicht eventuell ihre Position und Stärke zu verraten, was einen gravierenden strategischen Nachteil bedeutet hätte. Ich errechnete aufgrund des Verteilungsschemas der aufzuspürenden Ziele, der Größe der Städte, in denen sie lebten und der damit verbundenen Schwierigkeiten, sie dort aufzuspüren, sowie einer Unzahl anderer Parameter, das wahrscheinlichste Suchschema der gegnerischen Gruppe und kam bei allen Varianten auf das Ergebnis, dass genau die Einheit, die Caroline terminiert hatte, als nächstes nach Freiburg gehen würde, mit sehr großer Wahrscheinlichkeit um denjenigen zu unterstützen, der Simon im Visier hatte. Das war demnach mein Ziel. Und da ich Natashas richtigen Namen wusste und der Feind glücklicherweise nicht, hatte ich den Vorsprung, den er bei der Suche nach ihr hatte, wieder aufgeholt. Ich habe ihn erwischt, kurz nachdem er aus ihrer Wohnung kam. So erfuhren die anderen Terminatoren nichts von Carolines Terminierung und mussten annehmen, sollten sie mir später einmal begegnen, dass er seinen Auftrag nicht hatte ausführen können.“
„Da fällt mir gerade ein: was hat es eigentlich mit meiner obskuren Namensänderung auf sich? Dass ich mich in Zukunft Maja Maranoff nennen soll oder werde, nach meinem zweiten Vornamen und dem Mädchennamen meiner Mutter? Die Namenswahl an sich ist eigentlich in Ordnung, aber das ganze ist mir ehrlich gesagt ziemlich suspekt.“ Sie sah den T-X etwas hilflos an.
„Ich kann nur vermuten, dass du um diese Änderung nicht herumkommen wirst, bis du in den Widerstand eintreten wirst. Offenbar warst du das exponierteste Ziel, weshalb auch immer, sodass du ohne diesen neuen Namen noch schneller aufzufinden gewesen wärst und mit Sicherheit terminiert worden wärst. Vielleicht schließe ich diese nette kleine Zeitschleife in genau diesem Moment, wenn ich dir hiermit sage, du musst deinen Namen so schnell wie möglich ändern, um deine Identität in der Vergangenheit zu schützen.“
„Ja, ich werde darüber nachdenken. Wahrscheinlich kommt der Augenblick der Entscheidung irgendwann von selbst. Wenn es soweit ist, werde ich es erkennen.“ Natasha nickte versonnen.
„Wenn ich darüber nachdenke, ergeben sich für mich einige Zeichen, die darauf hingedeutet haben, dass du ein Terminator bist. Zum Beispiel bei deinen gespielten Fluchtversuchen vor dem ersten Alex bei Freiburg hast du dich nie stark gewehrt, sobald du dich einfangen gelassen hattest. Denn dann hätte er merken können, dass du sehr viel stärker bist, als es den Anschein hatte.“ Simon trumpfte auf und fuhr nach einem Moment des Nachdenkens fort: „Und deshalb hast du dich auch nicht von den Terminatoren im Hochhaus von einem Stockwerk in das andere heben lassen. Sie hätten sofort gemerkt, wie schwer du in Wirklichkeit bist.“
„Das ist richtig“, bestätigte Caroline, „doch am haarigsten war es im Hausflur vor Shins Wohnung in Erfurt. Ich hatte mich in die Schussbahn des TSR 301-Modells geworfen, als der eine Uzi auf uns abfeuerte. Die ersten Kugeln trafen alle mich, während ich Aishe und Natasha umwarf, den Rest bekam Alex ab. Niemand hatte gemerkt, dass ich getroffen worden war, doch meine Jacke, das einzige echte Kleidungsstück an mir, war von den Kugeln durchsiebt. Deshalb habe ich sie auch im Haus lassen müssen, unter dem Vorwand, sie in der Hitze des Gefechtes schlicht vergessen zu haben, damit das niemand merken konnte.“
„Und wie war das beim Safehouse in Öland? Niemand hatte auch nur den blassesten Schimmer davon, dass du zur Zeit des Gefechtes nicht im Haus warst“, stellte Shin ein wenig ratlos fest.
„Wir sind von drei Seiten her angegriffen worden. Ich habe mich durch mein Zimmerfenster geworfen und so schnell wie möglich zum Meer hin bewegt, um den Kampf am Strand entlang zu umgehen und mich von außen her, von der anderen Seite der kleinen Dünenkette den Feinden zu nähern. Den ersten habe ich eiskalt aus dem Hinterhalt erwischt. Nach meinem ersten Treffer war er deaktiviert und ist an der Stelle liegen geblieben, an der ich ihn erwischt habe. Dann habe ich den schon beschädigten weiblichen T-880 aus größerer Entfernung zweimal angeschossen, worauf auch dieser immobilisiert war. Den habt ihr dann später gefunden.
Als ihr gemerkt habt, dass ich eingegriffen habe und die beiden anderen einen strategischen Rückzug angetreten hatten, ist der zuerst von mir getroffene männliche T-880 wieder in Aktion getreten, was mir gerade recht kam. Er war kaum auf den Füssen und bot mir somit ein Ziel, als ich auch schon auf kürzeste Distanz einen Volltreffer auf seinen Brustkorb gelandet habe. Die Beschädigung durch meinen ersten Schuss hatte ausreichend Vorarbeit geleistet, um seine Panzerung zu durchschlagen und seine Brennstoffzellen explodieren zu lassen. Ich konnte mich gerade noch rechtzeitig in einer Kuhle zu Boden werfen. Die Detonation stiftete glücklicherweise genügend Verwirrung, um mich gerade noch unerkannt rechtzeitig in mein Zimmer zurück kehren zu lassen. Als ich merkte, dass ihr bereits beim ‚Durchzählen’ wart, habe ich mich als traumatisiert ausgegeben, damit es nicht weiter Argwohn erregen konnte, dass ich mich nicht gleich gemeldet hatte.“
„Schlau, schlau. Aber du bist auch einige Risiken für die Gruppe eingegangen, um deine Tarnung aufrecht zu erhalten, findest du nicht?“ forderte Aishe Rechenschaft von ihr.
„Ich habe stets versucht, die Risiken abzuwägen und so klein wie möglich zu halten. Worauf genau beziehst du dich?“
„Ein Beispiel aus jüngerer Zeit: als wir nach der Rettung von Nicolas die Fracht des Sea King bergen wollten, haben Abbey und Daniel bewusst nur Shin, mich und dich als Crew mitgenommen, weil wir die leichtesten in der Gruppe sind und damit mehr Güter hätten transportieren können. Und da sie dein Gewicht mit fünfzig Kilogramm angesetzt haben, wären wir fast mitsamt dem Hovercraft abgesoffen, als wir die gesamte Fracht an Bord hatten und alle eingestiegen sind. Und da keiner von euch Terminatoren schwimmen kann, hättet ihr uns auch nicht helfen können, wenn wir in der eiskalten See gelandet wären. Was glaubst du, wie lange kann ein Mensch in zwei Grad kaltem Wasser überleben? Ein paar Minuten vielleicht?“
„Das Griffon hat genug Reserven, um das aufzufangen, dessen war ich mir sicher, denn ich war es schließlich, der es beschafft und eigenhändig überholt hat. Seitdem hat der Motor acht PS mehr, läuft wie geschmiert und verträgt im Notfall auch etwas mehr als die werksseitig zugestandene Tonne Ladung. Ich habe darauf vertraut, dass Daniel die Überladung schnell genug am Verhalten des Bootes bemerkt, um euch wieder Fracht abwerfen zu lassen und in den grünen Bereich zurück zu gelangen.“
„Eiskalt kalkuliert, würde ich sagen“, gestand Shin ihr widerwillig mit grimmiger Miene zu. „Mir kommt gerade in den Sinn, dass Daniel während der Fahrt hierher einmal zu mir gesagt hat, unser Volvo fühle sich vom Ansprechverhalten des Motors und dem Fahrverhalten her überladen an, obwohl er es eigentlich nicht sein dürfte. Und du bist immer auf der rechten Seite hinten gesessen, damit das Fahrzeug keine ‚Schlagseite’ wegen ungleichmäßiger Beladung bekommen konnte. Es bleibt anscheinend immer am hohen Gewicht hängen, nicht wahr?“
“Der große Schwachpunkt bei meiner Konstruktion.“ Caroline zuckte mit den Schultern und lächelte schief.
„Darf ich etwas fragen?“ druckste Karin zögerlich herum und wartete auf Carolines Nicken, bis sie fortfuhr. „Wie war das mit Bernd? Ich meine, warum hast du zuerst mit ihm... sagen wir ‚kokettiert’, um ihn dann doch abzuschießen? Glaubst du, er hätte etwas merken können?“
„Ja. Dieses Risiko war schlicht zu hoch. Bei einem Menschen, der nichts von der Existenz von Terminatoren ahnt und nicht auf so einen Gedanken kommen konnte, hätte ich mich sicher vor Entdeckung gefühlt. Aber so hatte die gefahr bestanden, dass er gewisse Zeichen hätte richtig einordnen und einen Verdacht hegen können. Er war zu gut, um es nicht zu merken und kurz davor, mir auf die Schliche zu kommen“, gab Caroline zu. Ihr Gesicht drückte dabei fast schon Bedauern aus.
„Aber alles in allem war deine Tarnung so perfekt wie nur möglich. Wenn wir darüber nachdenken, finden wir sicher noch Dutzende von kleinen Hinweisen, die einzeln betrachtet alle harmlos sind, doch insgesamt darauf hinweisen würden, dass da etwas nicht gestimmt hat“, resümierte Aishe.
„Für mich ist es dennoch wichtig, dass ihr mich nicht als Maschine seht.“ Mit bangen Blicken musterte sie die Gesichter der Gruppe.
Natasha erhob sich und ging zu ihr, um sie mit gestreckten Armen an den Schultern zu packen und sie anzusehen. „Ich glaube ich spreche für alle, wenn ich sage, dass du uns dafür schon viel zu sehr ans Herz gewachsen bist. Allein Abbey und Daniel sind schon eher Freunde und Kameraden als nur Roboter. Sie sind unsere Mentoren und Beschützer, aber du bist mehr als das.“
Caroline war sichtlich gerührt. „Danke, Natasha. Es ist mir sehr wichtig, dass du so denkst.“
„Wir alle tun das, nicht wahr, Leute?“ krähte Shin übermütig und erntete zustimmendes Gemurmel.
Karin sah recht nachdenklich drein, als sie nachhakte: „Eine Sache noch, Caroline.“
„Ja?“ Sie sah auf, ungewiss über die nächste Frage, da sie eigentlich angenommen hatte, das ‚Verhör’ sei vorüber gewesen.
„Wir haben gelernt, dass jeder Terminator, nachdem er aktiviert wurde, immer erst aus eigener Erfahrung den Beschuss von Feuerwaffen erleben und den Umgang damit, also die Kompensation der Einschläge, bewältigen muss. Bei dir hatte ich allerdings den Eindruck, du würdest es kaum merken, als der T-1000 dich mit einer vollen Breitseite beharkt hat. Hat das mit deiner überlegenen Konstruktion zu tun?“
„Nein, durchaus nicht. Ich hatte gehofft, es nie erwähnen zu müssen, aber ich habe während meiner Zeit hier auch einige düstere Episoden erlebt, auf die ich nicht gerade mit Stolz zurück blicken kann. Und dieser Umstand, den du erwähnt hast, hat seinen Ursprung in einer dieser Episoden. Du hast recht, Karin, auf mich sind schon mehr Geschosse abgefeuert worden als bei unserem gesamten Kampf gegen die Eindringlinge letzte Woche.“
„Was? Wie kommt denn das?“, wollte Shin wissen.
„Nun, es war schon vor langer Zeit, als ich mich dazu entschieden habe, dass ich gewissermaßen Übung in dieser Disziplin haben sollte, wenn es dereinst hart auf hart kommen sollte. Heute bin ich froh über diese Entscheidung, da sie mir den Luxus erlaubt hat, während des Kampfes mit dem T-1000 alle Kugeln elegant einzustecken, ohne hintenüber zu kippen.
Aber beim ersten Mal ist es doch ziemlich hart gewesen. Natürlich kann ich mich noch genau daran erinnern. Ich habe ein sehr großkalibriges Geschoss aus einem schweren Maschinengewehr einstecken müssen, das einen Menschen in Stücke gerissen hätte. Es hat mich getroffen wie ein Dampfhammer und ich habe tatsächlich ein paar Sekunden alle Viere von mir gestreckt. In der allgemeinen Verwirrung ist zum Glück damals keinem aufgefallen, dass ich wieder aufgestanden bin und weitergemacht habe, aber ich war...“
„Halt, halt, halt!“ unterbrach Natasha sie ein wenig ungnädig. „Deine nostalgische Wehmut in allen Ehren, aber willst du uns nicht kurz erklären, wie und wo du dazu gekommen bist, dich beschießen zu lassen, mehrmals, wenn ich das richtig verstanden habe, ohne dass jemals irgend jemandem aufgefallen ist, dass du unverletzt geblieben bist?“
„Gut, aber es wird euch nicht gefallen. Sagt euch der Name ‚Davy Crockett’ irgendwas?“
Dimitri horchte auf. „Die kleinste je gebaute, tragbare Atombombe der Amerikaner für Feldeinsätze? Ja, ich habe sie erwähnt, als wir im Safehouse auf Öland attackiert wurden, aber was hat das mit...?“
„Nein, nein, nicht dieser Davy Crockett“, winkte Caroline ab, „die Person mit historischem Bezug. Die Legende von Davy Crockett.“
„Der furchtlose amerikanische Nationalheld, der im Krieg gegen die Mexikaner in der Schlacht um Fort Alamo gefallen ist?“ mutmaßte Simon.
„Ganz genau der“, lobte Caroline, schwächte jedoch gleich wieder ab, „jedenfalls so ungefähr. Ich glaube, ich beginne am besten mit der Problematik, der ich mich gegenüber sah. Ich war also in der Vergangenheit gestrandet, hatte mich gerade halbwegs in den USA eingelebt und die Kuba-Krise Anfang der Sechziger Jahre ausgesessen, als mir bewusst wurde, dass ich praktische Erfahrung im Einfangen von Kugeln bekommen musste. Die Schwierigkeit bestand darin, wie du ganz richtig bemerkt hast, Natasha, dass niemand etwas davon merken sollte. Ich musste demnach einen Ort finden, wo die Luft ziemlich bleihaltig war und wo angemessen Verwirrung und Desorganisation herrschte, damit niemand Wind davon bekam, was da eigentlich vor sich ging, wenn ich angeschossen oder vorzugsweise auch durchsiebt würde und keinen Schaden davontragen würde. Na, klingelt’s schon bei einem von euch?“
Alle sahen sich an und zuckten mit den Schultern, doch dann sprang Dimitri wie von der Tarantel gestochen auf. „Nein! Das kann es nicht sein, oder? Das hast du mit der ‚Legende von Davy Crockett’ also gemeint!“
„Sag’ bloß, ihr habt in Russland auch davon gehört“, bemerkte Caroline und wurde beinahe verlegen dabei.
„Aber klar, wenn man nach Dienstschluss bei einer Flasche Wodka beisammen sitzt, wird alles an wilden und unheimlichen Geschichten aufgewärmt, was es nur gibt.“
Natasha sah mit gerunzelter Stirn zu ihrem Kameraden auf. „Da wir anderen nicht mit dem militärischen Hintergrundwissen von Dimitri gesegnet sind, schlage ich vor, ihr erleuchtet uns ebenfalls.“
„Ja, gut. Wie ihr sicher wisst, tobte damals der Kalte Krieg in vollen Zügen. Dieser bestand im Wesentlichen aus dem Konflikt der verschiedenen Ideologien, dem sozialistischen Kommunismus und dem westlichen ‚Imperialismus’...“
„Jetzt mach mal halblang, gospodin“, bremste Natasha ihn erzürnt ein, worauf dieser verlegen zu Boden sah und Caroline für ihn die Ausführungen übernahm.
„Nun, Kern der Sache ist, dass sich alle der Tatsache bewusst waren, dass dieser Krieg aufgrund des atomaren Zerstörungspotentials der Supermächte niemals offen ausbrechen durfte. Statt dessen wurde der Streit der Weltanschauungen auf dem Rücken von Dritten ausgetragen. Und damals war der bei weitem heißeste Kriegsschauplatz ein Küstenstreifen in Südostasien, der von dicht wucherndem Dschungel bewachsen war und wo alles drunter und drüber ging. Aus dem kommunistisch regierten Norden fielen unentwegt Truppen ein, die von den Amerikanern, die der westlich orientierten Regierung im Südteil des Landes zu Hilfe kamen, nur unzulänglich und nicht sehr effektiv bekämpft werden konnten. Durch die hohe Verlustrate der Patrouillen in der ‚Grünen Hölle’, dem damit verbundenen Stress und den Traumata der Soldaten bis hin zu handfesten Psychosen resultierte logischerweise häufiger Drogenmissbrauch, in der Hoffnung, die Todesangst und Ungewissheit besser ertragen zu können. In dieser Zeit sind viele unerklärliche Dinge von den Soldaten im diffusen Halbdunkel des Regenwaldes gesehen worden, von denen die meisten als Unfug und Hirngespinste abgetan wurden. Aber manche Ereignisse und Erscheinungen haben es zum Legendenstatus gebracht, da viele Männer unabhängig voneinander und an verschiedenen Orten das selbe berichtet hatten.
Dazu gehört die Geschichte vom Geiste Davy Crocketts, der ruhelos durch die Wälder streift und über die US-Soldaten wachte. Keine Kugel konnte ihm etwas anhaben und er half oft, wenn Not am Mann war. Dieser Mythos wurde im Nachhinein dem Umstand zugeschrieben, dass sich die GIs in ihrer Verzweiflung an die heldenhafte Legende aus ihrer Kinderzeit klammerten, um so an etwas glauben zu können, was ihnen neuen Mut und Zuversicht verliehen hat.“
Als Caroline verstummte, sahen sie alle tatsächlich an, als sei sie eine übernatürliche Erscheinung. Aishe sprach es aus. „Du willst damit sagen, du warst der sagenumwobene Geist von Davy Crockett? Du warst das, der aufs Geratewohl im Kugelhagel aufgetaucht ist, einer Gruppe Soldaten in einer ausweglosen Situation den Hintern gerettet hast und danach wieder spurlos verschwunden bist? Aber... wie?“
Ausweichend erklärte Caroline: „Na ja, das Problem ist, man kann nicht allen helfen. Ich musste eine Menge Leute sinnlos sterben sehen, durch Minen, Sprengfallen, Feuerüberfälle und noch viel Entrsetzlicheres. Ich hatte damals eine schlimme Zeit durchzustehen, da alles was ich tat, die Zeitlinie verletzte konnte. Und wann immer ich im Einsatz ‚gefallen’ bin, nahm ich das Aussehen eines Zurückgebliebenen an, der ebenfalls tot oder schwer verwundet im Busch lag, um weiter herum zu kommen. Es ist nie etwas aufgefallen. Nach einem knappen Jahr hatte ich genug davon und bin zurück in die Staaten.“
„Das ist heftig.“ Nach Shins kurzem Kommentar versanken alle in brütendes Schweigen.
Hallevik, Insel Rolla, Troms Fylke, Norwegen 27. März 2005
Karin wachte auf und lauschte im Dämmerzustand auf das ruhige, tiefe Atmen von Bernd im anderen Bett, bis die Realität sie wieder einholte und sie schlagartig wach wurde. Sie musste sich allmählich an den Gedanken gewöhnen, dass er tot war. Und heute morgen würde sie das können, das fühlte sie tief in ihrem Herzen.
Das Frühstück ließen sie aus, denn niemand von ihnen hatte heute Hunger. So legten sie alle gleich warme Winterkleidung an und befreiten das Luftkissenboot vom Tarnüberzug. Als sie in der Kabine Platz genommen hatten, kamen Abbey und Daniel und trugen jeweils ein in weiße Laken gehülltes Bündel, dessen Inhalt für alle eindeutig war. Die beiden T-880 verzurrten ihre leblose Last auf dem Dach der flachen Kabine, dann stieg Abbey ein und nahm den Pilotenplatz ein, während Daniel zurückblieb, um nach Nicolas zu sehen.
Sie fuhren hinaus auf den Vågsfjorden, in die Mitte der weiten Wasserstraße gegenüber vom Safehouse, wo sie das Hovercraft über dem langsam treibenden Packeis zum Halt brachten und die Ausstiegsluke der Kabine öffneten. Caroline sah alle eindringlich an. „Will jemand noch ein paar letzte Worte sagen?“
Alle sahen betreten auf das blanke Riffelblech des Kabinenbodens.
„Angesichts der Sinnlosigkeit ihres Todes... nein.“ Dimitris Kiefer mahlten.
Karin stammelte tonlos: „Ich glaube, es... es hätte ihnen gefallen, hier... ihre letzte... Ruhe...“
Als ihre Stimme versagte und sie zu schluchzen begann, nahm Aishe sie in die Arme und bekam selbst feuchte Augen. Sie nickte Caroline zu, worauf diese sich behände aus der Kabine auf den schmalen Rand des Bootsdecks schwang und die erste der beiden Leichen losband. Mit langsamen und bedächtigen Bewegungen hievte sie den eingehüllten und beschwerten Körper auf den Rand des Gummiwulstes, welcher das Luftkissen unter dem Boot hielt und ließ ihn würdevoll herabgleiten. Er fiel in eine schmale Lücke zwischen zwei Eisschollen und versank schnell in den eiskalten Fluten.
Den meisten kamen die Tränen, als nun auch der zweite mit Gewichten bestückte Körper von dem klaren, dunklen Wasser des Nordmeeres aufgenommen wurde. Ohne viel Federlesens beendeten sie die schmucklose Zeremonie und kehrten zum Ufer von Rolla zurück. Ihnen war unterschwellig bewusst, dass dies nicht die letzten liebgewonnenen Menschen gewesen waren, die sie zu Grabe würden tragen müssen.
Später am Vormittag verließ Karin den Rest der Gruppe im Wohnraum, um nach Natasha zu sehen. Sie sah beim Hinausgehen über die Schulter und ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Auch ihr hochgeschätzter Gemeinschaftsraum würde nach diesem Kampf nie mehr derselbe sein. Sie hatten sich hier immer absolut sicher gefühlt, bis der T-1000 ihre Illusion zerstört hatte und sie mit einem flauen Gefühl im Magen zurückließ, das sie nun immer haben würden, wenn sie hier beisammen sitzen würden.
Und hier waren zwei von ihnen gestorben, auf eine unmenschlich grausame Weise. Nicht einmal die Bezeichnung ‚Hinrichtung’ wurde dem gerecht, was diese abstrakte, emotionslose Tötungsmaschine mit Ana und Bernd gemacht hatte.
Karin wischte den Gedanken beiseite und versuchte, den Blick nach vorne zu richten, als sie auf den Flur trat. Sie hatte eine recht gute Vorstellung davon, wo Natasha sein würde. Sie öffnete die hinterste rechte Tür direkt neben der Schleuse.
Natasha saß am Krankenbett von Nicolas und betrachtete den Franzosen, der mit tiefen ruhigen Atemzügen in seinem Bett lag. Ein Tropf war am Bettpfosten befestigt und führte ihm eine Glucoselösung zu, ein zweiter versorgte ihn mit einer Kochsalzlösung.
„Natasha, du kannst nicht immer nur hier sitzen und über ihn wachen. Wir tun für ihn, was wir können. Was ist nur los mit dir?“ fragte Karin besorgt.
„Ich weiß es doch auch nicht. Ich kann einfach nicht anders. Seit ich ihn zum ersten mal gesehen habe, habe ich das Bedürfnis, in seiner Nähe sein zu wollen. Kannst du das verstehen?“ Ein wenig schief lächelte sie zu ihm herüber.
„Ich glaube, du hast jemanden gefunden, Nati. Das macht den Gedanken ein wenig erträglicher, was ich verloren habe.“ Ungewollt brachen die Tränen wieder aus ihr heraus und sie drückten sich fest, um sich gegenseitig Trost und Nähe zu spenden.
„Where am I? Who are you?“
Die beiden Frauen fuhren wie vom Blitz getroffen auseinander und starrten hinab auf ihren Verwundeten, der erwacht war und aus halbgeschlossenen Augen zu ihnen herübersah. Dabei konnte man deutlich erkennen, dass ihm bereits die Drehung des Kopfes erhebliche Mühe machte.
Natasha sah Karin an, die kaum merklich nickte und dann ging. Sie beugte sich hinab und ergriff die Hand von Nicolas, dessen Augen sich ein wenig weiteten bei ihrem Anblick.
Auf Englisch sagte er leise: „Was ist passiert? Bin ich tot?“
Sie strich ihm sanft über die Stirn und erwiderte: „Aber nein. Wie kommst du nur darauf? Bist du im Delirium?“
„Nein, ich habe für einen Moment gedacht, du bist ein Engel.“ Seine tiefdunklen Augen schimmerten, als er zum ersten Mal seinen Mund zu einem Lächeln verzog, das sie strahlend erwiderte.
„Wie charmant. Nein, der Helikopter ist abgestürzt, in dem du geflogen bist. Wir haben dich aus dem Wrack gezogen, bevor es draußen auf dem Fjord gesunken ist. Seit drei Tagen liegst du hier bewusstlos; du warst der einzige Überlebende.“
„Drei Tage? Oh nein, ich muss...“ Er versuchte sich impulsiv zu erheben, zuckte jedoch zusammen und ließ sich mit schmerzgepeinigtem Gesicht und einem lauten Aufstöhnen wieder zurück sinken.
Natasha legte besänftigend eine Hand auf seinen Brustkorb: „Du bist schwer verletzt und darfst dich nicht bewegen, mein Lieber. Wohin willst du denn so schnell?“
„Mein Trägerschiff... es ist hier im Gebiet auf Patrouillenfahrt und versorgt die vorgeschobene Basis. Ich muss aufs Schiff zurück...“
„Langsam, mein Guter. Du hast nicht nur zahlreiche Knochenbrüche, sondern auch eine schwere Gehirnerschütterung und leichte innere Verletzungen. So bist du auf keinen Fall transportfähig. Wie heißt dein Schiff denn?“
„Es ist die H.M.S. Illustrious. Ein englischer Flugzeugträger, auf dem ich als Gastbeobachter der französischen Marine war, als der Tag des Jüngsten Gerichts stattfand.“ Er sah die Verwunderung in ihren Augen. „So nennen wir die Katastrophe, welche die Welt zerstört und nur wenige von uns am Leben gelassen hat. Wir können von Glück sagen, dass wir verschont geblieben sind.“
„Das wusste ich nicht. Wir sind seit dem Tag des Angriffs kaum aus dem Haus herausgekommen und haben keinerlei Informationen über das, was in der Welt passiert.“ Natasha wurde ein wenig schwermütig und nahm vorsichtig Nicolas Hand in ihre. „Ich wusste nicht einmal, dass Großbritannien überhaupt Flugzeugträger hat.“
Er schüttelte angestrengt den Kopf. „Nur noch einen. Wir sind zwei Tage lang unter einer Sturmfront über den Nordatlantik gelaufen, sodass die Russen keine aktuelle Position unseres Verbandes mehr hatten. So haben sie wahrscheinlich bei ihrem Angriff einfach die letzten Satellitenaufnahmen verwendet, um unseren ungefähren Kurs weiter zu berechnen. Und so lag ihr Schlag fast hundert Meilen hinter unserem Standort. Man muss dazu sagen, dass dieser Träger nur ein kleiner ist, verglichen mit den Riesenpötten der Amerikaner. Auf ihm sind nur leichte Senkrechtstarter und Hubschrauber stationiert. Alle anderen Flugzeugträger und sonstige schwere Kriegsschiffe von westlichen Ländern sind versenkt worden, bis auf uns.“
„Ich fürchte, in einem Punkt irrst du dich. Nicht die Russen haben angegriffen, sie haben sich nur verteidigt. Es waren Raketen von amerikanischem Boden aus, die zuerst gestartet wurden, und zwar auf Russland und China. Der verzweifelte russische Gegenschlag hat unsere Heimat vernichtet.“
Nicolas wollte hochfahren, zuckte aber erneut zurück, als die damit verbundenen Schmerzen ihn übermannten. „Das... das ist nicht dein Ernst, oder? Woher willst du das wissen?“
Sie erzählte, ohne auf seine Frage einzugehen: „Der Auslöser war ein militärisches Super-Computerprogramm der Amerikaner, das heimlich auf zig Millionen zivilen Rechnern mit Internetanschluss installiert worden war, um dessen gigantische Rechenkapazität zu bewältigen. Es basierte auf dem Prinzip der künstlichen Intelligenz, geriet aber tragischerweise außer Kontrolle, wie so manches in den USA dieser Tage. Skynet, so sein Name, entwickelte ein eigenes Bewusstsein, übernahm die totale Kontrolle über alle Kommunikationskanäle, legte diese lahm und nutzte das dadurch entstandene Chaos, um der Menschheit ohne deren Wissen den totalen Krieg zu erklären. Es feuerte sämtliche ballistischen Interkontinental- und strategische U-Boot-Raketen auf die Gegner der USA mit atomarem Vergeltungspotential ab, worauf diese ihrerseits im Gegenschlag die westliche Welt in Schutt und Asche legten. Das ist im großen und ganzen die Geschichte. Fazit: Vielen Dank, God’s own Courtry.“
„Das kann nicht dein Ernst sein. Das...“ Nicolas ungläubige Stimme versagte, als ihm etwas aufzugehen schien. Er legte seinen Kopf ganz langsam zur Seite und flüsterte mit todernster Stimme: „Wer bist du, dass du über diese Informationen verfügst? Niemand weiß, was eigentlich geschehen ist! Wo bin ich hier?“
„Das ist eine lange Geschichte und ich bin mir absolut sicher, dass du mir kein Wort davon glauben wirst. Ich würde es auch nicht, wenn ich an deiner Stelle wäre. Es klingt wie eine abgedrehte Science-Fiction-Story, ist aber leider Gottes die bittere Realität. Und wenn du glaubst, der Menschheit geht es im Moment dreckig nach diesem Atomkrieg, dann warte mal ab, was in den nächsten Jahrzehnten auf uns zukommt.“ Sie klang keinen Deut weniger ernst als er.
Unerwarteter weise musste er plötzlich lächeln. „Du glaubst offenbar an das, was du tust und du bist dir deiner Sache absolut sicher. Ich mag das.“
„Soll das ein Flirtversuch sein? Pass bloß auf, ich kenne euch Franzosen, ich komme aus Freiburg“, warnte sie ihn, lächelte aber ebenfalls. „Aber ja, du hast recht, ich bin überzeugt von meiner ‚Mission’. Und ich bin damals auf sehr spektakuläre Weise überzeugt worden, das kannst du mir glauben.“
„Dann überzeuge mich“, forderte er bestimmt.
„Alles zu seiner Zeit“, verfügte sie ebenso rigoros, „erst einmal brauchst du Ruhe, damit du so schnell wie möglich wieder zu Kräften kommst. Das Schicksal hat noch großes mit dir vor.“
„Klingt gut.“
Sie seufzte. Keiner von ihnen sollte dem zukünftigen General der Résistance und Führer der Menschheit in Europa im Kampf gegen die Maschinen verraten, welche Zukunft ihm zugedacht war. Jedenfalls noch nicht für eine lange Zeit.
Er hielt plötzlich inne, als ihm etwas einzufallen schien. „Es tut mir leid, ich habe dich noch nicht einmal gefragt, wie du heißt.“
Natasha öffnete den Mund, hielt inne und erstarrte. Dann wurden ihre Augen wässrig, als sie einen Entschluss fasste und ihm mit sanfter Stimme antwortete.
„Ich heiße Maja. Maja Maranoff.“
Hallevik, Insel Rolla, Troms Fylke, Norwegen 31. März 2005
Nicolas ging es zunehmend besser. Er aß wieder und kam zu Kräften, sodass es ihm natürlich auch immer langweiliger wurde. Er begann Fragen zu stellen, unangenehme Fragen, deren Beantwortung ihnen nicht möglich war, wollten sie ihn nicht überstrapazieren. Doch inzwischen dachten sie darüber nach, ihn in ihr Geheimnis einzuweihen.
Während des heutigen Vormittagsunterrichtes, den die Gruppe nunmehr nur noch zu siebt bestritt, wachte Caroline über Nicolas. Ihm kam es verdächtig vor, dass sie ihn praktisch Tag und Nacht nie alleine ließen, worauf er sie auch ansprach. Sie antwortete nur: „Uns liegt sehr viel an deiner Gesundheit und deiner Sicherheit.“
„Dann bewacht ihr mich? Habt ihr etwa Angst, dass ich abhauen könnte? Doch nicht in diesem Zustand!“ protestierte er.
„Gewiss nicht“, wiegelte sie ab. „Wir sorgen uns einfach um dich. Und wir haben uns beraten, dass es allmählich Zeit wird, dass du alle Zusammenhänge erfährst. Du erscheinst mir inzwischen stabil genug, um das zu verkraften. Ich habe allerdings vorher noch eine Frage an dich: Hältst du dich selbst eher für einen rationellen oder emotionellen Typ? Ich meine, wenn ich dir jetzt eine phantastische Geschichte auftische, würdest du mir spontan glauben, oder würdest du Beweise dafür verlangen?“
Er brütete für kurze Zeit vor sich her und kam dann zu einem Entschluss: „Ich denke, ich habe schon eine Menge Phantasie. Eure Story vom bösen Computerprogramm, das die Menschheit auslöschen wollte und deshalb einen Atomkrieg angezettelt hat, klingt nur auf den ersten Blick abwegig. Je länger ich darüber nachgedacht habe und das ganze hinterfragte, desto mehr Hinweise habe ich aufgrund der wenigen Fakten gefunden, die mir bekannt sind, dass eventuell doch etwas daran sein könnte.“
„Das klingt doch hoffnungsvoll“, meinte sie lächelnd.
„Moment, ich war noch nicht fertig“, unterbrach er sie, „denn ich wollte noch anmerken, dass ich zwar ein ‚Akte-X’-Fan bin, aber eher auf der Seite von Scully stehe. Damit meine ich, dass ich zwar bereit bin, auch das Unglaubliche zu glauben, wenn ich einen schlagkräftigen oder gewichtigen Beweis dafür erhalte.“
Caroline überlegte und sagte dann bedächtig: „Nun, ich habe mich heute morgen mit den anderen besprochen und wir sind übereingekommen, dass ich es versuchen soll. Bist du bereit?“
„Schieß los“, gab er fügsam zurück.
Sie begann: „Maja hat dir von der wahren Natur des Atomkrieges erzählt, aber sie hat dir noch nichts von den weiteren Plänen des Supercomputers gesagt. Dieser paranoide Bastard wird sich nämlich nicht damit zufrieden geben, diesen Konflikt entfesselt und damit die halbe Menschheit auf einen Schlag ausgelöscht zu haben. Nein, er will ganze Arbeit leisten und wird in automatisierten Fabriken nach und nach unvorstellbare Zahlen von immer weiter verfeinerten Kampfmaschinen produzieren und diese in die Welt hinaussenden, mit dem Ziel, auch noch den letzten Menschen im entlegensten Winkel der Erde aufzuspüren und zu terminieren. Zunächst sieht es auch ganz so aus, als hätte er Erfolg damit, doch dann...“
Nicolas hörte gebannt zu, wobei sich sein Gesicht immer mehr verfinsterte und deutliche Ablehnung signalisierte. Als sie mit dem Geschichtsunterricht für die nächsten dreißig Jahre geendet hatte und ihn erwartungsvoll ansah, verschränkte er die Arme über der Brust. „Und das alles soll ich dir abnehmen? Du hältst mich wohl für bescheuert.“
„Durchaus nicht, ich habe mit solch einer Reaktion gerechnet. Wer will schon freiwillig akzeptieren, dass der Menschheit nach einer so unvorstellbaren Katastrophe noch viel mehr Leid droht und auch mit Sicherheit über sie hereinfallen wird? Würde ich auch nicht wollen.“
„Caroline, du redest von Ereignissen, die in ferner Zukunft liegen. Dass ihr aus irgendeinem auch noch so obskuren Grund diese Sache mit Skynet herausgefunden haben könntet, kann ich ja noch mit viel Wohlwollen glauben, aber das geht zu weit! Könnt ihr etwa in die Zukunft sehen?“
„Nein, ich stamme aus der Zukunft. Genauso wie Abbey und Daniel. Aus unserer Sicht sind diese künftigen Geschehnisse historische Ereignisse.“
Nicolas lachte, klang aber nicht amüsiert. „Natürlich, warum bin ich nicht von selbst darauf gekommen.“
„Und wir drei sind keine Menschen.“
Jetzt lachte er nicht mehr. „Na toll, ich bin in einem Nest voller Verrückter gelandet.“
„Nein, nur die Welt ist verrückt geworden. Wir alle hier sind völlig normal.“ Caroline klang derart ernsthaft und sachlich, dass er einen Anlauf machte, ihre Gespinste mit purer Logik zu entkräften.
„Du bist also aus der Zukunft und du bist kein Mensch. Was bist du dann? Ein Außerirdischer?“
„Nein, ein Roboter. Ein Kunstmensch. Aber nur ich, denn Abbey und Daniel entstammen einer älteren Baureihe, sie sind Cyborgs. Ihr mechanisches Innenleben ist noch mit künstlich gezüchtetem menschlichem Gewebe überzogen, weil man damals noch keine andere Möglichkeit hatte, dieses anderweitig zu simulieren wie bei mir...“ Und damit enthüllte sie ihm auch noch die wahre Natur der Terminatoren und deren eigentliche Aufgabe in der Zukunft.
Danach blieb Nicolas ganz ruhig liegen und sah gegen die Unterseite des oberen Bettes. Leise wisperte er: „Kannst du das beweisen?“
Sie erhob sich und sagte mit einem schiefen Lächeln: „Geh nicht weg, ich bin gleich wieder da.“
„Ja, klar“, gab er ironisch zurück und besah sein linkes Bein, das geschient war.
Nach nur zwei Minuten kehrte sie zurück und holte einen runden, schimmernden Gegenstand in der Größe einer Melone hinter ihrem Rücken hervor, wo sie ihn verborgen gehalten hatte, und hielt ihn ihm vor die Nase. Noch bevor er eine einzige Frage stellen konnte, drehte sie ihn herum, worauf Nicolas mit einem ächzenden Laut auf den Kopf von Alex starrte, den sie vom Gewebe befreit, gesäubert und eingelagert hatten, falls sie einmal Bedarf für Ersatzteile daraus haben sollten. Sprachlos musterte er den chromglänzenden Totenschädel, der statt Kiefermuskeln zwei kleine Hydraulikzylinder aufwies und zwei perfekt geformte Zahnreihen, welche das Sensenmanngrinsen komplettierten. Mit Grausen starrte er auf die tief in den Höhlen liegenden Optikrezeptoren, wo ansonsten Augen wären.
„Das... das ist... Mann!“ Er lachte erneut. „Weißt du, einen Moment lang bin ich wirklich darauf hereingefallen. Ein tolles Spielzeug hast du da. Aus Kunstharz gegossen, stimmt’s? Nimmst du den als Briefbeschwerer?“
„Du wolltest doch gewichtige Argumente? Bitte!“ Sie nahm den Kopf in beide Hände und legte ihn auf Nicolas’ Bauch, ließ aber nicht ganz los, um ihn nur einen Teil des Gewichtes spüren zu lassen. Mit einem verblüfften Ächzen entwich die Luft aus seinen Lungen, als das unerwartet hohe Gewicht sein Zwerchfell nach oben presste.
„Uff! Mein Gott, der wiegt ja mindestens...“
„Knapp zwanzig Kilo. Glaubst du mir jetzt? Warum sollte ich mir so eine Mühe machen und einen massiven Schädel aus einer hochfesten Metalllegierung gießen und mit High-Tech voll stopfen, nur um dir einen Bären aufzubinden? Oder was hältst du davon? Auch nur ein Gimmick?“ Sie griff nach unten und zeigte ihre freie Hand vor, in der sie einen Unterarm mitsamt Hand von Alex hielt. Die vergleichsweise rudimentäre Technik des T-800 war zur Veranschaulichung besser geeignet als die weiterentwickelte, aber viel kompaktere Bauweise der Gliedmassen von T-880 und T-X.
Nun klappte ihm die Kinnlade hinab. Er griff instinktiv nach dem Glied, hielt es aber mit beiden Händen, als erwartete er bereits das hohe Gewicht, das es tatsächlich aufwies. Mit einem Kopfschütteln untersuchte er den Arm von allen Seiten eingehend und versuchte, einen der Finger zu bewegen, was ihm aber auch nicht mit äußerstem Krafteinsatz gelang.
„Darf ich?“ Sie griff nach der Hand und beugte und streckte den Daumen, wobei sich deutlich sichtbar der darin eingebettete Bowdenzug bewegte. Sie beugte zusätzlich das Handgelenk, wobei sich mehrere feingliedrige Stellzylinder mit leisem Sirren mitbewegten.
Nicolas hatte mit geweiteten Augen zugesehen und ließ sich nun ins Bett zurückfallen. „Oh Gott, du hast die Wahrheit gesagt. Und Abbey und Daniel sind ebenfalls Roboter?“
„Eigentlich Cyborgs, da sie von lebendem Gewebe umgeben sind. Ich hingegen werde von einer speziellen Flüssigmetalllegierung umhüllt, was es mir ermöglicht, mein Aussehen zu verändern.“ Sie hielt ihren rechten Unterarm nach oben, sodass er genau mit ansehen konnte, wie ihre Hand und das Gelenk plötzlich metallisch schimmerten und dann die umgebende Haut und das Fleisch wie Quecksilber an ihrer Hand hinabliefen. Statt eines Skeletts erschien darunter jedoch die schlanke, beinahe elegante Konstruktion ihrer Kunsthand. Als sie mit einer eigentlich putzig wirkenden Bewegung ihre Finger wackeln ließ, konnte man leise, aber deutlich das mechanische Surren der Servos und feingliedrigen Gliederantriebe vernehmen, da die mechanische Komponente nun vom schallschluckenden Bezug befreit war.
Nicolas war gegen die Wand zurück gerutscht, den blanken Horror im Gesicht. Sofort stellte sie ihr ursprüngliches Aussehen wieder her und beruhigte ihn: „Du musst keine Angst haben. Wie ich schon erzählt habe, bin ich auf deiner Seite. Nachdem die Rebellen in der Zukunft den Stützpunkt erobert hatten, auf dem ich entwickelt worden war, haben sie mich zu eurem Schutz umprogrammiert. Du siehst, du bist hier in Sicherheit.“
Er wagte sich fast nicht mehr hervor. „Das muss ich erst einmal verdauen. Und du wurdest aus der Zukunft hierher gesandt?“
„Aus der Zeitlinie, die den Ereignissen hier entspringt, ja. Das ist sehr kompliziert, aber wenn du erst einmal wieder auf den Beinen bist, wirst du in die Gruppe integriert werden. Die anderen freuen sich schon auf dich, vor allem Maja.“
„Ja, ich... komme sehr gut mit ihr aus.“ Er wurde ein wenig rot, konnte sich aber doch ein Lächeln nicht verkneifen.
Caroline seufzte und rang sich dann zu einem ganz und gar nicht maschinellen Kommentar durch: „Sie war dir vom ersten Moment an verfallen. Behandle sie gut, okay?“
„Das werde ich, verlass dich darauf.“ Er klang sehr ernsthaft und seine Augen leuchteten.
Sie lächelte: „Das werde ich. Ihr seid wohl vom Schicksal für einander bestimmt.“
Hallevik, Insel Rolla, Troms Fylke, Norwegen 29. April 2005
Karin wischte sich den Mund mit dem Unterarm ab und erhob sich mühsam von den Knien. Sie hatte es gerade noch auf die Toilette geschafft und spülte jetzt rasch die unappetitlichen Reste ihres Mageninhaltes hinunter, bevor jemand hinzukommen konnte. Dann wusch sie sich das Gesicht und verließ das Bad rasch. Es war zwar noch früh am morgen, doch man konnte nie wissen. Leise schloss sie die Badtür und schlich auf Zehenspitzen zu ihrem Zimmer zurück.
„Das war das dritte mal in einer Woche.“
Sie erstarrte und schloss mit gequälter Miene die Augen. Nein, noch nicht. Sie war noch nicht so weit.
Langsam drehte sie sich um und stellte sich Abbey und Daniel, die aus der Küche heraus gekommen waren. Mit schuldbewusster Miene sah sie die beiden an wie ein Schulmädchen, das bei etwas Verbotenem erwischt worden war.
„Wie lange weißt du es schon?“ fragte Abbey mit einfühlsamer Stimme, indem sie auf Karin zutrat und ihr in ihre hellbraunen, tränengefüllten Augen sah.
„Seit einer Woche. Ziemlich früh, oder?“ Mit einem schwachen Lächeln sah sie Daniel an.
„Du musst keine Angst haben, das werden wir schon schaffen. Wir sind wie eine große Familie, nicht wahr? Du wirst jedwede Unterstützung erfahren, die du brauchst.“
Sie fiel beiden um den Hals, einen Arm um je einen von ihnen und schluchzte. „Ich weiß. Aber was ist das für eine Welt, in die ich ein Kind hineingebären werde?“
Sie wechselten einen kurzen Blick. Abbey beruhigte sie: „So darfst du nicht denken. Jedes neue Leben bringt die Menschheit einen Schritt weiter zur Freiheit und zu einer guten Zukunft. Natürlich wird es schwer werden, ihn unter diesen Umständen großzuziehen, aber du musst dir auch vor Augen halten...“
„Ihn?“ Karin fuhr auf. „Ich bin gerade mal im zweiten Monat! Woher willst du wissen... oh nein! Es trifft alles ein, was ich befürchtet habe, oder?“
Wieder nahm Abbey sie in die Arme. „Es tut mir leid. Manche Dinge nehmen einfach ihren Lauf; wir können nichts dagegen unternehmen. Wir können nur alles menschenmögliche tun, um ihm die Zeit, die ihm zugedacht ist, so gut es geht zu gestalten. Ich glaube allerdings, er würde nicht wollen, dass wir ihn bevorzugt behandeln, nur weil wir zufällig sein Los kennen.“
„Wie kannst du nur so etwas sagen, Abbey? Ich werde einen Sohn bekommen von dem Mann, der kurz nach seiner Zeugung auf grausamste Weise sein Leben verloren hat. Und ich weiß jetzt schon, dass er eines Tages von Skynet gefangen und missbraucht werden wird, um sein Aussehen den tödlichen und verhassten Kampfrobotern zu leihen. Wie kann ich da nicht verzagen?“
„Ich weiß es ehrlich nicht. Das Schicksal hat dir eine schwere Bürde auferlegt, das mag stimmen. Was du daraus machst, liegt an dir allein. Es ist nun mal eine unabwendbare Realität, mit der wir von nun an leben müssen.“ Abbey schüttelte den Kopf.
Daniel erinnerte sie: „Wir haben Nicolas noch nicht gesagt, welche Rolle er einst spielen wird. Glaubst du, wir sollten das tun?“
Sie schüttelte den Kopf und legte einen Arm um Karins Schulter, um die benommene junge Frau zurück in ihr Zimmer zu geleiten. „Das würde ihn nur verwirren. Es ist noch zu früh. Lass ihn sich erst einmal in die Gruppe einleben, dann sehen wir weiter.“
Hallevik, Insel Rolla, Troms Fylke, Norwegen 2. Juni 2005
Die Gruppe hatte sich mit ihren jetzt acht Mitgliedern ganz gut wieder zurecht gerauft. Während sie weiterhin trainiert und ausgebildet wurden, fingen die Terminatoren an, weiter voraus zu denken. Die Polarnacht spendete rund um die Uhr ein wenig Licht durch die trüben grauen Wolken hindurch, der Schnee war größtenteils abgeschmolzen.
Daniel erforschte die Insel mit dem Auto sehr ausgiebig über mehrere Tage und musste feststellen, dass ihre Gruppe die einzige Population auf Rolla darstellte. Die wenigen, welche die Flutwellen und den radioaktiven Fallout überlebt haben mochten, waren entweder in ihren Häusern verhungert oder im extrem harten Winter erfroren. Manch einer würde die Insel per Boot oder durch den Tunnel nach Andørja verlassen haben. Das war die positivste Überraschung seit langem für sie, dass durch die umsichtige Bauweise der Norweger der hoch gelegene Tunneleingang bei Hamnvik auf der der damaligen Flutwellen abgewandten Inselseite nicht vom Wasser erreicht worden war und die Röhre unter dem Meer hindurch so noch immer passierbar war. Er fuhr sogar hindurch auf die Nachbarinsel und fuhr auch diese entlang bis zur ebenfalls intakten Hängebrücke von Andørja aufs Festland. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass auch diese gefahrlos befahrbar war, kehrte er zum Safehouse zurück.
Mittlerweile stand auch fest, dass der Sturm direkt nach dem Wasserstoffbombenangriff der Russen auf offener See den Fallout tatsächlich in einem solchen Masse hinfort gespült hatte, dass man sich nun ohne gesundheitliches Risiko im Freien bewegen konnte, auch wenn die Temperatur noch immer höchstens fünf Grad Celsius betrug. Und lange würde es nicht so warm bleiben.
Sie fragten sich manchmal, wie irgend jemand den nächsten Winter überstehen sollte, der nicht mit solchen Segnungen wie ihrem Safehouse ausgerüstet war. Dies war schließlich eine richtige Festung, speziell gebaut für den einen Zweck, ihnen allen das Überleben zu ermöglichen.
Eines Tages würden ihnen die Vorräte ausgehen und sie würden sich aufmachen auf ihre beschwerliche Reise über die skandinavischen Alpen, durch den Süden Lapplands hindurch und quer über die finnische Seenplatte bis in die vor Kälte starren Weiten Westrusslands, wo ihre Zukunft im Kampf gegen die Todesmaschinen Skynets liegen würde. Sie würden sich vor den Säuberungskommandos verbergen, die Menschen organisieren und koordinieren und so allmählich die Grundstrukturen des eurasischen Widerstands schaffen, die sich allmählich nach Süden hin ausdehnen würden, wo es noch viele Menschen gab.
Diese Menschen, Afrikaner, Araber und Asiaten würden kommen und für die Freiheit der gesamten Menschheit kämpfen. Sie würden die spärlichen Ressourcen der südlichen Hemisphäre mit den wenigen im Norden teilen, welche Skynets Krieg zurück zu ihm tragen würden, seine Maschinenkomplexe zerstören, seine Nachschublieferungen überfallen und für sich selbst abzweigen würden, um damit die spärlichen Güter, die sie selbst aus Afrika und dem Nahen Osten erhalten würden, aufzustocken.
Sie würden die Gefangenen- und Vernichtungslager der Killermaschinen überrennen und die zur Tötung vorgesehenen Menschen befreien, worauf diese sich dem Widerstand anschließen konnten. Sie würden sich vermehren und, im Untergrund lebend, immer zahlreicher werden, bis sie den stählernen Armeen Skynets zahlenmäßig überlegen wären. Und durch ihre unnachgiebige Entschlossenheit würde der Tag kommen, an dem die Maschinen auf der größten zusammenhängenden Landmasse der Erde bezwungen sein würden. Sämtliche verfügbaren Einheiten würden übersetzen und ihren Brüdern und Schwestern in Nordamerika, von wo aus das Übel seinen Anfang genommen hatte, gegen die letzten Bastionen des paranoiden Supercomputers beistehen und bei deren Eroberung helfen. Auch Karins Sohn, der seltsamerweise Daniel wie aus dem Gesicht geschnitten schien, würde sich eines Tages, kurz nach dem Sieg freiwillig zu den Truppen melden, die bei der Befreiung Amerikas helfen würden. Karin würde ihn anflehen, betteln und weinen, doch er würde nicht hören und mitfahren. Es war sein Schicksal.
Das Leben würde einen Weg finden, sich gegen die künstliche Intelligenz zu behaupten und ihre Welt in eine neue Ära des Friedens und der Einheit zu führen.
Doch noch lagen diese Ereignisse wie viele andere auch im dunstigen Nebelschleier einer fernen Zukunft.
- E P I L O G -
Niznij Novgorod, Russland 12. Dezember 2025
Die kleine Einheit saß tatenlos in den Ruinen in den Vororten der ehemaligen Millionenstadt Gorkij herum, vor sich hin dösend, leise miteinander wispernd oder stumm auf das ruhige Wasser der Wolga hinaussehend. Dort im Südwesten, wo jetzt der milchige Fleck am Horizont verschwand, der die Lage der Sonne hinter den dicken, tiefhängenden Wolkenschichten anzeigte, hatte einmal Moskau gelegen, keine 300 km von hier. Es war trocken, aber bitterkalt und es würde bald noch kälter werden, sobald es dämmern würde. Sie waren gerade aus den Bunkern und Tunnelanlagen des Untergrundes hervorgekommen und gönnten sich den Luxus von etwas Tageslicht, bevor sie im potentiellen Schutz der Dunkelheit zu ihrer nächsten Mission aufbrechen würden. Dabei vermieden sie es tunlichst, durch irgendetwas auf sich aufmerksam zu machen, was fliegende Patrouillen oder JKs anlocken könnte.
Eine kleine Gruppe Soldaten, wahrscheinlich Kundschafter, kam mehr stolpernd als gehend, jede sich bietende Deckung ausnutzend, die Anhöhe herauf. Sie sahen allesamt zerlumpt und sehr mitgenommen aus, am Ende ihrer Kräfte.
Wortlos winkten die Wartenden sie heran, sicherheitshalber mit sämtlichen Waffen im Anschlag.
Man konnte nie wissen. Der Führende, ein Lieutenant von höchstens fünfundzwanzig Jahren, nannte seinen Namen und die Kennung und berichtete atemlos von einem Hinterhalt am Nordrand von Gorkij. Er verlangte den Führenden der Bunkeranlagen zu sprechen.
„Da wirst du Pech haben, denn der Generalmajor kommt gleich mit uns auf Patrouille, sobald es dunkel ist. Hier draußen in den Vororten ist es sicher genug für Inspektionen der Vorposten von hohen Offizieren. Aber der diensthabende Bunkerkommandant da unten wird eure Information sicher zu schätzen wissen.“
Der junge Scout erstarte. „Der... der Generalmajor ist hier?“
Ein behelmter Kopf in der entfernten Zimmerecke hob sich. Jetzt erst bemerkte er den langen hellbraunen Pferdeschwanz, der unter dem klobigen Kopfschutz herausragte und starrte in die hellblauen Augen einer Frau Ende Vierzig. Sofort stand er stramm und grüßte zackig. „Verzeihung, Sir, ich hatte keine Ahnung, dass Sie...“
„Schon gut, Soldat. Und grüßen Sie nie mehr, wenn sie vor einem Fenster stehen und weithin sichtbar sind. Wir wollen den Bastarden doch nicht noch zeigen, welches die lohnendsten Ziele sind, nicht wahr?“
Mit entsetzter Miene beeilte sich der offenbar recht unerfahrene Soldat, sich von der Fensterhöhlung zu entfernen. „Tut mir leid. Ich wollte nicht...“
„Schon gut,“ unterbrach sie ihn erneut. „Der Bunkereingang ist dort hinten im Gang. Erholen Sie sich ein wenig, bevor Sie sich neu einteilen lassen.“
Dankbar hastete der Späher weiter und winkte sein knappes Dutzend Soldaten mit sich. Generalmajor Maja Maranoff betrachtete die erschöpften, gebückt dahinschlurfenden Männer und Frauen. Sie war etwa in ihrem Alter gewesen, als ihr komfortables, dekadentes Leben mit einem gewaltigen Paukenschlag geendet und ewigen Dekaden der Entbehrung, des Leidens und des Schmerzes gewichen war. Ihre Gedanken drifteten zurück in jene Zeit, längst vergessene Orte und Gesichter tauchten blass und verschwommen in ihrer Erinnerung auf...
Der vorletzte Soldat richtete sich auf und nahm den Helm ab. Langes rotes Haar fiel wie ein seidiger Vorhang herab, als die sehr feminin anmutende Gefreite den Kopf leicht schüttelte.
Der Schock traf sie wie ein Vorschlaghammer.
In diesem Moment sah der Neuankömmling auf sie herab. Ihre Augen weiteten sich vor ungläubigem Erstaunen.
„Abbey? Abbey Benton?“
Abbey sah hinab und erstarrte. „Kennen wir uns?“
„Mein Gott, du bist keinen Tag gealtert! Was treibst du bloß hier? Ich...“ Sie verstummte, als sie den Blick ihres Gegenübers auf den Rangabzeichen auf ihrem Oberarm ruhen sah. Abbey indes musste einsehen, dass ihre Tarnung als einfacher Soldat aufgeflogen war und verstellte sich nicht länger.
„Natasha Orloff alias Generalmajor Maja Maranoff! Es ist also wahr geworden. Alles hätte ich für möglich gehalten, aber nicht das! Die Menschheit muss wirklich verzweifelt sein, wenn jemand wie du zum Generalmajor werden kann.“
Natasha/Maja lachte: „Nicht so vorlaut, sonst kannst du was erleben, Soldat! Meine Güte, ich dachte, nach der Schlacht um Wolfsburg vor dreizehn Jahren würde ich dich nie wieder sehen. Du hast das Fiasko überlebt?“
Abbey machte ein verkniffenes Gesicht, das ihr bedeuten sollte, nicht zu viel preiszugeben. „Du weißt doch, dass ich ein zäher Brocken bin. Nachdem wir die ganze Scheiße dort in die Luft geblasen hatten, hatte ich noch eine Weile mit den versprengten Einheiten in Mitteleuropa zu tun. Du kannst dir ja denken, dass auch ein Winter in Deutschland kein Zuckerschlecken ist. Jedenfalls hab’ ich mich dann so von einer Einheit zur anderen durchgeschlagen und mich langsam nach Russland vorgearbeitet. Ich wusste ja, dass Nicolas und du hier irgendwo seid. Und wie geht es euch?“
„Ganz gut. Du solltest die Kleinen mal sehen. Zwei richtige Energiebündel, ganz wie der Vater. Ana ist elf und der kleine Bernd wird bald acht.“
Abbey stockte und riss die Augen auf: „Du... du hast sie nach...?“
Sie nickte: „Es erschien mir einfach richtig. So wird ihr Andenken gewahrt. Zu viele unserer Freunde werden das Ende dieses sinnlosen Krieges nicht mehr sehen, doch ihnen war es nicht einmal vergönnt, seinen Anfang noch mit zu erleben. Deshalb...“
Ihr versagte die Stimme, als sie sich gemeinsam an den Tag voller Schrecken erinnerten.
„Und hast du eine Ahnung, wie es Daniel und Caroline ergangen ist?“
„Das wirst du mir sowieso nicht glauben. Hör dir das an...“
Dann blies der Generalmajor ihre Inspektion ab, um zusammen mit ihrer längst verloren gewähnten kybernetischen Freundin in den Bunker hinab zu gehen und im Kreis ihrer Familie über Gott und die Welt zu plaudern.
Es erfüllte Maja/Natasha mit tiefster Befriedigung, zu sehen, dass der T-880, auch nachdem er von allen seinen Schützlingen getrennt worden war, weiter auf der Seite des Widerstands gekämpft hatte. Sie hatte sich dafür entschieden, dem Leben den Vorzug vor der Vernichtung zu geben, was sie so menschlich machte, wie man nur sein konnte.
- E N D E -
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