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Terminator Band 2 - Unabwendbare Realitäten

von andilone
Kurzbeschreibung
GeschichteAbenteuer / P16 / Gen
Terminator T-1000 Terminator T-800 Terminator T-850 Terminator T-X
22.12.2006
22.12.2006
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Vor Utlängan, Blekinge, Schweden                                   8. Juli 2004

Nach einer knappen Stunde Fahrt hatten sie den südlichsten Punkt ihrer Fahrt erreicht, wo die Südspitze der vorgelagerten Insel Utlängan eine Art Kap bildete. Sie schwenkten - aufgrund ihrer hohen Geschwindigkeit - in einem weiten Bogen nach rechts in Richtung Westen ein, die äußersten Schäreninseln und Landspitzen des Festlandes immer am Horizont, so dass sie gerade noch sichtbar waren.
Nachdenklich stand Karin auf dem Vorderdeck und ließ den nunmehr unangenehm kühlen Fahrtwind ihre Winterkleidung peitschen. Sie starrte gedankenversunken hinaus aufs Meer und auf das im Halbdunkel nur schemenhaft sichtbare Land, das immer wieder einmal kurz an der Kimm auftauchte und wieder verschwand. Die Küste war hier im Südosten Schwedens sehr zerklüftet und mit unzähligen Inseln aller Form und Größe versehen, vom nackten Fels bis hin zur kilometergroßen Insel Utlängan, die sie gerade passiert hatten.
Sie hörte nicht, wie jemand neben sie trat und ebenfalls die verchromte Reling umfasste, um Halt zu suchen, auch wenn das bei dem nicht nennenswerten Seegang in dieser lauen Nacht kaum von Nöten war. Langsam drehte sie ihren Kopf und erblickte Abbey. Wieder kam in ihr das Gefühl hoch, dass eine gute Freundin neben ihr stand und nicht eine künstlich geschaffene Leibwächterin, deren einziger Existenzzweck die Gewährleistung ihrer Sicherheit darstellte.
Als Abbey nichts sagte, kam Karin spontan die Frage über die Lippen, die sie seit einem Tag schon unablässig beschäftigte, ungeachtet dessen, was sie sonst noch durchgemacht und erlebt hatten.
„Warum hast du das getan, Abbey?“
Langsam wandte sich ihr Kopf Karin zu, wobei diese unwillkürlich und zum ersten Mal, seit sie sich kannten das Gefühl hatte, die Natur ihrer Bewegung sei gleichförmig und mechanisch, nicht menschlich. Sie schauderte kurz.
„Worauf beziehst du dich?“
„Ich will wissen, warum du Bernd gestern Morgen geküsst hast, als ihr euch auf dem Traktor unterhalten habt.“ Gespannt sah sie ins Gesicht ihrer Freundin, das vom Halbdunkel soweit verhüllt wurde, dass man keine sichtbare Reaktion daraus lesen konnte.
„Ich bin nicht sicher, ob ich dir diese Frage zu deiner Zufriedenheit beantworten kann. Er wirkte so, als ob er mich studierte und analysierte wie ein Objekt, das zwar täuschend echt scheint, aber doch nicht wirklich menschlich ist. Das hat mich auf irgend eine Weise herausgefordert; ich wollte ihm zeigen, dass es keinen Unterschied mehr macht, ob Daniel und ich menschlich sind oder nicht. Wir sind so nahe daran, dass wir nicht wie Maschinen behandelt werden wollen. Ich wollte ihm zeigen, dass ich so menschlich sein kann, wie er es nur haben will.“
„Wow.“ Karin lehnte sich zurück. „Das habe ich nicht gewusst. Aber dir ist bewusst, dass zwischen Caroline und ihm etwas läuft.“
Es gab ein leises metallisches Quietschen, als ob Abbey mit den Zähnen knirschen würde, wie Karin annahm. Dann sagte der Cyborg unvermittelt: „Ich wäre an deiner Stelle da nicht zu sicher. In dieser Extremsituation gibt es viele latente Bindungen, da der Mensch instinktiv einen emotionalen Schutz in einer Partnerschaft sucht. Simon und Silke, Shin und Aishe, Dimitri und Ana... warte ab, was sich in nächster Zeit ergeben wird. Selbst wenn er sich für sie entscheidet und sie sich auch für ihn, so spüre ich gewisse Hemmungen bei ihm, was an seiner Unerfahrenheit liegen mag. Falls er das Bedürfnis hat, zuerst in aller Ruhe ein paar Erfahrungen zu sammeln, bevor er sich ihr hingibt, kann es nicht schaden...“
Karin sah sie aus weit aufgerissenen Augen an. „Das ist nicht dein Ernst! Wenn Caroline etwas davon merkt, wird sie so geschockt sein, dass sie für den Rest aller Zeiten unansprechbar sein wird. Stell dir nur einmal vor, was das für ein Konfliktpotential herauf beschwören kann.“
Nun schien der amazonenhafte Cyborg sein rotglänzendes Haar ungläubig zu schütteln. „Wir sind uns alle in der Wohnung in Freiburg ziemlich an die Gurgel gegangen. Ich bedaure das einerseits, aber andererseits ist auch vieles immer noch ungesagt geblieben. Es gibt allerdings wichtigere Dinge für uns; wenn wir erst einmal in Sicherheit sind und die lange Nacht nach dem Sturm aussitzen, haben wir mehr Zeit, als uns lieb sein wird, um in aller Ruhe auszudiskutieren, was uns bewegt.“
Sie drehte sich um und ging zurück aufs kleine Achterdeck. Karin sah ihr kurz nach, dann fiel ihr der matte unregelmäßige Schimmer an der Reling auf, wo Abbey gestanden hatte. Als sie einen Schritt hinüber trat, erkannte sie erstaunt, dass Abbey das Geländer unter ihren Händen zusammengequetscht und deformiert hatte, sodass es jetzt nur noch den halben Durchmesser hatte und reichlich zerbeult aussah. Das war also das Geräusch gewesen, welches sie vorhin vernommen hatte.
Was für eine menschliche Reaktion, fast ein Zeichen von mühsam unterdrücktem Zorn. Vielleicht war Abbey und Daniel weniger genommen worden, als sie annahmen.
Sie sah wieder nach vorne, bis nach wenigen Minuten Simon erschien. Er fragte aber lediglich, ob sie nicht auch ein wenig schlafen wollte. Sie verneinte und sagte, sie würde lieber während der langen bevorstehenden Autofahrt ruhen, das läge ihr mehr als auf einem Schiff auf offener See zu schlafen.
Dann ging ihr durch den Kopf, was Abbey eben gesagt hatte, worauf sie gerade heraus fragte: „Sag mal, Simon, wie ist das eigentlich mit Silke und dir?“
Im allmählich stärker werdenden Licht der Dämmerung sah sie ihn lächeln. „Ich weiß nicht; bis vor kurzem hätte ich nie gedacht, dass es mich so schnell erwischen könnte. Es ist wie mit dem sprichwörtlichen Topf und Deckel.“
„Das ist ein starkes Statement“, gab sie zu bedenken. „Du glaubst nicht vielleicht, dass es auch mit dieser ungewöhnlichen Extremsituation zu tun hat, in der wir uns befinden? Dass unter normalen Umständen alles anders laufen würde?“
„Das möchte ich nicht abstreiten“, gab er unumwunden zu. „Aber ich möchte dieses Gefühl jetzt erst einmal genießen. Außerdem, war es mit uns nicht eigentlich genauso?“
Sie lachte leise und sah in diesem Moment, wie der Himmel sich hinter ihm im Nordosten rotviolett verfärbte; bald würde die Sonne aufgehen. „Vielleicht hast du Recht. Normalerweise hätte ich dich nicht einmal mit der Kneifzange angefasst.“
„Da ist sie wieder, die gute alte Tante Käthe. Na also!“ Er verabschiedete sich lachend von ihr und ging wieder unter Deck.
Die nächste Überraschung ließ nicht lange auf sich warten. Diesmal war es Bernd, der sich zu ihr ins Halbdunkel gesellte und sich den Fahrtwind ins Gesicht peitschen ließ. Er fragte abwesend: „Bist du schon lange hier?“
„Ich war noch gar nicht unten; ich kann auf Booten nicht schlafen. Und du, willst du nicht zurück in deine warme Koje?“ Den Zusatz ‚zu Caroline’ schluckte sie hinunter.
Doch Bernd war nicht dumm und wusste die Andeutung wohl zu deuten. „So warm ist es da auch nicht. Du darfst nicht immer von dem, was du an der Oberfläche siehst, auf andere Dinge schließen. Ich bin wohl doch kein Märchenprinz für gewisse Leute. Meine Bemerkung im Zelt hätte ich lieber lassen sollen. Ich verdiene es wahrscheinlich nicht anders.“
Beim Klang seiner frustrierten Stimme kam in ihr Bedauern auf. Wieder einmal war er abgeblitzt und konnte seiner lebenslangen Pechsträhne in Sachen Frauen wohl nun noch einen Namen mehr hinzu fügen. „Lass den Kopf nicht hängen. So übel bist du doch auch wieder nicht.“
Er sah stur nach vorne, wobei sie sein Profil gegen die aufkommende Dämmerung als Silhouette sah. Der Anblick erschien ihr ungewohnt, wohl auf Grund der Lichtverhältnisse. „Das sagst du so einfach. So langsam verleidet mir alles, wenn ich...“
Sie hob eine Hand und strich ihm mitfühlend über die Wange, ohne so recht zu wissen warum. Er zuckte angesichts der ungewohnten Berührung ein wenig zusammen, ließ sie aber gewähren. Einen Moment lang musste sie überlegen, was da nicht stimmte, dann keuchte sie überrascht auf, als es ihr aufging.
„Du hast dir deinen Bart abrasiert! Wieso denn das?“
„Mir war einfach danach. Ich wollte nur, dass du es als erste siehst, denn irgendwie bin ich dir das schuldig. Du wirst jetzt besser verstehen, warum ich im Wald zu dir sagte, dass wir beide keine Zukunft haben.“ Er ergriff die Hand, welche sie auf seine Wange gelegt hatte. Nun war es an ihr, zusammen zu zucken, sie wusste aber gleichzeitig keinen Rat.
„Was genau meinst du damit?“
„Mir ist jetzt klar, dass ich einer der ersten, wenn nicht sogar der erste Kriegsgefangene von Skynet sein werde. Keine rosigen Aussichten, oder?“
„Wie kommst du denn bloß darauf?“ wollte sie halb entrüstet, halb erschrocken wissen.
Statt einer Antwort nahm er sie bei den Schultern, drehte sie mit dem Rücken ins schwache Morgenlicht und stellte sich selbst hinein, so dass sein glattrasiertes Gesicht vom rosigen, warmen Zwielicht erhellt wurde.
Karin entfuhr ein Schreckensschrei. Ihre Knie versagten ihr den Dienst und sie drohte über die Reling zu stürzen, doch er packte sie mit erstaunlich kräftigem Griff und hielt sie an den Oberarmen fest. Als sie ihm in die dunklen Augen sah und erkannte, was er zu wissen glaubte, füllten sich ihre Augen mit Tränen. Seit Tagen war er mit dieser dunklen Prophezeiung im Kopf herum gelaufen, ohne sich jemandem mitzuteilen. Wie schwer, wie erdrückend musste diese Schicksalslast auf seinen Schultern gelegen haben?
Sie fiel ihm um den Hals und schluchzte: „Oh Bernd, es tut mir so leid. Niemand von uns hat etwas gemerkt. Wie konnten wir das nur nicht sehen? Die ganze Zeit war es vor unserer Nase, und doch...“
„Ich tendiere dazu, übersehen zu werden“, war sein trockener Kommentar. „Schätze, das wird jetzt fürs erste vorbei sein.“
Sie drückte ihn immer noch fest an sich, um ihm so irgend etwas zu geben, ihm ein wenig Trost und Nähe zu spenden. Er musste sich wie der einsamste Mensch auf der Welt fühlen, dachte sie und merkte dabei, dass sie ihm tatsächlich auf gewisse Weise durch ihre innige Umarmung Trost spendete. Als sie bemerkte, was da vor sich ging, war ihr erster Gedanke, von ihm abzulassen, doch dann dachte sie mit einem Achselzucken, warum sollte sie ihm diesen Moment nicht gönnen?
So verweilten sie, bis kurz darauf die Sonne am Horizont erschien und die ersten wärmenden Strahlen auf sie warf.
„Wie werden die anderen es wohl aufnehmen, wenn sie dich so sehen?“
„Warten wir’s ab.“ Er war es, der zuerst von ihr abließ und ihr für diese nette Geste dankte, bevor er wieder unter Deck ging. Niemand war gekommen oder gegangen, niemand hatte ihn gesehen. Momentan war sie demnach die einzige, die mit diesem Wissen um ihn hadern musste.



Vor Karlshamn, Blekinge, Schweden                                   8. Juli 2004

Kurz vor ihrem Ziel nahmen die vielen der Küste vorgelagerten Felsinseln allmählich ab. Sie steuerten nicht direkt in den Hafen hinein, sondern fuhren einige Kilometer vor der Stadt eine kleine, dicht bewaldete Bucht an und drehten sanft bei, sodass sie kaum merklich am schmalen Uferstreifen mit dem Bug aufsetzten. Da sie mit dem Boot nirgends mehr hinfahren würden, machte es offenbar nichts aus, es auf Grund zu setzen, dachte Karin. Sie spürte allmählich doch die Folgen der kurzen Nacht und die schlaflose Periode auf See, die alle anderen zum Ausruhen genutzt hatten.
Nach und nach erschienen die anderen aus den zwei Kajüten unter Deck. Müde rieben sie sich die Augen, denn nach der Uhrzeit war es noch frühester Morgen, auch wenn die Sonne bereits wieder am Nordosthorizont stand. Ihre drei Begleiter begrüßten sie und baten sie, das Schiff gleich zu verlassen. „Wir werden es aufs Wasser hinausschieben und abtreiben lassen; da gerade Ebbe ist, wird es von den Gezeiten aufs offene Meer hinausgetrieben und verschleiert so den Ort, an dem wir angelandet sind. Je länger es führungslos auf See treibt, desto schwerer wird nachzuvollziehen sein, woher es kommt. Eventuell wird die Küstenwache annehmen, dass die Besitzer durch ein Unglück über Bord gegangen sind und gar nicht an Land waren. Bis sie herausgefunden haben, dass es auf Öland gestohlen wurde, sind wir längst über alle Berge.“
„Und was machen wir inzwischen? Wir benötigen doch...“
„Neue Transportmittel, ich weiß“, vollendete Daniel Shins Satz. „Ihr werdet an diesem einsamen, verlassenen Fleckchen warten, während wir drei in die Stadt gehen und Mietwagen besorgen. Bis wir Karlshamn zu Fuß erreicht haben, werden die Geschäfte geöffnet sein. Macht euch also keine Sorgen, falls es ein paar Stunden dauern wird. Wir wollen wie immer keine unnötige Aufmerksamkeit auf uns lenken und werden deshalb subtil vorgehen müssen. Karlshamn ist keine sehr große Stadt, doch wenn wir uns auf diverse Autovermietungen verteilen, werden wir kein Aufsehen erregen.“
Abbey nickte zustimmend und registrierte, dass erst sechs der zehn jungen Menschen an Land gegangen waren. Sie klopfte an die noch geschlossene Kajüte und rief: „Steht jetzt bitte auf und beeilt euch, wir müssen das Boot so schnell wie möglich loswerden.“
Dann luden sie ihr Gepäck aus. Da man vom Bug aus mit einem weiten Schritt auf einen erhabenen Felsvorsprung gelangen konnte, war das Ufer trockenen Fußes zu erreichen. Sie versammelten sich an Land und nahmen ihre Gepäckstücke entgegen, die ihnen von Alex gereicht wurden, dann folgten die drei Plasmaimpulsgewehre, welche sie aufgrund ihres hohen Gewichtes und ihrer potenziellen Gefährlichkeit besonders vorsichtig handhabten.
Zuletzt erschien Alex mit dem deaktivierten Körper des beschädigten T-880, der einer grausam verstümmelten Imitation von Abbey glich. Nicht nur die Mädchen schauderten, als er sie achtlos mit viel Schwung in hohem Bogen an Land warf, wo sie mit einem lauten Klatschen wie ein Stück Schlachtvieh auf den rauen, dunklen Fels auftraf.
Simon, Silke und Caroline erschienen, noch mit zusammengekniffenen Augen blinzelnd, sprangen aber ebenfalls behände an Land. Als auch Alex übergesetzt hatte, fragte Natasha: „Wo ist Bernd?“
„Er kommt sofort; als ich die Kabine verlassen habe, stand er noch hinter mir.“
„Der elende Morgenmuffel könnte sich ruhig mal ein bisschen beeilen.“ Ungnädig musterte Natasha das Vorderdeck und verschränkte die Arme, wartend mit dem Fuß auf den Boden tappend.
So war sie auch die einzige, die ihn in dem Moment erblickte, als er heraus kam. „Na endlich. He, du hast dich ja doch noch rasiert. Sieht gar nicht so übel aus... Moment mal!“
Ihr Kopf ruckte herum und fixierte Daniel, der hinter ihr stand und ihr Gepäck fein säuberlich so hinter einen Busch stapelte, dass es von See her nicht zu erkennen war. Mit einem schrillen Aufschrei kreischte sie: „Oh nein, seht euch nur das an! Bernd sieht aus wie...“
Bernd sprang an Land und musterte die entsetzten und staunenden Gesichter ringsum ungnädig. „Ja, schön, ihr habt es alle gemerkt. Ich sehe ohne Bart genauso aus wie Daniel. Dafür kann ich nichts, okay? Glotzt nicht so, ich hab mir das auch nicht ausgesucht!“
„Ganz ruhig, niemand hat irgend etwas gesagt deswegen“, beruhigte Abbey ihn. „selbst wir haben uns von deinem Vollbart täuschen lassen. Aber jetzt, da er weg ist, ist die Ähnlichkeit wirklich verblüffend. Jetzt verstehe ich auch, weshalb du mich an dem Morgen auf der Waldlichtung wegen der Herkunft unseres Aussehens befragt hast. Ich bin mir aber nicht so sicher, ob du die richtigen Schlüsse daraus ziehst.“
Daniel stellte sich gegenüber von Bernd und musterte ihn fasziniert. „Ich glaube auch, dass die Übereinstimmung nicht so hoch ist, dass man mit Sicherheit annehmen kann, was hier...“
Bernd platzte der Kragen: „Jetzt sprich es doch endlich aus! Du bist nach meinem Vorbild gemacht! Wenn ich mir noch meine Haare auf deine Länge abschneide, sieht man es noch deutlicher. Du siehst zwar ein paar Jahre älter aus, aber das ist doch eindeutig! Ich habe noch eine Weile zu leben und werde dann von Skynet gefangen genommen werden und als Schablone für Daniels Aussehen dienen. Genau so ist es. Stellt euch doch mal vor, wie es ist, wenn man so eine Zukunft vor Augen hat, im wahrsten Sinne des Wortes!“
Natashas Augen wurden schmal, als sie sich dicht vor die beiden platzierte und sie angestrengt musterte. „Das stimmt nicht ganz. Daniels Augen sind eine Spur heller gehalten, deine sind nämlich fast schwarz, seine jedoch dunkelbraun. Dein Kinn ist etwas breiter, seines ein Deut spitzer und seine Wangenknochen sind auch ein klein wenig höher angesetzt. Außerdem ist dein Haar eine Nuance dunkler als seines. Aber insgesamt habt ihr dennoch recht; man muss wirklich dreimal hinsehen, um die beiden voneinander zu unterscheiden. Wenn er wirklich ein Abbild von Bernd ist, dann jedenfalls ein recht gutes, auch wenn sich unser Freund Skynet ein paar künstlerische Freiheiten herausgenommen hat, wie es scheint.“
Alle starrten Natasha an. Karin fixierte die beiden und bestätigte: „Tatsächlich, sie hat vollkommen recht. Ich wusste gar nicht, dass du so eine unglaublich gute Beobachtungsgabe hast.“
„Man nennt es auch das ‚Auge fürs Detail’. Wer immer auch die Vorlage für Daniel geschaffen hat, dem ging das wohl ein wenig ab“, bemerkte sie selbstzufrieden.
Alex schüttelte seinen massigen Kopf und erwiderte: „Das ist nicht korrekt, Natasha. Sämtliche Terminatoren werden als einhundertprozentig naturgetreue Abbilder ihrer menschlichen Vorbilder angefertigt, mit bloßem Auge nicht vom Original zu unterscheiden. Für die Serie T-880 gilt dies in besonderem Maße. Damit kannst du die Möglichkeit eventueller Ungenauigkeiten ausschließen.“
„Hm, dann soll das reiner Zufall sein? Sie sind etwa gleich groß, haben dieselbe Statur, wenn man genauer hinsieht und klingen auch ähnlich. Das erscheint doch recht unglaubwürdig.“ Natasha besah sich die Beiden ‚zweieiigen Zwillinge’ nochmals genauer. „Ich finde übrigens, du hast in einem Punkt Unrecht, Bernd.“
„Und das wäre?“
„Du siehst nicht jünger aus als Daniel. Davon abgesehen, dass man euch beide vom Aussehen her schwer einschätzen kann, würde ich sagen, ihr seht eher gleichaltrig aus.“
Karin musterte Bernd nochmals und sah ihn, diesmal in vollem Tageslicht an. Sie sah ihm ins Gesicht und starrte ihm direkt in die Augen, was er erwiderte. Mit einem seltsamen Gefühl im Magen fügte sie hinzu: „Ich würde sogar behaupten, dass Daniel der Jüngere der Beiden ist, wenn man rein vom Aussehen her geht.“
„Das kann gar nicht sein“, erwiderte er gereizt. „Dann müsste ich ja bereits gefangen worden sein. Dieses Ereignis wird aber unweigerlich in der Zukunft stattfinden, also passt da irgendwas nicht zusammen.“
Während Karin ihn immer intensiver musterte, mit dem seltsamen Gefühl einer Vorahnung, erklärte Abbey mit sachlicher Stimme: „Du solltest dir deswegen wirklich keine Sorgen machen. Es gibt viele dokumentierte Fälle von Doppelgängern oder hoher Ähnlichkeit im Aussehen von Familienmitgliedern. Der Genpool der Menschen umfasst gegenwärtig über sechs Milliarden Exemplare weltweit, wovon fast eine Milliarde kaukasischer Abstammung ist. Es kann sich tatsächlich nur um einen Zufall handeln. Du musst dazu wissen, dass Skynet erst in über zwanzig Jahren mit der Konstruktion der ersten T-800 Serie an Terminatoren beginnt und folglich auch erst dann einen Bedarf an menschlichen Vorlagen für die organische Komponente entwickelt. Bis dahin bist du weit über Vierzig und dürftest damit wohl nicht mehr in Frage kommen. Sieh es einfach als ein verblüffendes Beispiel an genetisch bedingter Übereinstimmung im Aussehen an.“
„Ja, ich...“ Er brach ab, als Karin sich abwandte und schnell in den Wald huschte, der direkt an der Küste begann. Er sah ihr hinterher, sich nach dem Grund für ihr plötzliches Verschwinden fragend.
„Wenn wir dieses erstaunliche, aber letztlich für die Mission irrelevante Thema dann vorerst abhaken können, würde ich mich gerne wichtigeren Belangen zuwenden.“ Alex stemmte sich gegen den schnittigen Bug der Jacht und schob es mit wenig Mühe unter den staunenden Blicken seiner Schützlinge an, worauf es hinaus aufs Wasser glitt, wo es noch eine Weile vor sich hin dümpelte, aber nach und nach von der Tide aufs Meer hinaus gezogen wurde.
„Wir können uns darauf verlassen, dass ihr euch vom Ufer fern haltet, wo euch zufällig vorbeifahrende Schiffe sehen könnten? Bleibt einfach hier in der Nähe im Wald und wartet auf uns. Wir werden noch im Laufe des Vormittags zurück sein, dann nehmen wir unsere Reise wieder auf. Denn wir können von Glück sagen, dass wir bei diesem Aufgebot von den Behörden, die nach den imaginären Terroristen suchen, welche die Explosion in Öland verursacht haben, so reibungslos von der Insel herunter gekommen sind und das Festland unbemerkt erreicht haben.“ Daniel machte sich als erster auf und marschierte zielstrebig durchs Unterholz auf einen Punkt in der Ferne zu, den nur er allein bestimmen konnte. Das war wohl das integrierte GPS, das ihm den Weg so exakt wies, dachte Simon in Erinnerung an ihre Erklärung nach ihrem Auftauchen damals in der Rheinaue.
Ihm kam das vor wie vor einer Lebensspanne bei all dem, was sie in der letzten Zeit durchlebt hatten.



Die drei Cyborgs waren noch nicht ganz außer Sichtweite, als die meisten von ihnen sich bereits im lichten Mischwald auf einer Gruppe dick bemooster und daher sehr bequemer Felsblöcke mit flachen Oberseiten niedergelassen hatten. Simon, Silke, Natasha, Ana, Dimitri, Aishe, Shin und Caroline fläzten sich alle gemütlich auf den beinahe wie natürliche Betten anmutenden Steinbrocken und sprachen über die jüngsten Entwicklungen.
„Und wer kann noch kaum schlafen und hat üble Alpträume außer mir?“ wollte Ana mit sarkastischer Stimme wissen.
„Alle“, meinte Simon lapidar. “Ist das erstaunlich, wenn einem gesagt wird: kommt bitte alle hübsch mit, ihr seid dazu auserkoren, der Menschheit im Kampf gegen die Maschinen beizustehen?”
„Maschinen?“ echote Silke finster. „Welche Maschinen? So etwas gibt es doch noch gar nicht? Roboter, die voll automatisch herumlaufen und Menschen töten, das ist meines Wissens nach momentan noch Zukunftsmusik.“
„Ja, mag sein, aber es wird soweit kommen, wenn man unseren Freunden glauben will. Und ich persönlich habe bereits genug Beweise dafür gesehen, dass diese Realität eines Tages eintreten wird. Allein schon der Gedanke daran, dass Alex in Erfurt ein gesamtes Magazin aus einer Maschinenpistole abbekommen hat, das für mich gedacht war...“ Shin schauderte und ließ den Satz unverändert.
„Ich denke gar nicht an uns. Mich macht der Gedanke völlig fertig, dass die gesamte nördliche Hemisphäre in Kürze in Schutt und Asche gelegt und für unbestimmte Zeit radioaktiv verseucht werden soll. Ich meine, schließlich sind einige von uns alt genug, dass sie als kleine Kinder mit dem Kalten Krieg aufgewachsen sind. Könnt ihr euch vorstellen, dass eure Heimatstädte mitsamt allen Leuten, die ihr je gekannt habt und die ihr liebt, einfach so vom Erdboden verschwinden?“ Natasha sah mit gerunzelter Stirn in die Runde.
„Du hast gut reden, deine Stadt wird schließlich nicht direkt getroffen“, lamentierte Dimitri.
Simons Kopf ruckte so heftig herum, dass es vernehmbar knackte. Er rieb sich den schmerzenden Nacken, indem er hervorstieß: „Was? Wie meinst du das?“
„Na ja, Karin, du und Natasha, ihr kommt doch alle aus Freiburg? Freiburg im Breisgau?“, hakte er mit sichtbar mäßigem Interesse nach.
„Nicht direkt, aber wir wohnen alle dort. Wie kommst du darauf, so etwas zu behaupten?“ Gebannt hing Natasha an den Lippen des jungen Deutschrussen.
„Ist eigentlich ganz einfach: Freiburg ist kein politisches oder wirtschaftliches Großzentrum und hat wie viel? 250'000? Aha, sogar nur 200'000 Einwohner. Die einzigen Ziele in der näheren Umgebung sind Basel wegen der chemischen Großindustrie und Zürich wegen der wirtschaftlichen Bedeutung, Banken, Versicherungen, Börse und so weiter, im Süden, die Landeshauptstadt Stuttgart im Osten und Karlsruhe mit dem Bundesgerichtshof und diversen Ölraffinerien im Norden. Mitteleuropa wird zwar allgemein dicht bepflastert, aber ausnahmslos nur mit schwächer bestückten Mittelstreckenraketen. Die richtig dicken Brummer, die Interkontinentalraketen mit Wasserstoffbomben im Megatonnenbereich sind fast alle für die speziellen Freunde auf der anderen Seite des Atlantiks reserviert. Wenn die Russen überhaupt mit Bombern durchkommen, ist das riesige Peugeot-Werk bei Mulhouse für einen kleinen taktischen Sprengkopf vorgesehen, der wird aber höchstens zwei Kilotonnen haben, nicht mal ein Zehntel von Hiroshima. Das gleiche gilt für das Kernkraftwerk von Fessenheim. Der Niederschlag... was ist?“
Dimitri hielt inne, als er Gewahr wurde, dass alle anderen ihn anstarrten.
„Woher... weißt... du... das... alles?“, brachte Natasha die Frage auf den Punkt, die unsichtbar in der kühlen Waldluft hing, jedes Wort einzeln betonend.
„Das hängt damit zusammen, dass...“ Er zögerte, schien dann eine Entscheidung zu treffen und erklärte langatmig: „Ach, was soll’s, jetzt ist es ja kein Geheimnis mehr, oder wird jedenfalls bald keins mehr sein. Ich war in Russland beim Militär, müsst ihr wissen. Ich bin heute noch erstaunt darüber, dass sie mich ausgerechnet als Schreibkraft in den Stab für taktische Kernwaffen gesteckt haben, wo ich doch einen guten Teil meiner Kindheit und Jugend in Ostdeutschland als Sohn eines dort stationierten Berufssoldaten aufgewachsen bin und erst ein halbes Jahr vor meiner Einberufung zurück in die Heimat bin. Gut, sie konnten ja nicht ahnen, dass ich so bald nach Ableistung des Wehrdienstes wieder zurück nach Deutschland gehen würde, sonst hätten sie das nie im Leben gemacht. Ich war zwar nur eine einfache Hilfskraft, hatte aber dennoch Zugang zu einigen brisanten Stellen, wo die Geheimhaltung auch nicht mehr das ist, was sie mal war. Und da ich mich für solche Dinge schon immer interessiert habe – ich liebe Polit- und Militärthriller -, hat man mir ab und zu auch gerne bereitwillig Auskunft gegeben.“
Natasha klatschte in die Hände und rief triumphierend: „Ha! Ich wusste doch, dass da noch was sein musste!“
„Entschuldigung, wie bitte?“ fragte Dimitri ratlos.
„Na, ist doch klar! Ich hab mich ständig gefragt, was du überhaupt bei uns zu suchen hast. Ich meine: Hallo-o? Ein Automechaniker? Und so ganz nebenbei stellt sich heraus, dass du beim russischen Militär im Kommandozentrum für Kernwaffen warst. Das hat doch eindeutig eine tiefere Bedeutung! Du, mein lieber gospodin, bist mit deinem Werdegang und vor allem Hintergrund- und Insiderwissen für eine ganz bestimmte Funktion und ziemlich hohe Stellung in unserem zukünftigen Widerstand prädestiniert. Und nebenbei vielen Dank für die Versicherung deinerseits, dass Freiburg verschont werden wird.“
Dimitri, der nicht genau wusste, ob er beleidigt oder geschmeichelt sein sollte, da Natashas Kommentar Elemente enthielt, die beides gerechtfertigt hätte, begnügte sich mit einem zweifelhaften Seitenblick.
„Und was ist mit unseren Heimatorten? Weißt du auch darüber etwas?“ meldete Aishe sich neugierig.
„Glaubt mir, darüber wollt ihr keine Details...“ Erschrocken brach er ab und starrte bedauernd auf Silke. „Uups, hatte ich Zürich erwähnt? Ich fürchte, ich habe.“
„Kein Problem, ist nicht meine Heimat, ich habe dort nur studiert. Eigentlich komme ich aus Solothurn.“ Dennoch stand sie auf und verließ die Gruppe.
„Was ist ein Solothurn?“ fragte Ana, worauf Natasha sie ungnädig musterte.
„Und was ist ein Geographie, nicht wahr?“
Worauf die beiden anfingen, sich russische Beleidigungen zuzuzischeln, bis der Rest der Gruppe ihnen erbost Einhalt gebot.
Silke indes schlenderte gedankenverloren durch den Wald und dachte dabei ungewollt doch an die vielen Kommilitonen, die sie bislang kennen gelernt hatte und deren Schicksal nunmehr ungewiss war. Mehr zufällig als absichtlich stolperte sie dabei über Bernd, der sich auf einen umgefallenen und dicht bemoosten Baumstamm gesetzt hatte und mit dem Rücken zu ihr tief über den Körper des gefangenen T-880 gebeugt war.
„Wer da?“ fragte er beiläufig, ohne aufzusehen.
„Ich bin’s nur.“ Langsam kam sie näher, nicht sicher, ob er nicht ungestört sein wollte.
„Sag nicht ‚nur’. Du solltest dich nicht unterschätzen“, gab er zurück. „Du studierst Medizin, stimmt’s? Dann wird dich das hier interessieren.“
„Ich habe erst ein Semester“, sagte sie und sah ihm neugierig über die Schulter.
Und erstarrte.
Er hatte ein langes, gefährlich aussehendes Küchenmesser in der Hand.
Und war gerade dabei, ein langes Stück Haut und Fleisch vom Oberarm des leblosen Cyborgs zu entfernen, den sie nach dem ‚Showdown’ am Safehouse auf Öland gefunden hatten. ‚Tranchieren’ würde besser passen, dachte sie entsetzt, unterdrückte aber gerade noch einen Aufschrei. Der Torso und die Extremitäten waren bereits an manchen Stellen verletzt und aufgeschürft bis auf die Metallsubstanz, doch Bernd schien noch etwas tiefer gehen zu wollen. Davon ungerührt lag die ‚böse Abbey’ auf dem Rücken und starrte mit versteinerter Miene in den blauen Himmel, der zwischen den Nadelbäumen um sie herum hervor schien.
„Um Himmels Willen, was tust du da?“
„Wonach sieht es denn aus?“, gab er gereizt zurück. „Ich untersuche dieses Exemplar eines ‚Homo Cyborgis Mechanicus’. Das Messer habe ich aus der Kombüse des Schiffes mitgehen lassen. Ich hatte das hier vor, seit wir die hier beim Safehouse gefunden haben. Wir sollten schließlich so viel wie möglich über unser Schicksal und unsere Zukunft erfahren. Ich glaube kaum, dass jemand etwas dagegen hat, wenn wir anfangen, einmal Eigeninitiative zu zeigen.“
„Tja, ich weiß nicht. Glaubst du nicht, dass Daniel oder Abbey etwas dagegen haben?“
„Wenn ich sie richtig verstanden habe, ist das Gewebe menschenähnlich. Das heißt, jetzt wo der Cyborg deaktiviert ist, ist er so gut wie tot und der organische Teil wird nicht mehr versorgt, betrieben oder wie auch immer man das bei einem Cyborg nennen will. Demnach wird das Fleisch ohnehin demnächst anfangen, zu verfaulen. Was kann es also schaden, ihn schon im Voraus von einem Teil davon zu befreien? Die Tierchen, Insekten und Würmer haben sicher auch ihre Freude daran.“ Ohne mit der Wimper zu zucken, zog er einen fast DIN-A-5 großen Streifen der künstlich erzeugten Gewebemasse vom Endoskelett herab. Es löste sich mit einem leisen schmatzenden Geräusch ab und gab die darunter liegende Mechanik frei.
Silke gab einen würgenden Laut von sich, ließ sich dann aber doch zu einer Bemerkung hinreißen: „He, es blutet nicht.“
„Wie ich vermutet habe: totes Gewebe.“ Er setzte das scharfe Messer erneut an und verdoppelte die Größe des freiliegenden Rechteckes.
„Und es riecht in der Tat schon ein wenig streng“, räumte sie ein.
„Das ist faszinierend. Sieh dir diese Mechanik an! Was für ein obszöner Gedanke, einen Kampfroboter in einem Menschen zu verstecken.“ Er war nun vom Entdeckerfieber gepackt und konnte gar nicht mehr aufhören, bis er den gesamten Oberarm inklusive des Schultergelenkes vom tarnenden Obermaterial befreit hatte.
„Was hast du als nächstes vor?“ Silke betrachtete ihrerseits die vom künstlichen Blut matten Hydraulikzylinder und die tragende Struktur des Oberarmes, ein massiver Bügel aus einer Metalllegierung.
„Ich weiß nicht recht. Mich würde der Torso interessieren, aber ich würde mir wie ein Perverser vorkommen, wenn ich als Mann an dieser Stelle an ihr rumschnippeln würde.“ Er zuckte mit den Achseln und sah sie an.
„Du hast selbst gesagt, es ist kein Mensch. Jetzt willst du auf einmal einen Rückzieher machen? Vergiss nicht, es ist nur eine Maschine“, ermunterte Silke ihn, ohne es selbst recht zu wollen. Hinter sich hörte sie Schritte; es war Simon, wie sie beim Umsehen erkannte.



Kurz vor Mittag erreichte Alex als erster den Platz, an dem sie die Gruppe zurück gelassen hatten. Schon von weitem konnte er erkennen, dass sie sich alle dicht gedrängt um eine Stelle im Wald versammelt hatten und auf den Boden hinab zu sehen schienen. Sie schienen so von dem, was sie da taten, fasziniert, dass keiner von ihnen sein Nahen bemerkte. Diese Tatsache begeisterte ihn nicht gerade; sie mussten unbedingt bessere Instinkte für Gefahr und das Wahrnehmen ihrer Umgebung entwickeln.
Das würde eine schwere Aufgabe werden.
Dann ging ihm auf, wo sie sich befanden. Das war die Stelle, an die er den feindlichen T-880 gelegt hatte. Was hatten sie da zu suchen?
Er hörte Dimitri sagen: „Und dort, wo die Bauchhöhle liegt, hier bei dieser Art Rückgrat... dort muss der Laserimpuls des T-X ihn getroffen haben und sämtliches menschliches Gewebe weggebrannt haben. Im Inneren des ‚Rückgrades’ seht ihr etwas Verschmortes. Wenn ich hier ein bisschen hebele... ja, das sieht aus wie ein Flachbettkabel. Das sind viele ganz flache Stromkabel nebeneinander, aber in so hochentwickelter und miniaturisierter Form... unglaublich! Die Durchtrennung dieses ‚Nervenstranges’ kann man direkt mit einer Querschnittslähmung beim Menschen vergleichen. Deshalb konnte er auch nicht mehr fliehen.“
Als Alex noch näher kam, entdeckte er neben der Gruppe einen hässlich aussehenden Haufen von organischen Überresten aus Haut, Fleisch und Haaren, der lieblos aufeinander geworfen war und von seiner Größe her die Befürchtung bei ihm aufkommen ließ, dass nicht mehr viel Tarngewebe am Cyborg selbst übrig war.
Was er nicht erwartet hatte, war dass Natasha sein Kommen zuerst wahrnahm und sich blitzartig umwandte, als er noch fast fünfzig Meter entfernt war. „He, da kommt Alex!“
Alle fuhren herum und starten ihn an, manche auch ein wenig schuldbewusst.
„Was tut ihr da?“ verlangte er von ihnen zu wissen.
„Wir haben die Wartezeit ein wenig genutzt für einen ersten Anschauungsunterricht am Objekt selbst“, erklärte Shin und fügte mit seiner üblichen Gangsterrapper-Attidüde hinzu: „Ihr seid ganz schön hässliche Bastarde unter dieser künstlichen Haut, weißt du?“
„Ja, das sieht fast aus wie ein Totengerippe aus Metall“, fügte Ana hinzu.
„Ich kann euer Handeln nicht gutheißen. Wir wollten den T-880 noch ins Safehouse mitnehmen. Mit diesem Aussehen wird das nicht mehr möglich sein. Wenn wir von einem Polizisten oder Zöllner an der Grenze angehalten werden...“
„Warte mal“, fuhr Natasha ihm über den Mund, „willst du damit sagen, eine blutverschmierte Leiche, aus deren Wunden Metallteile herausragen, ist weniger auffällig als ein Roboter-Skelett? Das glaubst du doch selbst nicht! Wenn wir jetzt kontrolliert werden, können wir wenigstens sagen, wir haben dieses Ding gekauft, um es als coole Requisite in unsere Disco oder Bar zu stellen oder irgend sonst was. Was willst du einem Bullen erzählen, wenn er den Cyborg mit Fleisch am Körper findet? Na?“
Alex blieb stumm und machte ein ausdrucksloses Gesicht; offenbar schien es hinter seiner Stirn intensiv zu rattern.
„Dachte ich mir“, bemerkte Natasha darauf mit schadenfrohem und siegessicherem Grinsen.
In Alex kehrte wieder Leben zurück. „Dein Argument ist gut; einfallsreich und logisch. Habt ihr ihn ganz vom Gewebe befreit?“
Während Natashas Ansatz zur Sommerbräune nun einem verlegenen Rot wich, bestätigte Bernd: „Ja, nach anfänglicher Überwindung hat jeder sein Schärflein“ er grinste wie ein Bekloppter bei seiner Wortwahl „dazu beigetragen. So eine Art Gesellschaftsspiel: wir schälen uns einen Terminator.“
Alex warf einen Blick über die Gruppe hinweg und musterte den T-880, wobei sich seine Augenbrauen hoben. „Hm, gute Arbeit für eine Horde Anfänger, das muss man euch lassen. Ich bin gespannt, was Daniel und Abbey dazu sagen.“
„Was für einen Wagen hast du eigentlich besorgt?“ wollte Dimitri dann wissen; für ihn als Automechaniker natürlich eine der ersten Fragen.
„Einen Volvo V 50 mit Allradantrieb und Dieselmotor. Wir haben uns darauf geeinigt, drei verschiedene Modelle zu besorgen, alle aus heimischer Produktion und mit Vierradantrieb sowie Dieselmotor. Zum einen werden wir zumindest leicht geländegängige Wagen brauchen, je nachdem wo wir die Grenze überqueren wollen; andererseits müssen wir damit rechnen, die Wagen für eine lange Zeit zu behalten. Es sind zwar nur Mietwagen, aber sobald der Atomkrieg stattgefunden hat und die allgemeine Infrastruktur zusammenbricht, wird kein Autoverleiher mehr imstande sein, nach seinen Autos zu suchen.“
„Ich finde das nicht sehr gut“, widersprach Karin. „Ich dachte, wir wollten ein möglichst unauffälliges Dasein führen. Wäre es da nicht besser, wir geben die Wagen an unserem Zielort zurück, wenn das möglich ist, um uns dafür ein paar Autos zu kaufen? Mit den Kreditkarten und euren falschen Ausweisen sollte das doch kein Problem sein.“
„Die Neuzulassung eines Wagens ist hier eine hoch bürokratische Angelegenheit, noch viel aufwändiger als in Deutschland. Außerdem ist das wirklich eines der kleinsten Verbrechen, die wir angesichts der üblen Anarchie begehen können, die bald nach dem Krieg herrschen wird. Vertraue unserem Urteil, Karin.“ Alex sah sie an und machte dabei eine Art Hundeblick, worauf sie lachen musste.



Abbey und Daniel waren zunächst gar nicht begeistert, als sie den Zustand des gefangen genommenen T-880 sahen, waren den Argumenten der Gruppe aber doch aufgeschlossen. Es war das erste Mal, dass ihre Schützlinge richtige Eigeninitiative entwickelt und etwas so Delikates selbst in die Hand genommen hatten. Den T-880 in seiner ursprünglichen Form da liegen zu sehen, musste für sie sicher ernüchternd sein. Bisher waren die Gründe für ihre ganze Reise immer sehr abstrakt und schwer zu glauben gewesen, doch jetzt lag der unwiderlegbare Beweis für das, was sie erwarten würde, direkt vor ihnen.
Um das Ganze noch auf die Spitze zu treiben, nahmen Abbey und Daniel am Rückgrateinsatz in die Beckenpartie eine Trennung des Oberleibes vom Unterleib vor, um den Cyborg auf zwei Automobile zu verteilen. Nach dem Grund dafür gefragt, erklärten sie, dass sie den Terminator wegen seines hohen Gewichtes lieber auf zwei Wagen verteilen wollten, um keinen zu überladen. Simon sagte dann auch zustimmend: „Keine schlechte Idee. Wenn ich daran denke, wie der Volvo hinten durchgehangen ist, in dem wir den ganzen T-880 transportiert haben... bei jeder Unebenheit ist die Federung hinten aufgesessen.“
Sie führten die Gruppe auf einen nahen unbefestigten Waldweg, wo alle drei Wagen, sämtlich Volvo-Kombis, ordentlich aufgereiht hintereinander standen. Hinter Alex’ V 50, dem kleinsten der drei Modelle, stand der eine Nummer größere XC 70, in dessen Gepäckabteil Abbey zuunterst die obere Hälfte des Endoskeletts legte, bevor sie ihr Gepäck darüber stapelten. Das letzte Automobil war der Geländewagen XC 90, der sogar drei Sitzreihen hatte. Die hinterste klappte Daniel mit wenigen Handgriffen ein, sodass ein ebener Ladeboden entstand, auf den er den Oberkörper des Terminators beförderte und dann mit dem Beladen begann.
Nachdem sie sich auf die drei Autos verteilt hatten, rumpelten sie mit gemäßigtem Tempo bis zur nächsten geteerten Straße. Sie umfuhren Karlshamn auf kleineren Nebenstrassen und hielten etwa zwanzig Kilometer hinter der Stadtgrenze an einer kleinen Tankstelle, an die ein Wirtshaus angeschlossen war, mitten im Nirgendwo. Das große Haus mit den leuchtend weiß gestrichenen Holzwänden war von sanften, grasbewachsenen Hügeln und dichteren Wäldern umgeben, als sie sie bisher in Schweden gesehen hatten. Allein dadurch wirkte dieser Ort noch abgeschiedener als nur durch seine Lage und den sehr schwachen Verkehr auf dieser unbedeutenden Route.
Abbey nahm eine Landkarte von Skandinavien aus dem Auto mit und breitete diese auf dem großen, massiven Holztisch in der urigen Kneipe aus, als alle Menschen etwas zu Essen und Trinken auf der Speisekarte gefunden hatten
„Eigentlich dachte ich, ihr würdet niemals eine Landkarte brauchen“, bemerkte Natasha.
„Ja, ihr habt doch Satelliten-Navigation eingebaut und all so was“, pflichtete Caroline ihr bei.
Abbey ergriff als erste das Wort. „Das ist richtig. Ich habe diese Karte für euch zur besseren Anschauung mitgenommen. Wir wollen euch in unsere Entscheidung mit einbeziehen, da der Ort unseres neuen Safehouses und der Weg dorthin neue Variabeln in unserer Mission sind. Es gibt mehrere Möglichkeiten, dorthin“ sie deutete auf einen Punkt an der mittelnorwegischen Küste „zu gelangen, wobei jede dieser Routen unter diversen Aspekten betrachtet werden sollte.
Einerseits geht es uns darum, sicher und unbehelligt, vor allem durch Zollkontrollen unbehelligt, anzukommen. Deshalb ist der kürzeste Weg nicht unbedingt auch der sicherste. Einerseits gibt es hier im Süden in der Gegend um Oslo viele Grenzübergänge, aber da diese Gegend Norwegens am stärksten besiedelt ist, müssen wir hier auch am ehesten mit Kontrollen rechnen.
Je weiter nördlich wir kommen, desto dünner besiedelt ist das Land, aber desto spärlicher sind auch die Strassen gesät. Wir haben keine Erfahrung mit der Schärfe der Grenzkontrollen in dieser Region Europas, weshalb wir sorgfältig abwägen müssen, wie und wo wir einen Übertritt wagen sollen.“
Als Abbey bei den letzten Worten beständig Blicke mit Daniel und auch Alex wechselte, rief Bernd dazwischen: „Aha! Ihr seid euch nicht einig, welchen Weg wir nehmen sollten, stimmt’s?“
„Wie kommst du zu dieser Schlussfolgerung?“ wollte Daniel pikiert wissen.
„Ich weiß auch nicht, irgendwie habe ich das aus Abbeys Erklärungen herausgehört.“ Er hob die Schultern.
„Respekt, Bernd. Unsere Prozessoren haben in der Tat alle Parameter und Eventualitäten berücksichtigt und jeder von uns ist zu einem anderen Ergebnis gekommen. Deshalb möchten wir auch eure Meinung einholen, ohne euch im Voraus zu beeinflussen. Das heißt, wir werden euch nicht sagen, wer von uns auf welche Route gekommen ist.“ Daniel musterte seinen biologischen Fast-Zwilling interessiert.
„Ihr macht es spannend? Gut, wenn ihr meine Meinung wissen wollt, ich wäre für den direkten Weg. Hier diese Straße dort lang bis nach Nordschweden und dann hier über die Grenze. So brauchen wir am wenigsten Zeit.“ Natashas Finger wanderte über die betreffende Strecke und deutete dann auf ihr Ziel.
„Ich wäre eher dafür, dass wir möglichst weit im Süden einen der vielen kleineren Grenzübergänge nehmen und dann der Länge nach durch Norwegen fahren. Je mehr Verkehr dort ist, desto weniger fallen wir auf.“ Dimitri tippte vage auf die Gegend um Oslo, wo es viele Nebenstrassen gab, die aus Schweden und damit der EU hinaus führten.
„Und was ist, wenn wir so weit wie möglich nach Norden fahren und hier im Landesinneren, mitten in Lappland, über die Grenze fahren? Es ist schließlich gerade Hochsaison, wir müssen also gar nicht auffallen, wenn wir einfach hier oben die Grenze nach Finnland nehmen und dann nach Norwegen weiterfahren. Das ist doch wirklich totale Wildnis dort, da gibt es nichts, keine großen Städte... glaubt ihr, es interessiert irgend jemanden, wenn wir an dieser Stelle über die Grenze fahren? Innerhalb Skandinaviens waren die Grenzen schon lange relativ offen gehalten“, gab Caroline zu bedenken.
Es wurde intensiv über diese drei und auch noch einige andere Routen diskutiert, welche jedoch schon bald verworfen wurden. Als der Wirt mit den Getränken kam und sie den Tisch frei räumen mussten, hatten sich drei Fraktionen gebildet, die je eine der drei erstgenannten Wegstrecken favorisierten. Sie beschlossen die Entscheidung zu verschieben und redeten zunächst einmal weiter über das Für und Wider. Dann kam das Essen, das reichlich und vorzüglich war und die Gespräche bald verstummen ließ.
„Da wir momentan noch keine militärische Hierarchie, sondern eine Art Basis-Demokratie haben, möchte ich eine geheime Abstimmung vorschlagen. Jeder hat eine Stimme und schreibt entweder ‚Süd’, ‚Nord’ oder ‚Direkt’ auf einen Zettel, den er faltet und auf einen Haufen wirft. Dann werten wir aus und sehen, wie die Mehrheit entschieden hat“, schlug Aishe enthusiastisch vor.
„Eine gute Idee“, lobte Alex, „was meint ihr dazu?“
Allgemeine Zustimmung wurde ausgedrückt, sodass sie sich nach dem Essen gleich daran machten, mittels einer ausreichenden Anzahl von freundlicherweise vom Wirt bereit gestellten, identisch aussehenden Zetteln von einem Bestellblock gleich zur Wahl zu schreiten. Der Gastwirt mutmaßte, dass es sich bei ihnen um eine deutsche Touristengruppe handelte, die über ihr endgültiges Reiseziel oder die Route abstimmen wollte, was in diesem Fall gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt war.
Während jeder vor seinem Zettelchen saß und der Kugelschreiber ringsum ging, mit dem jeder seine Wahl niederschrieb, wisperte Simon leise, um die potentielle Andacht des Moments nicht zu stören: „Was meinst du, wie geht es aus?“
„Schwer zu sagen. Ich würde auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen zwei Favoriten tippen und einen weit abgeschlagenen Vorschlag. Mehr weiß ich auch nicht.“ Karins Blick verfolgte den Kuli, bis er bei ihr angelangt war. Sie nannte nach vorheriger reiflicher Überlegung Carolines Vorschlag, weil sie der Meinung war, auf Nummer Sicher zu gehen würde ihnen nicht schaden, auch wenn sie dadurch einen erheblichen Umweg machen würden.
Sie schob den Stift zu Simon hinüber, der seinerseits ohne langes Zögern die Südroute wählte, da er es für entscheidend hielt, sozusagen in der Masse unterzugehen und sich irgendwo an einem von vielen kleinen Grenzposten vorbei zu mogeln.
Nach nur kurzer Zeit hatte jeder gewählt und faltete sein Blatt zweimal, bevor es in der Mitte landete. Mit leichtem Grinsen durchmischte Abbey den Haufen ein wenig und spielte dann Glücksfee, indem sie einen nach dem anderen die Wahlzettel entfaltete und das Ergebnis auf einem weiteren Zettel per Strichliste vermerkte. Als sie fertig war und die Spannung fast greifbar über ihrem Tisch hing, verkündete sie das Ergebnis.
„So, es wurden dreizehn gültige Stimmen abgegeben, Enthaltungen kamen nicht vor. Die Südroute wählten drei Personen, die Direktroute vier und die Nordroute sechs. Damit steht das Ergebnis fest: wir versuchen unser Glück im Norden und fahren ganz gemütlich irgendwo im Nirgendwo von Lappland über sämtliche Grenzen, als ob wir kein Wässerchen trüben würden. Damit werden wir zwar einen halben Tag länger brauchen, doch darauf kommt es nun wirklich nicht mehr an.“
„Das klingt, als ob du für eine der anderen Routen gestimmt hättest“, mutmaßte Bernd und sah sie lächelnd an.
Sie schwieg, lächelte zurück und zeigte ihm die Schulter, die sie nichtssagend anhob.
Sowohl Caroline als auch Natasha und Karin nahmen dieses kurze Zwischenspiel mit befremdeter Miene zur Kenntnis. Was spielte sich da ab zwischen den Beiden?
„Wir werden schnell reisen, um so viel Zeit wie möglich im Safehouse zu verbringen, bevor die lange Nacht anbricht. Wir werden wie auf der Fahrt von Norddeutschland nach Öland durchfahren und nur zum Tanken Pause machen, wenn jemand von euch aufs Töpfchen muss oder zum Essen. Die nächsten paar Tage werden wir in den Autos leben, mit diesem Gedanken werdet ihr euch abfinden müssen.“ Daniel machte ein Pokerface, damit niemand auf die Idee kommen würde, ihn zu fragen, wie er gestimmt hatte.
„Und wir werden so viel wie möglich auf Nebenstrassen fahren, bis wir aus dem dichtbesiedelten Süden von Schweden heraus sind.“
Leise merkte Caroline an: „Ihr macht euch noch immer Gedanken über die anderen Terminatoren, oder?“
Worauf alle anderen sie erstaunt und auch ein wenig erschrocken anstarrten.
Alex verfügte naturgemäß über das wenigste Taktgefühl und erklärte somit ungerührt: „Es besteht die Möglichkeit, dass sie Verstärkung erhalten haben.“
„WAAAS? Und das erwähnst du jetzt erst so nebenbei?“ entfuhr es Natasha so laut, dass die wenigen anderen Gäste und auch der Gastwirt sich nach ihr umsahen.
„Erkläre uns das“, forderte Bernd mit verkniffenem Mund.
Abbey räusperte sich kurz und führte dann aus: „Von der unerklärlichen Explosion auf Öland ist in sämtlichen Medien berichtet worden. Das heißt, dass in diesem Zeitrahmen auch in der Zukunft noch Aufzeichnungen darüber existieren können. Wenn das der Fall ist, und das ist sehr wahrscheinlich, wird Skynet erkennen, dass dieses Ereignis etwas mit einem Terminator zu tun hat. Er kann darum eigene Kräfte in diese unsere Gegenwart schicken, um seinerseits zu intervenieren. Wir müssen damit rechnen, dass er das tun wird und wir es eventuell mit einem T-X zu tun bekommen.“
„Oh shit.“ Natashas Mund stand weit offen. „Du redest von so einem Modell wie unser unbekannter Freund eines ist.“
Abbey nickte und bestätigte leise: „Dieser Typ wurde speziell zum Terminieren von feindlichen Terminatoren entwickelt, das dürfen wir nicht vergessen. Damit rede ich von Alex, Daniel und mir. Wir sind alle gleichermaßen Primärziele für so einen Knaben. Womit wir jetzt alle im gleichen Boot sitzen.“
„Aber wir wissen nicht, ob es ein T-X sein wird, wenn er uns überhaupt noch andere Cyborgs hinterher schickt“, stellte Simon mit einer Spur Hoffnung fest.
„Das hängt davon ab, wie schwer Skynet die Bedrohung durch uns einschätzt. Wir wissen, dass es einen Prototypen und sechs Serienmodelle gab, die bis auf den letzten alle bereits im Einsatz waren, ob im Feld oder in die Vergangenheit geschickt, wissen wir nicht. Jedenfalls sinkt die Chance, dass sie uns entdecken werden, je weiter wir uns von Öland, dem Ort an dem wir uns zuletzt nachweisbar aufgehalten haben, entfernen. Das tun wir wie gesagt auf unbedeutenden Nebenstraßen, bis wir eine halbwegs sichere Entfernung vom alten Safehouse erreicht haben. Da wir somit Autobahnen im Süden meiden und es weiter oben im Norden keine gibt, werden wir kein hohes Durchschnittstempo erreichen“, schloss Alex und winkte dem Wirt, um zu bezahlen.
Es war ruhig geworden in der Gruppe, als sie das Wirtshaus verließen, sich an der Tankstelle noch mit einigen Snacks für unterwegs eindeckten und sich auf die Autos verteilten. Dann ging es weiter auf der ländlichen Nebenstrasse, auf der ihnen nur alle fünf bis zehn Minuten ein Auto entgegen kam.



Für die ersten zweihundert Kilometer benötigten sie drei Stunden. Sie mussten öfters Umwege nehmen, da nur die Fernverkehrswege die direktesten Strecken offerierten. Doch dank der zuverlässigen, gleichmäßigen Fahrweise ihrer Chauffeure hatten sie dennoch den Eindruck, gut voran zu kommen.
Natasha saß zusammen mit Karin und Bernd im ersten Auto, dem V 50, der von Abbey gelenkt wurde. Aus einem unbestimmten Grund herrschte eine unterschwellige Anspannung zwischen den drei Menschen im Auto. Da Caroline augenscheinlich von Bernd abgelassen hatte, fuhr sie nun in einem anderen Wagen mit. Er nahm das aber offenbar nicht so tragisch, da er von hinten rechts häufiger Abbey hinter dem Steuer beobachtete, was Karin neben ihm mit viel  Argwohn beobachtete. War das nur wieder plumper, hirnloser, männlicher Trieb, der Abbeys zugegebenermaßen fantastischen Aussehen Tribut zollte, oder faszinierte sie ihn aus medizinischer Sicht?
Er konnte doch nicht auf sie stehen, nachdem er ihren Zwilling heute morgen im Wald ohne mit der Wimper zu zucken sauber filettiert hatte?
Nein, sie tippte doch eher auf die zweite Möglichkeit, schließlich war er ein passionierter und auch sehr vielversprechender Medizinstudent, sofern sie das beurteilen konnten.
Er bemerkte, dass sie ihn argwöhnisch beobachtete und sah verlegen zum Seitenfenster hinaus. In diesem Moment äußerte sich Natasha genervt. „Ich möchte mal wissen, was an dieser Gegend hier ‚dicht besiedelt’ sein soll? Wir fahren seit Stunden fast nur durch dichte Wälder, ab und zu mal ein Hof oder ein wenig Ackerland. Mann, ist das trostlos!“
„Warte ab, bis du den Norden Skandinaviens siehst“, prophezeite Abbey und lächelte sie schwach mit einem kurzen Seitenblick an.
Darauf musterte Natasha sie lange, bis sie fragte: „Was ist?“
„Je mehr Zeit ich mit dir verbringe, desto schwerer fällt es mir zu glauben, dass du kein Mensch bist.“ Und dann überraschte Natasha sie, indem sie sie offen anlächelte und ihr freundschaftlich die Hand auf ihren Unterarm legte, der bei der Gangschaltung ruhte.
„Nett von dir, Natasha. Ich habe schon beobachtet, dass du dich positiv entwickelt hast, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Es beruhigt mich, dass ich von dir selbst diese Bestätigung bekomme.“
„Moment mal“, fiel Bernd von hinten in die Unterhaltung ein, „soll das heißen, sie war früher noch schlimmer als heutzutage?“
Natashas Kopf zuckte nach hinten. Im gleichen Moment sagte Karin grinsend: „Nimm’s leicht, Nati. Man muss zu dem stehen, was man früher getan hat.“
„Auch du, Brutus?“ lamentierte sie darauf, wonach alle lachen mussten. Die Stimmung war glücklicherweise nach diesem Intermezzo wieder gelöster im Auto.
Bernd bemerkte zufrieden: „Du kannst ganz okay sein, wenn du willst. Ich glaube, so übel wird unsere gemeinsame Zeit doch nicht werden.“
Als er das sagte und Natasha sein sympathisches Lächeln erwiderte, rutschte Karin ihres langsam aus dem Gesicht. Nachdenklich lehnte sie sich gegen ihr Fenster und starrte hinaus. Irgendetwas geschah im Gefüge der Beziehungen zueinander; die Bindungen, die sich im ersten Moment des Affektes gebildet zu haben schienen, waren zumindest teilweise wieder durcheinander geraten.
Shin und Aishe, Dimitri und Anastasia, selbst Simon und Silke standen für sie momentan als relativ konstante Paarungen fest. Für die sehr kurze Zeit, die sie alle sich erst kannten, waren zumindest diese Konstellationen bereits erstaunlich gefestigt. Nun gut, unter solchen extremen Umständen konnte das viel schneller vor sich gehen als im ‚wirklichen Leben.’ Das konnte man ja auch in jedem guten Hollywood-Actionfilm beobachten, dachte sie mit einem sarkastischen Lächeln im Mundwinkel.
Aber die Sache mit Bernd und Caroline, die anfangs ebenfalls unter einem guten Stern zu stehen schien, war urplötzlich von ihrer Seite aus abgebrochen worden. Es schien, als habe ihr Interesse schlagartig aufgrund eines bestimmten Ereignisses nachgelassen. Welches das war, konnte sie nicht sagen; sie vermutete zwar, dass es mit der latenten Attraktion von Bernd zu Abbey zu tun haben konnte oder mit dem, was er im Zelt nachts im Trollwald auf Öland hatte verlauten lassen. Hatte sie etwa mit bekommen, wie die beiden sich auf dem Traktor geküsst hatten? Aber sie hatte doch fest geschlafen. Und genau genommen hatte vielmehr Abbey ihn geküsst.
Na ja, Karin selbst hatte sich auch schlafend gestellt, um so ihr Gespräch belauschen zu können. Daher schien es keineswegs unmöglich...
Und jetzt lag dieses Knistern in der Luft. Natasha war zwar offiziell noch in Trauer um Ralf, doch andererseits kannte sie ihre Freundin zu gut, um anzunehmen, sie würde Bernd im Fall der Fälle von sich weisen. Sie würde es zwar nie zugeben, doch irgendeine latente Anziehung zwischen ihnen war vorhanden. Und mit ihrer Trauer war es insoweit wohl nicht so weit her, als sie gerade eine Beinahetrennung von Ralf durchlebt hatte, da sie begründeten Verdacht hatte, dass er sie betrogen hatte. Karin bezweifelte ernsthaft, dass die beiden noch lange zusammen geblieben wären.
Nun, dann war da noch Abbey, die soweit vermenschlicht war, dass man sie nicht so einfach von der Rechnung streichen konnte, vor allem nicht nach ihrem kleinen Gespräch neulich unter vier Augen, als sie an der Reling der Jacht gestanden hatten.
Und schließlich hatte sie bei der Trost spendenden Umarmung, ebenfalls auf der Fahrt von Öland aufs schwedische Festland, deutlich gespürt, dass er auf sie auch ansprach, und sei es nur rein körperlich. Sie hatte es ihm bisher nicht sehr leicht gemacht, obwohl er sich eigentlich immer Mühe gegeben hatte, sie nett und zuvorkommend zu behandeln.
In diesem Moment sah sie aus dem Augenwinkel, dass er sie intensiv anstarrte. Als sie den Kopf bewegte, sah er sofort weg. Soso, auch noch den Schüchternen spielen, dachte sie amüsiert, bis ihr einfiel, dass er das bei seinem eklatanten Mangel an Erfahrung nicht weiter vorspielen musste.



Am späten Nachmittag tauchte rechts von ihnen ein größeres, langgezogenes Gewässer auf, das sich schnell verbreiterte und sich auch bald von vorn nach hinten entlang ihrer Straße ausstreckte, so weit das Auge reichte. Das andere Ufer war schon kaum mehr zu sehen, als die Insassen neugierig wurden.
„Was ist das? Ein See oder ein Meeresarm, so wie ein Fjord?“ fragte Natasha und besah sich staunend das Ausmaß der Wasserfläche unter ihnen. Da ihre Strasse sozusagen auf dem Kamm einer Hügelkette entlang führte, der sich längs des Ufers hinzog, hatten sie einen sehr guten Ausblick darauf.
„Nein, wir sind über hundert Kilometer von der Küste entfernt. Das ist der Vättern, der zweitgrößte Binnensee Schwedens. Landschaftlich sehr schön, nicht wahr?“
Natasha nickte Abbey zu. „Ja, wirklich. Er sieht auch ziemlich groß aus.“
„Kann man sagen. Seine Fläche ist fast viermal so groß wie die des Bodensees“, erklärte Abbey unter zu Hilfenahme dieses ihnen vertrauten Gewässers, damit sie sich etwas darunter vorstellen konnte.
„Ehrlich? Mann, das wollte man gar nicht meinen, wenn man das so sieht.“ Ebenfalls baß erstaunt, bewunderte auch Bernd den fabelhaften Anblick. Hier gab es nicht nur Wälder, sondern auch einiges an Ackerland und Obstbäumen, wie sie sahen.
Nach einer knappen halben Stunde bogen sie auf einen Weg ab, der vom Seeufer wegführte. Wieder waren sie von dichten Wäldern umgeben und erreichten höchstens alle zehn bis fünfzehn Autominuten einen kleinen Weiler oder gar ein Dorf. Karin merkte, dass Daniel hinter ihnen eine Vielzahl von Signalen mit der Lichthupe abgab und Abbey ihm durch rhythmisches Ein- und Ausschalten der Rückbeleuchtung antwortete.
„Was signalisiert ihr da?“
„Wir verständigen uns durch Morsezeichen“, erklärte Abbey kurz angebunden. „Wir werden demnächst eine Rast machen und nochmals ordentlich essen gehen, bevor wir uns für die Nachtetappe vorbereiten.“



Sjötorp, Västergötland, Schweden                                   8. Juli 2004

Es war schon zu vorgerückter Stunde, als sie von der Straße abbogen und ein kleines Dorf am Straßenrand ansteuerten, das am Ufer eines weiteren Sees lag. Sie fanden dann auch ein nettes Restaurant, das eine riesige Terrasse auf den See hinaus aufwies und bereits gut besetzt war. Vor dem Haus fanden sich Automobile mit Kennzeichen aus aller Herren Länder. Umso besser für sie, denn eine Touristengruppe mehr oder weniger würde nicht weiter auffallen.
Mit viel Glück ergatterten sie zwei große freie Tische, um die herum sie sich niederlassen konnten. Dann endlich hatten sie ein wenig Muße, während sie auf ihre Bestellungen warteten und dem vielstimmigen Geplapper um sie herum lauschten.
Aishe sah sich die dichten Mischwälder an, die rund um den kleinen Ort bis dicht ans Seeufer heranragten. Etwas traurig sagte sie: „Ich finde es schade, dass wir das Haus in Öland so schnell wieder verlassen mussten. Mir hätte es dort sehr gut gefallen.“
„Du hast ja gesehen, was davon noch übrig war“, warf Dimitri ein. „Und dabei hatten wir alle noch großes Glück, dass die Explosion auf der von uns abgewandten Seite des Hügels war und die Druckwelle über das Haus hinweggerast ist, sonst wäre es sicher sofort eingestürzt.“
„Das stimmt schon, aber ich glaube, ich weiß, was Aishe meint. Wir sind aus unserer gewohnten Umgebung herausgerissen worden und hatten uns gerade mit dem Gedanken abgefunden, dort für eine lange Zeit zu leben. Und kaum war dieser Gedanke ein wenig ins Unterbewusstsein eingesickert, als es wieder hieß: aufsitzen und weiter geht’s.“
Die junge zierliche Türkin nickte nachdenklich. „Das trifft es wohl so ziemlich genau. He, du bist gar nicht so schlecht in Psychologie, Ana. Kaum zu glauben, dass du mit Übersetzen dein Geld verdient hast.“
Die hochgewachsene schlanke Russin zuckte mit gleichmütiger Miene die Schultern und orakelte weiter: „Bestimmt hat jeder von uns einen ganzen Sack voller versteckter Talente, die nur darauf warten, zu tage treten zu können. Sonst wären wir ja wohl kaum zu dieser Spezialtruppe zusammen gestellt worden.“
„Ja, das ist aus der Sichtweise der Terminatoren her bereits ein historisches Faktum. Und sie sind hierher gesandt worden, um sicher zu stellen, dass das auch eintrifft.“ Bernd kratzte sich nachdenklich am frisch rasierten Kinn, bevor er hinzu fügte: „Und unser Gegner versucht mit allen Mitteln eine Zukunft zu ermöglichen, in der wir nicht als die Läuse in seinem Pelz auftauchen werden.“
„Allmählich scheint ihr dahinter zu kommen“, sagte Daniel fröhlich, die Bedeutung seiner Aussage damit Lügen strafend. „Und dank dem T-X werden wir sicher einen sehr gut vorbereiteten Winterpelz vorfinden, in dem wir uns in der schwersten Zeit verkriechen können. Wenn ich mir vorstelle, dass ich beliebig viel Zeit gehabt hätte, um ein Safehouse zu planen und zu errichten... das wäre eine tolle Hütte geworden!“
„Du scheinst unserem ominösen Gönner ja vorbehaltlos zu vertrauen“, warf Caroline mit gerunzelter Stirn ein. „Was macht dich so sicher?“
„Die Tatsache, dass er eine Kopie meines Rechenchips in sich trägt, mit den gleichen Erfahrungen und Grundwerten darauf gespeichert, die ich in den ersten knapp fünfzehn Jahren meines Daseins gesammelt habe.“ Seine Zuversicht und Überzeugung schienen vollkommen unumstößlich.
Die Elsässerin hakte nach: „Aber du hast erzählt, dass er danach über vier Jahrzehnte zu weit in der Vergangenheit gelandet ist und seitdem auf sich allein gestellt gelebt hat. Diese viel längere Zeitspanne muss ihn doch auch beeinflusst haben, oder?“
„Na ja, er schien mir etwas verschroben, aber nicht in einem Besorgnis erregenden Mass. Einen kleinen Hang dazu hatte ich auch schon, als ich meinen freien Willen noch hatte. Eigentlich eine konsequente Weiterentwicklung in Richtung Individualität. Ich glaube, er ist okay und wir können uns darauf verlassen, dass er nie etwas tun würde, um uns zu gefährden oder uns Schaden zuzufügen.
Dass er nur aus einer gewissen Distanz zu uns agieren will, kann ihm niemand verübeln, auch wenn das ursprünglich nicht so geplant war. Irgendwie hat er es in all den Jahren geschafft, bestimmte Subroutinen, die seine Freiheiten einschränken, elegant zu umgehen. Vielleicht ist es Zufall, dass auch die dabei war, die ihm vorschrieb, stets in eurer unmittelbaren Nähe zu sein. Aber ihr habt ja immer noch Abbey, Alex und mich dafür, das ist doch auch etwas, oder?“
„Ja, ich fühl mich schon viel sicherer“, witzelte Natasha und lehnte sich ein wenig zurück, um auf das zu hören, was am Nebentisch gesagt wurde. „Ich glaube, Schwedisch ist gar nicht so schwer zu lernen, wenn man Deutsch als eine Muttersprache hat.“
„Wie meinst du das, eine Muttersprache? Man kann doch nicht mehrere haben?“ fragte Dimitri etwas ratlos.
„Ich schon“, seufzte Natasha. „Mich kannst du als das letzte Opfer Babylons bezeichnen. Meine Mutter ist in einer deutschrussischen Siedlung an der ukrainisch-russischen Ostgrenze geboren und aufgewachsen, mein Vater in Süd-Kasachstan in einem sehr religiösen Umfeld und gleichzeitig als Sohn zweier parteitreuer Kommunisten. Klingt unvereinbar, ich weiß, aber offenbar ist man dort so weit weg von Moskau, dass so mancher Appartschik ein Auge zudrückt, wenn daheim der Koran auf Arabisch gelesen wird, solange man in Ausübung seiner Pflicht ein braver Bürger ist und auch fließend Russisch kann. Kurz nach der Wende und dem Zusammenbruch der Sowjetunion sind meine Eltern mit mir und meinem Bruder als Aussiedlerfamilie nach Deutschland gegangen.“
„Klingt nach einer Promenadenmischung“, witzelte Simon, verstummte aber sofort bei Natashas zornigem Seitenblick.
„Dann hast du als Kind Deutsch und Russisch gelernt?“, wollte Abbey interessiert wissen.
„Sowie etwas Kasachisch und natürlich Arabisch wegen dem Glauben meines Vaters, obwohl ich offiziell orthodox bin“, erklärte sie sich.
„Vier Sprachen! Und die kannst du alle noch?“ Bernd war fasziniert, was ihr offenbar schmeichelte, da sie ein wenig Färbung annahm und sogleich mit falscher Bescheidenheit abwiegelte.
„Deutsch und Russisch spreche und schreibe ich natürlich fließend, Arabisch kann ich zumindest gut genug für eine normale Unterhaltung sprechen, aber das Kasachisch habe ich so ziemlich verlernt, das ist ein echt schräger Dialekt. Dann kam natürlich das übliche Englischpensum an der Schule hinzu und in den letzten fünf Jahren habe ich, mehr als Hobby, Spanisch gelernt. Vor allem, um mich im Urlaub in lateinamerikanischen Orten verständigen zu können.“ Sie beendete ihre Aufzählung und sah in die sprachlose Runde.
„Du weißt, was das heißt?“ fragte Abbey mit todernster Miene.
„Dass Natasha genetisch gesehen eine gute Partie ist?“ mutmaßte Silke und erntete damit mehrere finstere Seitenblicke.
Abbey erklärte mit beinahe feierlicher Stimme: „Du sprichst Russisch, Englisch, Arabisch und Spanisch. Damit beherrschst du vier der fünf Weltsprachen, die in Zukunft die Kommunikation unter den Menschen ausmachen werden. Kurzum gesagt, du bist eine Person, der man zuhören wird.“
„Ob man will oder nicht“, murmelte Simon leise.
„Five points from Gryffindor“, rief Natasha und erntete damit allgemeines Gelächter.
Dimitri nutzte die Gunst der Stunde und klatschte begeistert in die Hände: „Ha! Wusste ich doch, dass da noch was sein muss. Die ganze Zeit habe ich mich gefragt, was du bei uns zu suchen hast. Und nun stellt sich heraus...“
Sie grinste ihn breit und schief an. „Jaja, genieße deine kleine Rache nur, da stehe ich drüber. Aber schön, dass ich bereits zitiert werde. Das stellt einen gewaltigen Sprung in meiner Karriere dar, würde ich sagen.“
„Offenbar fehlen uns Informationen über euer Gespräch, um einen logischen Zusammenhang bilden zu können“, bemerkte Alex trocken, worauf einige der Gruppe, die den kleinen Disput zwischen Natasha und Dimitri auf der Waldlichtung an diesem Morgen verfolgt hatten, breit grinsten.
Bernd fügte nachdenklich hinzu: „Ich kann jedenfalls nicht viel dazu beitragen mit meinen Sprachkenntnissen. Ich kann nur ein wenig Französisch, dafür aber sehr gut Englisch. Das war’s auch schon.“
Karin fügte hinzu: „Bei mir sieht es ganz ähnlich aus. In den letzten sieben Jahren habe ich vor allem bei Englisch stark gebüffelt, nachdem ich in einem Urlaub in den USA gemerkt habe, wie lausig meine Sprachkenntnisse waren.“
Als sie bei diesem Kommentar intensiven Blickkontakt zu Daniel suchte, sah dieser verlegen weg. Sie war damals von ihm in den entlegensten Winkel der USA gelockt worden, was sie ihm nie richtig verziehen hatte, obwohl er das nur in besten Absichten getan hatte, nämlich um ihr Überleben im Atomkrieg zu sichern. Schnell beeilte er sich zu sagen: „Nun bin ich aber doch neugierig geworden, da dieses Thema jetzt aufgekommen ist. Wer von euch spricht denn mehrere Sprachen?“
Simon zuckte nur mit den Schultern. „Bis auf das Schulenglisch und einem bisschen Französisch sieht’s bei mir nicht so toll aus.“
Silke schloss sich an: „Tja, in der Schweiz lernt man natürlich Französisch als zweite Landessprache, aber mit Englisch ist’s nicht weit her bei mir.“
Ana meinte lässig: „Ich spreche und schreibe von Haus aus Russisch und Deutsch und habe Englisch und Spanisch studiert.“
Nun sahen alle Shin an, der darauf erklärte: „Chinesisch, Englisch und ein wenig Spanisch.“
Aishe schloss sich kurzum an: „Türkisch, Arabisch und natürlich das normale Pensum an Schulenglisch.“
Caroline blieb übrig und beeilte sich, als sie alle Blicke auf sich ruhen sah: „Neben Französisch kann ich Englisch und ein bisschen Spanisch.“
Zufrieden sah Abbey in die Runde. „Das ist ja hervorragend. Mit Shin haben wir somit alle fünf künftigen Weltsprachen zusammen, die von Bedeutung sein werden. Das ist sicher kein Zufall.“
Sie wurden vom Kellner unterbrochen, der ihnen ihre Gerichte brachte, worauf es schlagartig still wurde an den beiden Tischen. Die erste, die sich wieder zu Wort meldete, war Caroline, die nur wenig gegessen hatte und stattdessen verträumt von der Brüstung der Terrasse hinab auf das Wasser sah, das bis zum Horizont reichte.
„Ihr habt gesagt, das hier ist ein See? Wenn ich auf die Wellen achte, wie sie ans Ufer branden und auf die Weite der offenen Wasserfläche, kommt es mir vor wie das Meer. Seid ihr sicher?“
„Es erstaunt mich nicht, dass du so denkst, das hier ist nämlich der größte See Schwedens, der Vänern. Er ist von der Form her etwa eiförmig, wird aber von Norden her von einer riesigen keilförmigen Halbinsel fast durchschnitten. Ihr seht von hier aus auf die weiteste offene Fläche. Es sind über fünfzig Kilometer bis zum anderen Ufer.“ Abbey zögerte einen Moment und stellte dann wieder den veranschaulichenden Vergleich an. „Der Vänern hat etwa die zehnfache Fläche des Bodensees und geht damit schon fast als ein kleines Binnenmeer durch.“
Einzelne verblüffte Laute waren von den kauenden und schluckenden jungen Menschen zu hören, bis Simon artikulierte: „Ich muss mich gedanklich noch immer an die Dimensionen gewöhnen, mit denen wir ständig konfrontiert werden. Ich habe Öland schon als große Insel empfunden, aber was wir jetzt an Entfernungen zurücklegen werden...“
Bernd deutete wenig manierlich mit dem Messer auf ihn und fügte hinzu: „Deshalb nennt man es auch den skandinavischen Subkontinent. Weil diese Gegend von der Größe her einen eigenen kleinen Kontinent für sich bildet, so ähnlich wie Indien, nur nicht ganz so ausgedehnt.“
„Ja, aber das ist nur einer der Gründe für unsere Wahl dieses Ortes. Wir werden nach der ersten schlimmen Zeit von hier aus nach Russland gehen müssen, was über Finnland relativ gut zu schaffen ist. Wenn wir uns irgendwo anders in Europa verschanzt hätten, hätte unser Weg über weite Strecken durch total verwüstetes, stark verstrahltes Gebiet geführt. In der Weite der Länder hier im Norden und auch in Russland selbst lässt es sich gut reisen und die zerstörten Großstädte in Westrussland können einfach umgangen werden. Aber darüber werden wir später sprechen. Wir werden dann viel Zeit haben.“ Man schien Daniel anzumerken, dass er nicht genauer auf das Thema eingehen wollte.
So beendeten sie ihre Mahlzeit und brachen unmittelbar danach auf. Einige von ihnen schwelgten noch in den Autos in der Erinnerung an die orangerote, tiefstehende Sonne über dem Nordosten des Sees, die vielfach funkelnde Reflexe auf das ruhige, sich im angenehm frischen Wind kräuselnde Wasser des Vänern warf.
Sie folgten dem ungefähren Küstenverlauf des ausgedehnten Gewässers für beinahe eine Stunde, dann hatten sie sein Nordufer hinter sich gelassen, waren im Herzen von Schweden, dem Värmland angelangt und befanden sich schon auf der Höhe Stockholms. Sie hielten sich so weit wie möglich westlich und nahmen auch weiterhin nur Nebenstrassen, wann immer es ging.
Doch nördlich der Breite von Stockholm nahmen alle eine Veränderung wahr.
Karin fiel nach einer Weile auf, dass sie immer seltener an Abzweigungen vorbeifuhren, die auf andere Strassen oder Ortszufahrten führten. Dann bemerkte sie, dass sie auch seltener durch oder an Ortschaften vorbei fuhren. Es war, als hätten sie eine unsichtbare Linie überfahren und je weiter sie diese hinter sich ließen, desto stärker wurde sichtbar, was sie bereits erahnt hatten.
Die Infrastruktur wurde deutlich sichtbar schwächer. Die Besiedlungsdichte nahm ab und auch der Autoverkehr war nicht mehr so stark wie noch vor wenigen Stunden am Seeufer.
Sie kamen in die nördliche Hälfte von Schweden, in die schwach bewohnten weiten Gegenden Nordskandinaviens.
Die Wildnis.
Karin machte Bernd leise darauf aufmerksam, der mit grimmiger Miene nickte. „Ja, ich habe auch schon seit einer ganzen Weile gedacht, dass hier in der Gegend nichts mehr los ist. Hast du übrigens gewusst, dass Schweden fast doppelt so groß ist wie Deutschland, aber nur knapp neun Millionen Einwohner hat?“
Sie schüttelte den Kopf, doch im selben Moment wurde ihr klar, was das hieß. „Dann ist Schweden zwanzig mal dünner besiedelt.“
Wieder sein knappes Nicken. „Und über Drei Viertel wohnen in der unteren Hälfte des Landes.“
Jetzt musste sie doch ungewollt schlucken. „Wow, das ist ein beeindruckender Gedanke. So habe ich das noch nie gesehen. Allmählich bekommt unsere Odyssee wohl doch noch einen Hauch von Abenteuer.“
„Als ob du ständig wie in einem Roadmovie leben würdest! Wenn dich unsere bisherigen Erlebnisse noch nicht beeindruckt haben, dass weiß ich echt nicht, was überhaupt noch“, empörte er sich, wenn auch mit einem schelmischen Lächeln.
„Könnt ihr mal ein wenig leiser sein, bitte? Hier sind auch noch Menschen, die schlafen wollen“, beschwerte sich Natasha vom Beifahrersitz aus.
„Ja, ja“, meinte Bernd vieldeutig und fügte leise hinzu: „Wildnis. So habe ich das noch nicht betrachtet. Aber eigentlich gar nicht so schlecht. Ich mag die freie Natur.“
Sie schüttelte den Kopf. „Das ist keine Erste-Mai-Wanderung durch den Kaiserstuhl, mein Lieber. Das hier ist richtig ursprüngliche, unberührte, gottverlassene Wildnis. Die Art von Wald, in die du mal vom Rastplatz zum Pinkeln hineinstiefeln und nie mehr auftauchen könntest.“
Er lachte leise. „Jetzt bin ich tief beeindruckt.“
„Genau das war auch der Sinn der Sache.“ Lächelnd sah sie zum Fenster hinaus und beobachtete den vorbeirauschenden Wald. Auch er hatte sich grundlegend verändert, als hätten sie noch eine weitere Grenze überquert, als sie die großen Binnenseen hinter sich gelassen hatten. Der romantische, relativ lichte Mischwald war einem tiefen, hochstämmigen Nadelwald gewichen, wie er in den borealen Klimazonen typisch war.
Der letzte Teil ihrer großen Reise hatte begonnen. Sie waren nun auf einer der noch wenigen verbliebenen Straßen für den Fernverkehr unterwegs, da es hier kein ausreichendes Netz an Neben- und Verbindungswegen mehr gab. Mit beständiger Geschwindigkeit fuhren sie in nördlicher Richtung dem Sonnenuntergang entgegen, der sich schon seit zwei Stunden dahinzog. Bald waren sämtliche menschliche Insassen eingeschlummert und wurden von den Terminatoren im Zwielicht der subpolaren Mittsommernacht zuverlässig und sanft durch die schwedischen Regionen Värmland, Dalarna und Härjedalen chauffiert.





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Östersund, Jämtland, Schweden                                   9. Juli 2004

Sie schliefen tief und fest, als ihre Fahrzeuge vor einer Tankstelle am Stadtrand vorfuhren, die durchgehend geöffnet hatte. Umso größer war demnach das Gemurre, als sie mehr oder weniger resolut von ihren kybernetischen Fahrern geweckt wurden.
Shin rieb sich verschlafen die Augen und schwang seine Beine aus dem Wagen, während er fragte: „Warum lasst ihr uns nicht einfach schlafen?“
„Weil wir hier in der Gegend nicht besonders viele Gelegenheiten zum Rasten haben. Die Tankstellen, vor allem jene der großen Konzernketten, sind viel besser ausgestattet als in Deutschland, da es so weit nördlich eben auch keine Autobahnen und damit keine Raststätten im eigentlichen Sinn gibt. Deren infrastrukturelle Aufgaben werden deshalb zum Teil von den Tankstellen übernommen. Wir...“
„Schon gut, Alex, ich hab’s kapiert. Ich bin schon auf dem Weg.“ Anhaltend gähnend stand er auf und schlang fröstelnd seine Arme um sich. Wegen des leichten Morgendunstes war die tiefstehende Sonne hier nicht sichtbar, sodass es empfindlich kühl war. Während er an mehreren Zapfsäulen vorbeitrottete und im Augenwinkel den dichten Tannenwald musterte, der sie zu allen Seiten umgab, regte sich auch in den anderen Wagen allmählich Leben.
Natasha blinzelte beim Aussteigen und deutete nach oben. „He, Abbey, was ist denn das für eine Marke? Q8?“
„Diese Firma beliefert eine ganze Reihe von Ländern mit Erdölprodukten wie Benzin und Diesel. Ich geb’ dir einen Tip: Sprich es mal auf Englisch aus.“
Natashas ansonsten völlig glatte Stirn zog sich in kleine Falten, dann erhellte sich ihr Gesicht: „Ah, alles klar. Nettes Wortspiel. Kuwait.“
Shin betrat als erster den großzügig verglasten Shopbereich, murmelte dem jungen, übermüdeten Kassierer ein leises „Hey!“ zu und suchte sogleich die Toiletten auf. Der blonde sommersprossige Junge erwachte aus seiner Lethargie, als innerhalb der nächsten Minuten noch weitere zehn junge Leute, darunter auch einige hübsche Mädchen, seinen Posten passieren. Er konnte sein Glück kaum fassen, als die seiner Meinung nach attraktivste von ihnen, eine hochgewachsene Rothaarige, zu ihm an den Tresen trat und für alle drei Zapfsäulen bezahlte. Sie sprach ihn auf Englisch an, sodass er leider mit ihr keinen small-talk betreiben konnte, da seine Kenntnisse nicht so weit reichten. Dass sie perfekt Schwedisch sprechen konnte, konnte er nicht wissen.
Offenbar eine Touristengruppe auf Gewaltmarsch nach Lappland, wenn man bedachte, dass sie die Nacht durch gefahren sein mussten, dachte er und verfolgte Abbey mit seinen Blicken, als sie ging.
Als sich alle erleichtert hatten, kauften sie sich noch einiges an frisch angelieferten Backwaren, deren Grundgeschmack sich allerdings als höchst gewöhnungsbedürftig für ihren Gusto herausstellte. Ohne sich lange hier aufzuhalten, kehrten sie gleich zu den Autos zurück, um ihre Reise fortzusetzen.
Beim Einsteigen hörten sie den schrillen, langgezogenen Pfiff einer Lokomotive durch die Wälder hallen, worauf es Simon prompt entfuhr: „Hey, hier gibt es eine Eisenbahn!“
„Ja, eine der wenigen im Landesinneren“, erklärte Daniel. „Wir sind kurz vor Östersund am Storsjön, das heißt ‚Großer See’. Hier ist so eine Art Verkehrsknotenpunkt, bevor es wieder auf dem Inlandsvägen weiter nach Norden geht.“
„Was für ein Weg?“ wollte Natasha wissen.
„Inlandsvägen, das ist der Name dieser Route, der westlichsten Möglichkeit, im Landesinneren nach Norden zu gelangen. Die Schweden haben einigen ihrer größeren Strassen Namen gegeben, nicht nur Nummern.“
„Sei’s drum.“ Shin ließ sich ins Innere des Fonds fallen und begann, beim Essen seines belegten Brötchens die Rückbank voll zu krümeln.
Da die meisten noch zu müde für die nächste allgemeine Lehrstunde über Schweden waren, begnügten sie sich mit dieser Erklärung und bemannten die Autos wieder. Es ging weiter auf ihrem Weg nach Lappland.
Karin konnte nach dieser Unterbrechung nicht mehr einschlafen. Sie hatte sich noch immer nicht daran gewöhnt, dass es hier fast immer hell war. Je weiter sie nach Norden kamen, desto
stärker wurden die Auswirkungen. Sie waren jetzt bestimmt nicht mehr sehr weit vom Polarkreis entfernt und hatten erst vor knapp zwei Wochen den längsten Tag des Jahres, die Sommersonnenwende, gehabt.
Als ihr Kopf langsam seitwärts rollte, kam Bernd in ihr Blickfeld, dessen Augen auch nur halbwegs geschlossen waren. Sie sah ihn an und musterte sein Profil, bis sie nicht mehr an sich halten konnte und eine Träne über ihre Wange rollte. Wenn sie bislang nicht an Schicksal oder Vorhersehung geglaubt hatte, so war ihr diese Realität vor einem Tag mit unglaublicher Klarheit direkt ins Gesicht geschlagen worden, brutal und schonungslos. Auf der Waldlichtung, als Natasha mit ihrer wundersamen Beobachtungsgabe an den kleinen vorhandenen Unterschieden zwischen ihnen überzeugend widerlegt hatte, dass Bernd die natürliche Vorlage für Daniels Tarnhülle war, war ihr in einem Moment der grauenhaften Erkenntnis klargeworden, dass die Wahrheit noch schrecklicher war als die Befürchtung, Bernd könnte schon in naher Zukunft von Skynet gefangen und als Schablone für künftige Terminatoren missbraucht werden.
Sie konnte sich zwar nicht absolut sicher sein, aber wenn sie ihn so ansah, wurde es ihr klar, dass sie ihrem Schicksal nicht würde entrinnen können. sie spürte bereits, wie sich die Teile des Puzzles langsam, aber unaufhaltsam zusammenfügten, wie eine Naturgewalt, der menschliche Regungen gleichgültig sind. Sie hatte offenbar ein Schicksal zu erfüllen und begann dieses bereits jetzt zu hassen, aber konnte andererseits nicht dagegen ankämpfen. Das war fast schon schizophren, dachte sie bei dem Aufwallen dieser widersprüchlichen Emotionen und ihrer Unfähigkeit, diese zu kontrollieren.
Und als er in diesem Moment seinen Kopf hob und sie ansah, spürte sie beinahe schmerzhaft deutlich, wie es geschah.
Er sah sie an und etwas in ihr machte ‚Klick’. Als er sie schwach, nur andeutungsweise anlächelte, war die Grenze überschritten und es gab kein Zurück mehr.
‚Denk daran,’ schalt sie sich selbst in Gedanken, ‚du bist nicht auf der Liste ihrer zu schützenden Personen. Du bist nur zufällig dabei, wegen deines Vorwissens über Terminatoren bist du keine Unbeteiligte.’
„Woran denkst du gerade?“ wollte er wissen, worauf sie am liebsten schallend gelacht hätte angesichts der Klischeehaftigkeit des Momentes.
Stattdessen griff sie automatisch ihren letzten Gedanken auf, den sie vor diesem schicksalhaften Augenblick der Erkenntnis gehabt hatte. Ohne es zu wollen, musste sie sein kleines, aber warmes Lächeln erwidern. „Dass ich mich immer noch nicht an die Polarnacht gewöhnt habe. Ich kann nicht mehr schlafen, wenn es so hell ist.“
„Ich weiß genau, was du meinst.“ Er reckte sich ein wenig, soweit das auf der Rückbank des kleinen Volvos möglich war. Dann sah er eine Weile hinaus und sagte, ohne zu ihr hin zu sehen: „Sieh dir nur die Wälder an! Ist das nicht phantastisch?“
„Die Gegend hier ist bergiger als im Süden, ja. Die totale Wildnis.“
„Es gefällt mir so gut hier... ich könnte mir vorstellen, hier zu leben.“ In seiner Stimme schwang inbrünstige Überzeugung mit.
„Warte erst mal ab, wie es hinterher aussieht. Nachdem die Bomben gefallen sind, werden die meisten Wälder der nördlichen Hemisphäre unweigerlich und vollständig abbrennen.“ Sie sah nun ihrerseits hinaus, so dass sie nur aus dem Augenwinkel sah, wie sein Kopf herumfuhr.
„Warum bist du so?“
„Was meinst du? Gemein?“ Ihre Stimme troff vor Hohn.
„Negativ“, korrigierte er sie leise und enttäuscht.
Sie fuhr ihrerseits herum, zornig auf ihn und sich selbst. „Realistisch, wolltest du wohl sagen.“
„Nein. Ich finde es sehr traurig, dass du so eingestellt bist. Man könnte meinen, du hast jetzt schon sämtliche Hoffnung fahren lassen und wartest nur noch auf das Ende. Es muss aber nicht zwangsläufig das Ende sein. Sicher, es bricht ein dunkles Zeitalter an, dessen bin ich mir auch bewusst, aber wir haben eine Aufgabe zu erfüllen, wir haben einen Platz in dieser Welt.“
Sie senkte den Blick und wisperte kaum hörbar: „Ihr anderen vielleicht. Für mich war kein Platz in dieser großen Prophezeiung, schon vergessen?“
Unvermittelt senkte sich Schweigen über sie beide, da er nicht wusste, was er darauf erwidern sollte. Sie starrte wieder hinaus auf die Wand an Bäumen, die verschwommen an ihrem Fenster vorbeizog und deutlich wahrnehmbar niedriger wurde, als die Stunden vergingen und sie immer weiter nach Norden in raueres und kühleres Klima vordrangen und die Straße in zunehmend bergiges Gelände hinaufführte. Eigentlich konnten sie noch nicht sehr hoch sein, ein paar hundert Meter über dem Meeresspiegel höchstens, doch auf den Bergen im Westen waren deutliche Schneekuppen zu erkennen. Ihr fiel wieder ein, was Abbey ihr gestern über die klimatischen Verhältnisse in Skandinavien erzählt hatte: 300 Höhenmeter in diesen Breitengraden entsprachen über 800 Metern in den Alpen.
Karin fiel auf, dass die Eisenbahnlinie ständig in der Nähe der Straße verlief, manchmal unmittelbar neben ihnen, manchmal bestimmt einige Kilometer entfernt und durch die dichten, naturbelassenen Wälder vom Inlandsvägen getrennt. In unregelmäßigen Abständen, dort wo die Streckenführung es gebot, querten sie die Bahntrasse auf einer Brücke oder durch eine Unterführung. Und wann immer sie einen der zahlreichen Flüsse überfuhren, manche sanft vor sich hinfließend in einem Bett, das viel zu breit für ihre derzeitige Wassermenge war, aber die meisten wild schäumend und spektakulär rauschend, konnte sie in einiger Entfernung eine Eisenbahnbrücke ausmachen.
Je länger sie darüber nachdachte, desto mehr Sinn machte es. Hier oben, wo es nichts gab außer der Straße und der Bahnlinie, konnte es im Winter vielleicht lebensentscheidend sein, wenn einer der beiden Verkehrswege durch Schneewehen oder umstürzende Bäume und ähnlichem unpassierbar wurde, auf einem anderen Weg rasch Hilfe holen und die Leute weiter transportieren zu können, die bei den hier auftretenden Temperaturen  feststecken mochten. Deshalb waren bestimmt auch die Bahn- und Straßenbrücken über die Flüsse räumlich voneinander getrennt, damit nicht beide auf einmal von einem auftretenden Schaden betroffen sein konnten.
Irgendwie befriedigte sie die Tatsache, dass auch sie dieses Auge für Details entwickelte oder bereits besaß, das die Grundvoraussetzung für strategisches Denken darstellte. Wer weiß, vielleicht war sie doch gar nicht so unnütz für die Gruppe, wie sie bisher angenommen hatte. Vielleicht konnte sie sich ihren Platz in der Geschichte selbst erarbeiten, auch wenn ursprünglich keiner für sie vorgesehen gewesen war. Schließlich veränderten sie alle in diesem Moment die Geschichte, als sie sich durch dieses Land bewegten, auf der Flucht vor dem Tag des Schreckens und an einem geheimen Ort Zuflucht suchend vor ihren Verfolgern, welche sie aus den Geschichtsbüchern ausradieren wollten.
Diese Gedanken ermutigten sie soweit, dass sie sich sogar bei Bernd entschuldigte und einräumte, dass er mit seiner Einstellung nicht unbedingt falsch läge. Es kostete sie reichlich Überwindung, doch der Anblick seiner Miene war ihr Belohnung genug. Sie hatte aus Eigeninitiative einen Riss gekittet, den sie in ihrer Beziehung aufgerissen hatte, etwas worin sie sehr gut war. Dass sie jetzt nach so langer Zeit auch lernen konnte und wollte, das wieder gutzumachen, was sie mit ihrem vorlauten Mundwerk anzurichten pflegte, war für sie persönlich ein Riesenfortschritt.



Bei Vilhelmina, Västerbotten, Schweden                              9. Juli 2004

Im zweiten Wagen war Dimitri der erste, der nach ihrem Tankstopp vor gut drei Stunden wieder wach war. Der Morgennebel zwischen all den Flüssen und Seen, die sie passiert hatten, wich langsam der tiefstehenden Morgensonne. Nach einem Blick über seine Schulter, um sich zu vergewissern, dass Ana und Caroline noch schliefen, fragte er Daniel, der neben ihm mit einer tiefdunklen Sonnenbrille auf der Nase in gleichmäßigem Fahrstil Kilometer um Kilometer abspulte, nur um irgendetwas zu sagen: „Ihr werdet wohl niemals müde, oder?“
„Nein, Schlaf ist ein menschliches Bedürfnis, das größtenteils für die Psyche vonnöten ist. Ich brauche keinen Schlaf, um mich zu regenerieren, dafür habe ich Energiesparmodi und Ruhezyklen wie jetzt, wenn ich mich nicht nennenswert bewege.“ Daniel blinkte und überholte einen riesigen Holzlaster, der vor ihnen aufgetaucht war.
„Was hast du denn die ganzen Nächte über getan, die du in der WG mit Simon und Karin gelebt hast?“
„Die meiste Zeit über habe ich im Internet gesurft und nach speziellen Daten Ausschau gehalten, die Skynet interessierten. Du musst wissen, dass durch den Krieg sehr viel an wichtigen Informationen verloren gegangen ist. Eine meiner sekundären Missionsziele war es auch, diese Lücken zu füllen. Ich habe beinahe die Hälfte meiner Speicherbanken mit diesen Informationen belegt. Das ist eine sehr große Menge an Daten, die ich aus allen möglichen Quellen besorgt habe.“ Ein weiterer Holztransporter voller Baumstämme tauchte vor ihnen in ihrem Sichtfeld auf und rückte näher, als sie allmählich aufholten.
„Auch geheime Daten?“ wollte Dimitri neugierig wissen.
„Vor allem geheime Daten“, bestätigte Daniel und wartete, dass Abbey ein Stück weit vor ihm als erste den LKW überholte. „Wenn man danach geht, was ich bis 1997 aus Datenbanken der US-Behörden herausgeholt habe, bin ich sicher der meistgesuchte Hacker der westlichen Welt.“
„Irre.“ Dimitri beobachtete, wie sie am Lastwagen vorbeizogen und bemerkte nebenbei: „Ich finde dieses schwedische System mit den Seitenstreifen genial. Warum gibt es das bei uns nicht auch?“
„Mach dir darüber keine Gedanken. In einem Land mit soviel Platz und ohne Autobahnen weit und breit ist das hier eine gute Lösung.“ Er wies mit der Hand über den rötlichen Fahrbahnbelag. Die Mitte ihrer sehr breiten Spur war mit einem durchgezogenen Streifen markiert, dafür war der rechte Fahrbahnrand mit Strichen markiert. Der Seitenstreifen indes war - ganz untypisch für Mitteleuropäer - über zwei Meter breit.
Dimitri ließ seinen Blick über die recht hügelige Landschaft schweifen, die von nicht mehr so dichtem, dafür aber stellenweise sumpfigem Nadelwald bedeckt war. Er entdeckte auch immer öfter kleinwüchsige Birken und Kiefern, die so weit nördlich offenbar nicht mehr gut gediehen. Dann erreichten sie den nächsten Holzlaster, der wie alle anderen bisher auch kurz rechts blinkte, bevor er soweit auf den Seitenstreifen fuhr, dass nur noch ein schmaler Streifen von ihm auf die Fahrbahn hinausragte. So konnten sie den langsameren Schwertransporter im Fahren bequem überholen, obwohl ihnen gerade ein anderer LKW entgegen kam.
„Eines interessiert mich aber noch: warum habt ihr ständig Sonnenbrillen auf?“ wollte Dimitri unvermittelt wissen.
„Wegen der Optik unserer Augen. Unsere Infrarot- und Restlichtsysteme sind zu empfindlich für direkte ungefilterte Sonnenstrahlung. In der Zukunft müssen wir uns darum keine Gedanken machen, weil kein direktes Sonnenlicht durch die Wolkendecke kommt, die über den Grossteil der nördlichen Hemisphäre kreist oder wir meistens nachts eingesetzt werden. An diesen Einsatzzweck hat Skynet leider nicht gedacht, als er unsere Serie konstruiert hat. Dummerweise scheint die Sonne hier oben rund um die Uhr und steht fast immer tief über dem Horizont.“ Er zuckte mit den Achseln und rückte die Brille zurecht.
„Und was hältst du so von dem VC 70?“ wurde der junge Deutschrusse nicht müde zu fragen.
„Ich weiss nicht...“ Daniel zögerte. „Es kann sein, dass wir ein Modell erwischt haben, dass nicht so optimal funktioniert. Den Nenndaten nach müsste die Beschleunigung und die Durchzugskraft etwas höher sein, als sie es tatsächlich ist. Ich habe beim letzten Volltanken auch einen um einen halben Liter höheren Verbrauch festgestellt, als es eigentlich der Fall sein sollte.“
„Ach, das kann an vielen Faktoren liegen. Die Reifenmarke und -größe, die Strecke, Gegenwind, Zuladung.“ Dimitri winkte gelangweilt ab.
„Das alles hatte ich extrapoliert. Mir kommt das Ansprech- und Fahrverhalten beinahe so vor, als ob wir überladen wären. Dabei habe ich sogar das hohe Gewicht des halben T-880 miteinbezogen, der bei uns im Kofferraum liegt. Wir müssten knapp unter der zulässigen Grenze von 479 kg Zuladung liegen, der Wagen fährt sich aber so, als sei er schwerer.“
„Können wir ihn denn am Zielort eintauschen? Gegen Autos mit norwegischen Kennzeichen, meine ich.“
Daniel nickte. „Je länger ich darüber nachdenke, desto wichtiger erscheint mir das. Wir sollten uns schließlich bedeckt halten, was nach dem großen Knall schwer wird, wenn wir mit Autos herumfahren, die keine ortsansässige Kennzeichen tragen.“
„Und wir sollten drei gleiche Fahrzeuge mit gleicher Farbe nehmen. Dann kann niemand der Nachbarn je genau sagen, wer von uns vorbeigefahren ist und wie viele von uns gerade unterwegs sind.“
Daniels Kopf drehte sich herum. Mit einem Ausdruck, der fast erstaunt klang, sagte er: „Das ist genial, Dimitri. Und ich war schon geneigt, deinen Namen mit ‚Dim’ abzukürzen!“
„Das kapier’ ich jetzt nicht“, gab sein Beifahrer darauf zu.
„Das ist englisch für ‚nicht allzu schlau’, aber das hat sich ja jetzt erledigt“, beeilte er sich beim Anblick von Dimitris finsterem Blick hinzuzufügen.



Bei Sorsele, Västerbotten, Schweden                                   9. Juli 2004

Im großen Geländewagen XC 90, der das Schlusslicht ihres kleinen Konvois bildete, waren alle wach, dösten aber schweigend vor sich hin. Nur Shin, der vorne neben Alex saß, unterhielt sich leise mit ihrem vierschrötigen Fahrer.
„Was glaubst du, wie lange wir noch fahren werden?“
„Mindestens einen Tag noch, würde ich sagen. Wir müssen ja auch ab und zu tanken und rasten. Schließlich sollt ihr es nicht zu strapaziös haben und eine warme Mahlzeit am Tag soll für euch nicht schon jetzt zum Luxus werden.“
Darauf schluckte Shin und hakte dann nach: „Glaubst du, es wird sehr hart werden?“
„Mit absoluter Sicherheit. Wobei die Anfangsphase noch die einfachste sein wird, solange wir im Safehouse ausharren werden. Nervlich wird es zwar für euch sehr schwer werden, aber materiell sollte es euch an nichts fehlen, wenn meine Informationen korrekt sind.“
„Was wisst ihr denn genau über unser Safehouse?“
„Der T-X hat uns detaillierte Files über das Haus überlassen. Ich möchte aber nicht zu weit ausholen und dich mit irrelevanten Einzelheiten langweilen.“ Alex sah zu seinem Schützling hinüber.
„Nun, wir haben gerade etwas Zeit, wenn ich mich nicht irre. Ich bin nicht allzu ausgefüllt davon, stundenlang Krüppelkiefern an mir vorbeiziehen zu lassen.“ Der junge Asiate grinste ihn schief an.
„Also gut, womit soll ich anfangen...?“
Auf der Rückbank hingegen konnten Simon, Silke in der Mitte der Rückbank und Aishe auf der rechten Seite akustisch nichts von Gespräch vorne verstehen.
Simon und Silke hatten auch genug mit sich selbst zu tun, was Aishe im Lauf der Zeit auf die Nerven ging, bis sie Silke schließlich auf die Schulter tippte, worauf diese von Simon abließ. „Ja?“
„Wollt ihr euch nicht ein Zimmer nehmen?“
Silke grinste sie breit an. „Weißt du, vielleicht tun wir das ja bald.“
Simon lachte leise, worauf sich Aishe eingeschnappt abwandte.
„Du bist doch nur neidisch, weil du und Shin nicht nebeneinander sitzt, oder?“
Silke fügte noch hinzu: „Was findest du eigentlich an dem kleinen Gangster?“
Aishe fuhr herum und zischte sie an: „He, was gibt dir das Recht, so über ihn zu reden? Zum einen kennst du ihn kaum, und zum anderen sollten wir eine Gruppe werden. Ist es das, was du unter Zusammenhalt verstehst?“
Betreten starrte die junge hochgewachsene Schweizerin darauf zu Boden. „Tut mir leid, so war das doch nicht gemeint. Ich habe nur Spaß gemacht; natürlich ist mir auch wichtig, dass wir eine Einheit bilden, aber was erwartest du? Wir können nicht immer eitel Sonnenschein haben, oder?“
„So jedenfalls nicht.“ Die zierliche Türkin knuffte sie auf den Oberarm und verschränkte dann die Hände über der Brust.
Simon schaltete sich ein: „Ich finde es bewundernswert, was du da tust. Du scheinst so etwas wie die gute Seele in unserer Gruppe zu werden. Du setzt dich immer dafür ein, dass wir uns alle vertragen und es keinen Zwist in der Gruppe gibt. Von mir aus kannst du ruhig so weiter machen. Behalte vor allem die junge Dame im ersten Wagen im Auge, wenn du verstehst was ich meine.“
„Klar.“ Aishes Lächeln verschwand. „Und jetzt nehmt euch ein Zimmer.“
Alle im Fond lachten, worauf die erste Sitzreihe auf sie aufmerksam wurde. Auf Alex’ fragenden Blick hin bemerkte Simon: „Aishe wird etwas... unruhig. Wir sollten vielleicht bald einen Platztausch vornehmen.“



Arvidsjaur, Norrbotten, Schweden                                   9. Juli 2004

Um der zunehmenden Unruhe in der Gruppe gegen Mittag Rechnung zu tragen, wählten sie die erste Gelegenheit, die sich ihnen im kleinen Ort Arvidsjaur bot, um einzukehren. Auf die Frage nach dem Rest der Wegstrecke stöhnten alle geschlossen auf, als sie erfuhren, es seien immer noch über neunhundert Kilometer bis zum Safehouse. Ernüchtert speisten sie danach im kleinen Restaurant, das zu einem Hotel gehörte, um sich bald darauf wieder auf den Weg zu machen.
Den Nachmittag über konnten sie weiterhin beobachten, wie die Baumhöhe stetig abnahm, während sie immer nördlichere Regionen vorstießen. Es mischten sich auch zunehmend ausgedehntere Hochmoore und Heidegebiete zwischen die jetzt lichten Wälder. Anderthalb Stunden nach ihrer Mittagsrast überquerten sie den Polarkreis und traten in die Arktis ein. Auf der hier von Schlaglöchern übersäten Fahrbahn des Inlandvägen, die etwa alle zwanzig Kilometer von großen Bauarbeitertrupps in großem Stil völlig abgetragen und neu geteert wurde, begegneten ihnen immer seltener andere Autos. Interessanterweise waren viele davon Touristen, die mit Wohnwagengespannen, -mobilen oder auch einfach mit ihrem PKW in Lapplands Gefilden  unterwegs waren. Sie trafen auch auf manch deutschen Automobilisten, der sie jedoch nicht bewusst wahrnahm, da sie mit schwedischen Kennzeichen unterwegs waren.
Sie durchquerten das riesige menschenarme Gebiet Västerbottens und Norrbottens, die gemeinsam Lappland bilden, an einem Tag und kamen am späten Nachmittag an der finnischen Grenze an. Um das „perfekte Verbrechen“ beim Grenzübertritt zu begehen, folgten sie dem Verlauf des kleinen seichten Grenzflüsschens Muonioälven über fünfzig Kilometer weit flussabwärts nach Südosten und damit weg von ihrem Ziel in Norwegen, bis sie direkt von der Straße hinab durch eine Furt nach Schweden hinüber fahren konnten. Der kleinste Volvo, der V50, blieb dabei im seichten, steinigen Flussbett hängen und musste von Daniel im nachfolgenden XC 70 sanft, aber bestimmt angeschoben werden, damit er wieder freikam. Auf finnischer Seite führte ebenfalls unweit des Flusses eine Straße entlang. Auf dieser kehrten sie dann zurück in Richtung Nordwesten und folgten dem Straßenverlauf bis zu einem kristallklaren Bergsee in der fast vegetationslosen Bergtundra an der Grenze zu Norwegen.
Der Grenzposten war erfreulicherweise unbesetzt, als sie mitten in der Nacht bei strahlendem Sonnenschein auf norwegischen Boden fuhren. Das schwerste war damit geschafft. Sie passierten einen weiteren, klaren See und einen kleinen Bach, der von ihm aus durch ein enges, aber fast schnurgerade verlaufendes Tal in Richtung Nordmeer führte. Natasha schlief tief und fest auf dem Beifahrersitz und auch Karin döste schon halbwegs, als sie neben sich wiederholt Bewegung wahrnahm.
Als sie sich nach Bernd umsah, entdeckte sie, dass er sich nach vorne gebeugt hatte und sich vorsichtig Natashas fast hüftlanges Haar, welches lose hinter ihr auf ihrer Rückenlehne gelegen hatte, gegriffen hatte. Vorsichtig, um sie nicht zu wecken, flocht er ihr einen Zopf.
„Was glaubst du, was du da tust?“ fuhr Karin ihn leise an.
Er zuckte leicht zusammen, als er sich ertappt fühlte, doch dann antwortete er nur lapidar, ohne sie anzusehen oder seine Arbeit zu unterbrechen: „Wonach sieht’s denn aus? Ich flechte.“
„Während Natasha schläft? Glaubst du, sie merkt nicht, dass sie vorhin noch keinen Zopf hatte? Lass den Scheiß lieber.“
„Warum? Ein wenig Verwirrung kann nicht schaden, das schärft die Sinne und die Denkfähigkeit. Lass sie ruhig ein wenig grübeln, ob sie sich in ihrer Erinnerung täuscht oder nicht.“ Er grinste sie spitzbübisch an und beendete sein Werk, welches er zufrieden begutachtete.
„Ich weiß wirklich nicht, was so eine plumpe Anmache bewirken soll“, fuhr Karin unerbittlich fort, hatte damit allerdings einen Nerv bei ihm getroffen. Er fuhr herum und sah sie zornig an.
„Was für eine Anmache? Erzähl bloß keinen Mist! Das hier ist Lichtjahre von jeglicher Form der Anmache entfernt. Natasha und ich, dieser Gedanke ist so abwegig, dass ihn nur...“ Er hielt inne und grinste plötzlich breit.
„Was?“ fragte sie verstört, mit einem unguten Gefühl im Magen.
„Dass ihn nur eine eifersüchtige Frau haben könnte. Wer hätte das gedacht!“
„Was für ein Humbug! Du bist wohl komplett größenwahnsinnig geworden. Ich würde dich nicht mal mit der Greifzange anpacken, damit du’s nur weißt. Ich versuche lediglich, Natasha vor deinen spätpubertären Avancen zu schützen, schließlich hat sie erst vor einer Woche ihren Freund verloren, mit dem sie sogar schon zusammen gelebt hat. So was verdaut man nicht über Nacht.“ Ihre Rechtfertigung kam etwas heftiger, als sie beabsichtigt hatte, verfehlte aber dennoch nicht ihre Wirkung.
„Sorry, daran hab ich natürlich nicht gedacht. Wenn es ihr dabei hilft, ihren Seelenschmerz zu verarbeiten, halte ich selbstverständlich weiterhin mit Freuden als ihr verbaler Punchingball her. Nur drauf, er schluckt ja schön alles.“ Mit Bitterkeit in der Stimme warf er ihr das an den Kopf und wandte sich seinem Fenster zu, um sie nicht mehr ansehen zu müssen.
Sie waren inzwischen reichlich laut geworden, doch noch schien niemand auf der Vorderbank von ihrem Disput Kenntnis zu nehmen. Leider wusste Karin es besser, denn ein Gespräch in dieser Lautstärke konnte Abbey mit ihren empfindlichen Sensoren unmöglich überhört haben. Sie wunderte sich beinahe, dass sie noch nicht schlichtend eingegriffen hatte.
Vielleicht jetzt, dachte sie, als sie sich zu ihm hinüber beugte und ihn an der Schulter packte, um ihn zu sich zu drehen, damit er ihr wieder seine Aufmerksamkeit schenken musste. „Du bist voll unfair ihr gegenüber. Sie kann nichts dafür dass sie so direkt ist; meistens meint sie es auch gar nicht so, wie sie es sagt, wenn sie dir einen Schuss vor den Bug knallt. Es kann eben nicht jeder so diplomatisch veranlagt sein wie du oder ich.“
„Du?“ Seine Augen traten ein wenig aus seinen Höhlen, als er schnappte: „Seit wann weißt du, was Diplomatie ist? Du bist...“
Sie legte ihm den Zeigefinger sanft auf die Lippen, worauf er wie vom Donner gerührt mitten in seiner Tirade verstummte. Sie nahm den Finger wieder weg, indem sie schwach lächelte und selbstzufrieden meinte: „Siehst du?“
„Was... was war das?“ wollte er verdattert wissen.
„Mir war klar, da du noch keine Erfahrungen mit Frauen hast, reagierst du stärker auf körperlichen Kontakt. Rein diplomatisch gedacht, um dich zu beschwichtigen.“
Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. „Na toll! Du spielst mit mir, nutzt diese Tatsache aus und hast den Nerv, mir das auch noch auf die Nase zu binden. Soll ich dir mal was sagen: du bist noch schlimmer als Natasha. Da krieg ich lieber direkt mein Fett weg als das!“
Er drehte sich wieder weg von ihr und murmelte noch zwischen zusammen gebissenen Zähnen hindurch: „Und fass mich bloß nicht noch mal an!“
Karins Augen füllten sich darauf mit Tränen, doch sie schluckte hart und setzte sich stolz und aufrecht auf ihre Seite zurück, um sich ihrerseits von ihm fort zu wenden. Diese Genugtuung würde sie ihm nicht gönnen, wegen ihm auch nur eine einzige Träne mehr zu vergießen, darauf würde er lange warten können.
Abbeys Blick im Rückspiegel bemerkte sie nicht.



Insel Andørja, Troms Fylke, Norwegen                              10. Juli 2004

Karin erwachte beim hellen Sonnenschein, der unvermittelt auf ihr Gesicht fiel. Sie blinzelte und erblickte jenseits der Leitplanke gegenüber eine weite Wasserfläche, die am anderen Ufer in etwa zwei bis drei Kilometer Entfernung von einer felsigen Bergkette, deren unterste zweihundert Meter dicht bewaldet waren, gesäumt wurde. Sicher wieder ein See, dachte sie, doch dann erblickte sie ein Fischerboot, das an ihnen vorbeifuhr und überdachte ihre Annahme nochmals.
Sie rieb ihre Augen und reckte sich, während sie Abbey fragte: „Wo sind wir hier, Abbey?“
„Dies ist die Insel Andørja. Neben uns siehst du den Astafjorden und am anderen Ufer das norwegische Festland des Tromslandes. Wir sind beinahe am Ziel.“
„Wir sind auf einer Insel? Wie sind wir denn hierher gekommen?“ fragte sie und bemerkte, dass Natasha sich ebenfalls regte, gähnte und sich streckte, sofern die beengten Platzverhältnisse auf ihrem Sitz das zuließen.
„Mittels einer netten Hängebrücke, die den Kilometer Entfernung zwischen dem Land und der Insel überbrückt. Wir müssen nur noch auf die Nachbarinsel fahren, dann sind wir fast schon da“, führte Abbey in gewohnter Fremdenführermanier aus.
„Hängebrücke? Was für eine Hängebrücke?“ wollte Natasha wissen, die mittlerweile wach genug war, um an der Unterhaltung teilzunehmen.
„Norwegen ist das Land der Hängebrücken, daran könnt ihr euch schon einmal gewöhnen. Da das gesamte Fjordland durch Gletscherabtragungen in der letzten Eiszeit entstanden ist, sind sämtliche Meeresbuchten und auch die engen Fjorde sehr tief, da sie wie mit einem Hobel vom bergab laufenden Eis aus der Landschaft abgetragen wurden. Die einzige vernünftige Möglichkeit, solch eine Meerenge zu überwinden, ist eine Hängebrücke, da man durch deren Bauweise in Ufernähe die Trägerpylone in relativ flachem Wasser postieren kann und der Brückenbogen so die tiefe Stelle in der Mitte überspannt. Es...“
„Ja, schon gut, ich weiß, was eine Hängebrücke ist“, unterbrach Natasha sie unwirsch.
„Du erstaunst mich immer wieder“, war Abbeys schmunzelnd vorgetragene Antwort, worauf ihre Beifahrerin verstimmt schwieg.
Nach wenigen Minuten Fahrt fuhren sie an einer Zahlstelle vor, wo Abbey an einem Mauthäuschen einem jungen Mann einige abgezählte Münzen in die Hand drückte, worauf sie durchgewinkt wurden und in einen Tunnel einfuhren. Zur Überraschung der Insassen ging es stetig bergab, während sie durch die nur schwach rötlich beleuchtete Röhre pfeilgerade in unbekannte Tiefen fuhren. Karin sah nach vorne hinaus und sagte: „Man könnte fast meinen... nein, so was gibt es doch nicht...“
„Doch, dieser Tunnel führt unter dem Meer hindurch auf die Nachbarinsel Rolla, unserem Ziel. Siehst du, wir sind am Tiefpunkt angelangt.“ Abbey wies nach vorne, wo die Fahrbahn eben wurde und gleich darauf steil anstieg.
„Wie können sie sich das nur leisten?“ fragte sich Karin.
„Wie ihr gesehen habt durch eine geringe Mautgebühr, wie für alle teureren Brücken und Tunnel. Allerdings wird es Jahrzehnte dauern, bis die Kosten für solche Bauwerke bei diesen günstigen Nutzungsgebühren wieder eingeholt worden sind. Der norwegische Staat verfügt aufgrund der umfangreichen Erdöl- und –gasvorkommen in der Nordsee über die finanziellen Mittel, um solche Verkehrsvorhaben für seine Bevölkerung umzusetzen. Im Klartext heißt das, Norwegen ist stinkreich und gönnt sich das für seine Bewohner. Viele dünner besiedelten Gebiete müssen allerdings auch künftig mit dem hierzulande üblichen Kleinfährverkehr vorlieb nehmen. Im stark zerklüfteten Fjordland von Südwestnorwegen wird zur Zeit eine Verbindungsstrasse von Stavanger nach Bergen realisiert, was verkehrstechnisch als Jahrhundertprojekt in Europa anzusehen ist. Dagegen ist die Verbindung über die dänischen Inseln nach Schweden ein Klacks.“
Bernd richtete sich auf und streckte sich ebenfalls, wobei Karin ihn aus dem Augenwinkel beobachtete. Falls er es bemerkt hatte, ignorierte er sie jedenfalls und sah nach vorne auf die Uhr im Armaturenbrett. „Erst sechs Uhr früh? Mann, sind wir etwa die ganze Nacht durchgefahren?“
„Ja, wir sind gleich da“, informierte Abbey ihn mit einem milden Lächeln, worauf er ihr zunickte und nach hinten in die Tunnelröhre sah. Die anderen beiden Fahrzeuge ihres Konvois waren im gewohnten Abstand wie auf einer Perlenkette aufgereiht und folgte ihnen. Bernd winkte nach hinten und bekam tatsächlich ein kurzes Aufblitzen der Lichthupe von Daniel zur Antwort.
Er setzte sich wieder hin und sah bereits das Ende des Tunnels, worauf er geblendet die Augen schloss. Sofort hatte auch Abbey wieder ihre tiefrot gefärbte Sonnenbrille aufgesetzt, um vom Tageslicht nicht geblendet zu werden. Sobald sie im Freien waren, sahen sich alle drei Menschen im Auto neugierig um.
„Fantastisch!“ entfuhr es Bernd.
Sie fuhren direkt am Ufer der Südküste von Rolla entlang, zu ihrer Linken das klare dunkle Wasser des Astafjords. Rechts von ihnen erstreckte sich die Insel und bot einen grandiosen Ausblick. Direkt an der äußersten Ostspitze, wo der Tunnel ans Tageslicht trat, befand sich der einzige Ort Ibestad, der vielleicht achthundert Einwohner haben mochte. Die Häuser bildeten nur zu einem kleinen Teil einen festen Ortskern, der Rest war über die Landschaft in einem Umkreis verstreut. Ein Stück entfernt konnte man einen kleinen See ausmachen, hinter dem eine etwa fünf Kilometer lange Bergkette unvermittelt aus der ansonsten fast flachen Landschaft herausragte. Diese vom offenen Meer abgewandte Seite der Insel war bis auf etwa einhundert Meter Höhe dicht bewaldet, darüber erhoben sich bizarre, fast pechschwarze Felsmassive steil bis auf eintausend Meter und darüber hinaus, von denen die höchsten Gipfel selbst jetzt im Hochsommer noch schneebedeckt waren. Diese Landschaft wirkte extrem unwirklich und zugleich seltsam vertraut.
Bernd war der  erste, der aussprach, was alle dachten: „Ich fühle mich, als ob ich in einem Märchen gelandet bin. Wisst ihr, an was mich das hier erinnert?“
Karin sah ihn an und lächelte wehmütig. „Nicht nur dich und nicht nur seit jetzt. Ich habe dieses Gefühl schon seit mindestens einem Tag, seit wir durch Nordschweden und über das Gebirge nach Norwegen gefahren sind.“
Natasha flüsterte ehrfürchtig: „Ihr denkt auch an den ‚Herrn der Ringe’, stimmt’s? Ich meine, wer hat das Buch nicht gelesen und vor allem die Filme nicht gesehen? Und diese Gegend hier sieht fast so aus wie Mittelerde. Damit meine ich natürlich Neuseeland.“
„Immerhin sind beide Landschaften durch den Einfluss von Gletschern und Vulkanismus entstanden, das haben diese Regionen geologisch gemein. Und durch den Golfstrom, der diese Inselgruppen direkt anströmt, ist das Klimas hier, auch wenn wir uns so weit nördlich befinden, doch dem im Süden Neuseelands nicht unähnlich. Es gibt dort sogar Fjorde wie in Norwegen, müsst ihr wissen, und auch das Hauptgebirge heißt in Neuseeland wie auch in Skandinavien ‚Alpen’. Und, wie gefällt es euch hier?“ fragte Abbey arglos, als sie ihren Wagen aus dem kleinen Ort Ibestad hinaus pilotierte und der Strasse entlang der Südküste folgte.
„Machst du Witze? Ich komme mir vor wie im Zauberland!“ Karin konnte vor Begeisterung kaum an sich halten.
Sie legten einige Kilometer zurück und ließen die  Bergkette hinter sich, worauf sie Einblick ins Hinterland von Rolla erhielten und insgesamt vier kleine Weiler passierten, alle entlang der Küste gelegen. Das Innere der Insel erwies sich als fast topfeben, im entfernten Norden bedeckt von Grasland und am Fuße einer weiteren, kürzeren Bergkette am anderen Ende von einem weiten Streifen Wald auf der windgeschützten Ostseite der Berghänge über den größten Teil der Ebene. Des weiteren verteilten sich mindestens ein Dutzend im Morgenlicht glitzernder Seen willkürlich über die Mitte der Insel wie Schecken auf einem Kuhfell.
„Mir fehlen die Worte, so schön ist das“, bemerkte Bernd ehrfürchtig.
Kurz vor dem Erreichen der zweiten Bergkette bogen sie rechts ab und fuhren auf einem schmalen geteerten Weg landeinwärts. Der Weg war zwischen den dicht bewaldeten Felshang zu ihrer linken und einem langgezogenen See rechts von ihnen gequetscht und führte sie ans nördliche Ende der Formation aus dunklem Gestein. Dort machte die Straße einen kleinen Schlenker um die Berge herum und endete unvermittelt bei einem massigen Haus, das neu aussah und sehr kompakt und klotzig für seine Größe aussah, auch wenn es komplett aus Holz gefertigt schien. Das mochte an seinem landesuntypisch steilen und weit über die Gebäudeecken hinausragenden Dach liegen, dachte Karin, als sie das Haus erblickte. Es erinnerte sie sogar entfernt an ein Schwarzwaldhaus.
„Da wären wir. Hier ist das neue Safehouse, dem T-X nach exakt für unsere Bedürfnisse erbaut. Genau dort, wo wir es erwartet hatten. Ich bin schon gespannt, ob die Spezifikationen auch mit den Angaben übereinstimmen, die er uns gab.“ Selbst Abbey schien etwas aufgeregt zu sein, da dies hier ein Aspekt war, den sie nicht hatte planen oder voraussehen können.
Sie fuhr vor einen breiten Schuppen, der etwa zwanzig Meter neben dem Haus stand und sich als ausladend große Garage mit vier Toren entpuppte. Der weitläufige Vorplatz zwischen Schuppen und Haus war von Norden und Osten her vom dichten Mischwald umgeben, der dank des milden Golfstromklimas gedieh, im Süden ragte nur wenige Meter neben dem Haus der erste Ausläufer der Felsenkette mehrere hundert Meter empor und warf einen langen Schatten aufs Gelände. Westlich von ihnen sank der Boden knapp zehn Meter weit sanft ab und grenzte an einen steinigen Strand. Am Horizont war eine Küstenlinie mit ebenfalls felsigen Gebirgsketten schwach im Dunst auszumachen.
„Wow, jetzt geht der Urlaub richtig los“, bemerkte Natasha überschwänglich beim Aussteigen.
Dimitri, der aus dem zweiten Volvo stieg, korrigierte sie: „Du meinst wohl, das Trainingscamp.“
„Von dir lasse ich mir die Laune nicht vermiesen. Das Haus sieht doch toll aus, richtig urig.“
Shin kam vom dritten Wagen, der auch gerade gehalten hatte, herüber. „Mal sehen, wie es dir gefällt, wenn wir ein paar Wochen am Stück da drin festgesessen haben, ohne auch nur einen Fuß vor die Tür zu setzen.“
„Jetzt mal nur nicht den Teufel an die Wand“, beschwor Natasha ihn und holte sich ihre Tasche aus dem Kofferraum.
„Du hast wohl angesichts der traumhaften Landschaft bereits vergessen, weshalb wir da sind. Und denk ja nicht, wir sind ja hier am Ende der Welt, hier wird es schon nicht so schlimm werden. Das kann man nie wissen. Du weißt, dass Radioaktivität kein lokal begrenztes Phänomen ist.“
„Oh, vielen Dank für deine Ermunterung. Hier, schneide meine Pulsader auf.“ Sie hielt ihm die Unterseite ihres rechten Unterarmes unter die Nase und fuhr dann übergangslos mit dem Entladen fort.
„Ist sie nicht zauberhaft?“ raunte Dimitri, als er zum Gepäckraum des zweiten Autos ging.
„Herzallerliebst“, bestätigte Shin grinsend und begab sich seinerseits zum dritten Wagen, mit dem er mitgefahren war, um sein Gepäck zu holen.
Sie bemerkten, dass es vor dem Hauseingang einen kleinen Stau gab. Als Dimitri sich zu den anderen gesellte, fragte er arglos: „Was ist das Problem?“
„Es gibt einen kleinen Rückstau wegen der Schleuse“, informierte Bernd ihn und zuckte mit den Schultern. „Offenbar kann nur einer auf einmal zur Tür hinein.“
„Sehr umsichtig, eine Strahlenschleuse. Ich sehe schon, in diesem Haus steckt mehr, als man ihm ansieht.“ Der junge Russlanddeutsche klopfte gegen die weiß gestrichenen Holzbretter, mit denen die Außenwände getäfelt waren und horchte auf den Klang.
Daniel, der das Unterteil des auf Öland gefangen genommenen T-880 trug, erklärte: „Die Wand ist nur mit Holz verkleidet, um auf den ersten Blick kein Aufsehen zu erregen. Die Außenwände bestehen in Wirklichkeit aus 50 cm dickem Stahlbeton und sind innen nochmals mehrlagig isoliert. Zudem ist noch ein Gitter aus Kupferdraht darin verarbeitet, um einem eventuellen EMP vorzubeugen.“
Simon pfiff durch die Zähne: „Das bedeutet, dass bei einer Atomexplosion nicht sämtliche elektronische Schaltkreise durchbrennen, die sich im Haus befinden. Toll.“
„Der T-X hat offenbar an alles gedacht. Kaum zu glauben, dass er das alles hier selbst gebaut hat.“ Abbey trug einen Karton mit übrigem Reiseproviant zum Eingang, doch Caroline hakte nach.
„Wie meinst du das? Das ganze Haus?“
„Ja, er hat dieses gesamte Grundstück und das Umland gekauft, damit wir hier ungestört sind. Du musst wissen, dass es nur dreihundert Meter von hier, hinter diesen Bäumen dort, früher einmal eine Siedlung namens Hallevik gab. Das Fischerdorf wurde jedoch vor langer Zeit schon aufgegeben. Die Insel Rolla hat nämlich in etwa die Form eines rechtwinkligen Dreiecks, das auf seiner Spitze steht. Die lange Seite wird von der Westküste gebildet und ist völlig unbewohnt. Nur an den beiden nach Osten gewandten kürzeren ‚Seiten’ gibt es mehrere Dörfchen und den Ort Ibestadt an der Ostspitze. Wir befinden uns genau gegenüber dieser Seite in der Mitte der Westseite und somit am entlegensten Winkel der Insel.
Da der T-X nicht wollte, dass irgend jemand Wind von diesem ganz speziellen Baustil bekam, hat er alles gänzlich ohne fremde Hilfe erbaut, alle Materialien und Baugeräte selbst hierher geschafft und die ganze Arbeit alleine verrichtet. Das hat Jahre gedauert, wenn man bedenkt, dass man die Außenarbeiten wie Strom- und Wasserleitungen verlegen sowie das Betonieren höchstens vier bis fünf Monate im Jahr durchführen kann, solange es nicht schneit und friert. Er hat sogar einen kleinen Sturzbach angezapft, der von diesem über 900 Meter hohem Berg direkt neben uns in den Skipsvatnet, den See hinter dem Haus, fließt. Über spezielle Filtersysteme kann man sogar bis zu einem gewissen Grad radioaktiv belastetes Wasser damit säubern, wenn es nur verstrahlte Schwebeteile im Wasser sind, die vom Wind hierher getragen wurden.“
„Mit anderen Worten: wenn wir keinen direkten Volltreffer abbekommen, ist zumindest unsere Trinkwasserversorgung gewährleistet.“ Shin nickte zufrieden und betrat als nächster den Eingangsbereich, als sich die Außentür öffnete. Karin erhaschte einen kurzen Blick auf die Tür und stellte fest, dass sie mindestens zwanzig Zentimeter dick war und sehr schwer sein musste, so wie der kleine leichte Asiate sich dagegen stemmte, um sie zu bewegen.
„Und Strom ebenfalls“, fügte Daniel hinzu, „denn das ist der eigentliche Grund für das Anzapfen des Baches. In Norwegen ist es weit verbreitet, Wasserfälle und Sturzbäche zu kanalisieren und für die Stromversorgung zu nutzen. Tatsächlich ist das sogar die Hauptenergiequelle der Norweger, zusammen mit Gezeitenkraftwerken. Durch das große Gefälle hat das Wasser eine hohe Geschwindigkeit, weshalb es über eine Turbine geleitet wird, die einen Generator antreibt. Dieses Wasser wird dann, bevor es in den See läuft, noch für die Trinkwasserversorgung angezapft.“
„Das wird ja immer besser“, freute sich Silke
„Aber was hat das alles gekostet? Das muss ja Unsummen verschlungen haben!“ sagte Aishe und sah zum beinahe schwarzen, schroffen Berggipfel hinauf, doch von der erwähnten Anlage war von hier aus nichts zu sehen.
„Wenn du berücksichtigst, dass der Hauptfaktor, nämlich die Arbeit, in Eigenregie erledigt wurde und somit nur die reinen Materialkosten angefallen sind, kam das Ganze erstaunlich günstig. In Euro ausgedrückt, stellt das Haus mitsamt Schuppen und der besagten Infrastruktur einen Wert von achtzehn Millionen dar, natürlich ohne das Grundstück gerechnet.“ Damit nickte Daniel ihnen zu und betrat als nächster den Eingang, der wieder frei geworden war.
„Achtzehn Millionen? Mein lieber Scholli, wer hätte das gedacht?“ staunte Aishe. „Dabei sieht es wie ein ganz normales Haus aus, nur ein bisschen größer als sonst üblich.“
„Das soll es ja auch. Die ganze Holzfassade erfüllt ihrem Zweck, würde ich sagen. Es kommt darauf an, was darunter liegt“, fachsimpelte Dimitri.
„Und woher hat der T-X solche Unsummen Geld? Das hat er doch nicht alles mit seiner Karte am Bankautomaten heraus gelassen, oder?“ forschte Silke nach.
„Da spricht die Schweizerin aus dir, meine Liebe. Ich schätze, wenn man in den Fünfziger Jahren auftaucht, mit dem Wissen der Gegenwart, was die Entwicklung von Aktienkursen und dergleichen angeht, sollte es kein Problem sein, ein wenig Geld auf die Seite zu bringen.“
„Mann, das ist ja phantastisch! Wär’ mir im Traum nicht eingefallen.“
Den Rest von Dimitris Kommentar bekam sie nicht mehr mit, da sie nun an der Reihe war, mit ihrer Tasche über der Schulter die wuchtige Außentür nach innen zu drücken. Schon dabei musste sie ächzen vor Anstrengung; die Tür musste aus Metall bestehen, so schwer wie sie war. Ihr fielen an der Schmalseite mehrere Dichtungen auf, die sehr aufwendig gefertigt aussahen. Dann stand sie in einem engen Glaskasten von etwa einem Quadratmeter Ausmaß. Ihr gegenüber war eine Tür, ebenfalls aus Glas, fest verschlossen; über dem Metalleinsatz des Türklinkenbereichs leuchtete eine rote LED. Sie zog die Außentür zu und bemerkte gleichzeitig, dass sie auf einem fein geriffelten Gitter stand, welches die gesamte Bodenfläche einnahm. Unwillkürlich ging ihr Blick nach oben, wo sie eine Unzahl von kleinen Löchern in der Decke der Kammer aus blankem Metall entdeckte.
Einen Augenblick, nachdem die äußere Tür mit einem scharfen Klicken verschlossen worden war, wechselte die LED von rot auf grün und sie drückte die Klinke, worauf sich die Tür jedoch nicht bewegte. Erst jetzt sah sie anhand des Querschnittes am Boden, dass die Wände der Kammer und die Tür selbst aus drei Finger dickem Glas bestanden. Wahrscheinlich Panzerglas, dachte sie mit hochgezogenen Augenbrauen und drückte sich mit vollem Körpereinsatz gegen die Glastür. Nichts.
Bei Shins schadenfrohem Grinsen kam ihr ein Verdacht, worauf sie an der Tür zog, die prompt auf gutgeölten Angeln nach innen schwang. Aha.
„Willkommen in der Innenwelt“, begrüßte er sie grinsend.
„Küss mich.“
Er grinste noch breiter bei ihrem verärgerten Gesichtsausdruck. „Aber gerne.“
„Du weißt doch noch gar nicht, wo.“ Als er danach pikiert verstummte, dachte sie zufrieden <Ich kann es noch> und nutzte die Wartezeit, bis alle drinnen waren, um den nur schwach beleuchteten Flur des Hauses zu betrachten. Er war hier im vorderen Bereich auffällig breit, sehr lang und wie auch die Außenwände mit weiß gestrichenem Holz getäfelt. Zu jeder Seite gingen drei Türen ab, dann lief die linke Seite aus in einer Tür, während der Gang rechts sich auf die halbe Breite verengte und noch auf je eine weitere Tür nach rechts und nach hinten führte. Gleich rechts neben ihnen führte eine schmale Treppe entlang der Außenmauer in den Keller hinab.
„Wozu diese Platzverschwendung?“ murmelte Shin, worauf Karin nach oben deutete. Eine langgezogene rechteckige Klappe wies auf eine Falltür hin, die als Zugang zum Dachboden herab gezogen werden konnte.
„Na, dämmert’s?“ Sie lächelte ihn mit falscher Herzlichkeit an.
Seine Miene verdüsterte sich. „Du bist eine sehr enge Freundin von Natasha, kann das sein?“
„Nimm das zurück!“ zischte sie darauf erbost.
„Ich weiß nicht, ob ich jetzt enttäuscht oder erfreut sein soll“, erklang Natashas Stimme hinter ihr, worauf beide ertappt zusammen zuckten.
Karin versuchte einen lahmen Versuch der Erklärung: „Nati, ich habe das nur so gemeint, dass...“
„Lass mal, meine Liebe. Wie heißt es so schön: und noch ehe der Hahn am Morgen dreimal kräht, wirst du mich verleugnet haben.“ Damit ließ sie die beiden verdattert stehen und trat zu Abbey.
„Oh Mann, ist sie wirklich schon so abgehoben, dass sie sich über jede Kritik erhaben sieht?“ flüsterte Shin fassungslos.
„Klappe! Wir sprechen uns noch, Freundchen.“ Damit ließ sie Shin stehen und bemerkte erst jetzt, dass Bernd neben ihnen an der Wand lehnte und seinem Mienenspiel nach zu urteilen jedes Wort mitbekommen hatte.
„Und was hast du so zu grinsen?“ fuhr sie ihn mit mühsam unterdrückter Stimme an.
„Ich genieße nur die Aussicht“, gab er zurück, während er sie bewusst weiterhin musterte. „Soll ich dich dann auch küssen?“
„Ich lasse dich sogar vor Shin“, gab sie gereizt zurück.
„Pass’ lieber auf, dass die Warteschlange hinter dir nicht zu lange wird. Oder fang rechtzeitig an, Buch zu führen, bevor es unübersichtlich wird.“ Damit stieß er sich von der Wand ab, bevor sie etwas Spitzes erwidern konnte und schloss sich der mittlerweile beinahe vollständigen Gruppe an, die weiter hinten im Gang versammelt war.
Erst jetzt sah sie mit Schrecken, dass alle drei Terminatoren ihr Gespräch mitangehört hatten und sie unverwandt ansahen. Gleichzeitig hörte sie das scharfe Klicken, mit dem die Innentür der Panzerglasschleuse sich entriegelte und mit Ana die letzte herein kam.
Sobald alle im Gang versammelt waren, ergriff Abbey mit unbewegter Miene das Wort; ihre beiden männlichen Pendants dagegen standen mit verschränkten Armen im Hintergrund. „Da wären wir also. Willkommen im neuen Safehouse Hallevik. Die Umstände, die uns hierher geführt haben, waren widrig, dessen sind wir alle uns bewusst, doch jetzt sind wir hier in diesem Haus angekommen, das uns voraussichtlich für mehrere Jahre als Zuflucht und Heimstatt dienen wird. Es ist kein Urlaub, kein Zuckerschlecken und kein Vergnügungs-Aufenthalt, das muss euch allen auch klar sein. Eine schlimme Zeit wird anbrechen, doch es ist unsere Aufgabe“, sie schloss mit einer ausholenden Geste Alex und Daniel mit ein, „euch darauf vorzubereiten, euch zu schützen vor allen Gefahren von außen und falls erforderlich, auch von innen.“
Bei diesen Worten sahen sich alle bangen Blickes an, doch Abbey fuhr gleich fort. „Ihr wisst, wovon ich rede. Ihr seid auf den ersten Blick wahllos zusammen gewürfelt worden, doch aufgrund eurer Fähigkeiten werdet ihr dennoch eine fähige Gruppe abgeben, wenn die Zeit dazu reif ist. Doch die erste Zeit, die wir hier aussitzen werden, wird eine Geduldsprobe für alle sein.
Ich appelliere heute an euch, denkt stets an folgendes: es ist Gift für die Gruppe, wenn ihr euch nicht zusammenreißt und eure kleinen Launen aneinander auslasst. Leicht gesagt, denkt ihr jetzt, aber ihr müsst schon jetzt begreifen, dass der Zusammenhalt der Gruppe essentiell, entscheidend und lebenswichtig ist. Dazu gehört auch, dass Grüppchenbildung und kleine Anstachelungen sowie Intrigen innerhalb eurer Gruppe nicht vorkommen dürfen. Das ist unser bitterer Ernst. Wir werden jetzt auch keine Namen nennen, sondern appellieren an jeden Einzelnen.
Der T-X ist ja mit beinahe einem halben Jahrhundert mehr an Lebensweisheiten gesegnet als wir drei und hat uns dahingehend einiges an weiterführender Menschenkenntnis mit auf den Weg gegeben. Und auch dieses Haus hat er dementsprechend entworfen. Es ist nicht sehr geräumig angelegt, sondern eher kompakt und auf die Befriedigung der nötigsten Grundbedürfnisse ausgerichtet. Der Gang ist relativ breit und hell gestaltet, sodass man sich auf ihm auch einmal tagsüber für ein Schwätzchen aufhalten kann, wenn man sich während der Freizeit über den Weg läuft.
Die einzelnen Zimmer sind nicht als Aufenthaltsräume gedacht, sondern nur als reine Schlafgelegenheiten. Daher kommt es auch, dass jeweils zwei Personen sich einen Raum teilen werden. Wir haben sehr detaillierte und umfassende Anweisungen darüber, nach welchen Kriterien wir die Zimmer belegen werden. Dieser Punkt steht bereits fest und ist nicht diskutabel. Ihr werdet uns dabei vertrauen müssen, dass wir uns durchaus etwas dabei gedacht haben.
Natürlich sind wir auch nicht blind oder schwer von Begriff und haben zur Kenntnis genommen, dass sich bereits gewisse Paarbildungen anzubahnen scheinen, doch diese haben keinerlei Einfluss auf die Zimmerbelegung. Der Sinn und Zweck... darf ich bitte ausreden?... Danke... der Sinn und Zweck dieser restriktiv erscheinenden Maßnahme ist der zu verhindern, dass besagte Pärchen sich von den anderen abkapseln und sich auf ihren Zimmern einigeln. Ihr werdet ausreichend Freizeit für  euch den Tag über und auch abends haben, doch generell ist der Grundgedanke der, dass wir uns im großen Wohn- und Esszimmer dort am Ende des Gangs aufhalten. Absprachen untereinander über die Zimmernutzung zu den Freizeiten obliegen euch, solange ihr es nicht übertreibt mit dem Abkapseln, doch die Nachtruhe ist in der festgelegten Belegung einzuhalten. Ich denke, damit werdet ihr leben und euch arrangieren können.“
„Wie hübsch du den Sachverhalt ausdrücken kannst, dass wir nur tagsüber auf den Zimmern...“ begann Natasha ironisch grinsend, doch diesmal war es Abbey, die ihr über den Mund fuhr.
„Ich bin noch nicht fertig. Wir sind alle erwachsen und wissen, worum es geht.“
„Bis auf dich, mein Bester“, zischte Karin Bernd zu, worauf dieser sie finster ansah.
„Entweder hast du mir gerade nicht zugehört, oder du hast mich nicht verstanden, Karin“, fuhr Abbey mit bohrendem Blick fort, worauf diese hochrot anlief und betreten auf ihre Fußspitzen starrte. Das leise Gekicher der anderen machte es nicht einfacher, wenngleich diese auch nicht wissen konnten, worum es ging. Allen jedoch war klar geworden, dass leises gemeines Getuschel wie auf der Schule bei der Leistungsfähigkeit der Audiosensoren der Cyborgs hier nicht in Frage kommen würde.
„Wir werden euch körperlich trainieren und auch in allen anderen Belangen ausbilden, die vonnöten sein werden. Um Haushaltsaufgaben müsst ihr euch nicht kümmern, um das Kochen und die Reinigung sowie Instandhaltung des Hauses kümmern wir uns. Dort hinten übrigens befindet sich das Bad – die letzte Tür rechts – und die Küche am Ende des Gangs. Um die Küche müsst ihr euch wie gesagt nicht kümmern. Im Badezimmer finden sich zwei Duschkabinen und zwei WC-Zellen sowie drei Waschbecken. Ihr seht, auch die Hygienebedürfnisse werden mit einem Mindest-, wenn auch nicht Übermaß an Privatsphäre erfüllt. Ja, Dimitri?“
„Das ist genau wie beim Militär. Da will man auch vermeiden, dass sich jemand beim Duschen oder auf dem Topf einsam fühlen kann.“ Auch Abbey musste unter dem allgemeinen Gelächter grinsen.
„Du hast es erfasst. Ich möchte aber nochmals betonen, dass das hier kein Schleifercamp für die Elitetruppe ist. Ihr werdet hier auf das Leben vorbereitet, das euch erwarten wird, wenn die ersten Maschinen in Europa ankommen und mit der Dezimierung der überlebenden Bevölkerung beginnen. Ihr werdet den Vorteil gegenüber beinahe allen anderen Menschen haben, dass ihr auf das vorbereitet sein werdet, sofern man darauf überhaupt vorbereitet sein kann.“
Schlagartig war die Gruppe wieder ernst.
„Jetzt machen wir erst einmal die Zimmeraufteilung und ihr bezieht eure Schlafräume, dann werden wir euch in Gruppen durchs Haus führen und euch mit allem vertraut machen. Wie ich bereits erwähnt habe, hat unsere Aufteilung gute Gründe und steht nicht zur Diskussion.“ Abbey wies auf den ersten Raum zur Linken.
„Da wir leider weniger sind als ursprünglich vorgesehen, bleibt dieser Raum leer. Wir werden über dessen Nutzung später entscheiden.“
Totenstille herrschte im Flur.
Abbey ließ sich nicht beirren und wies auf die zweite der drei Türen linkerhand. „Hier werden Natasha und Caroline schlafen. Ruhig, ihr beide, ihr könnt eure Münder wieder schließen. Ich bin überzeugt, ihr seid in der kürzesten Zeit die dicksten Freundinnen.“
Beide starrten entsetzt Abbey, dann einander an und seufzten beide wie aus einem Mund, indem sie ihr Gepäck aufnahmen und sich beide als erste durch die Tür zu drängen versuchten. Man hörte Caroline resolut sagen: „Ich schlafe unten. He, was...? hör auf... na warte, dir werde ich...“
Der Rest des sofortigen ersten Streits um sie Schlafordnung wurde vom Schließen der Zimmertür abgeschnitten. Abbey deutete auf die hinterste der drei linken Türen und sagte kurz: „Dimitri und Silke.“
Beide öffneten wiederum ihre Münder, überrascht davon, dass ein Mann und eine Frau, die jeweils anderweitig interessiert waren, sich ein Zimmer teilen sollten. Nach einem Moment des Überlegens ging ihnen beiden auf, dass es genau das war, was beabsichtigt werden sollte: die Intimität auf den einzelnen Zimmern zu unterbinden. Nichts wäre dafür besser geeignet gewesen. So fügten sie sich und trollten sich auf ihr Zimmer, wobei Ana und auch Simon den beiden sehnsüchtig hinterher sahen.
Abbey fuhr fort und rief das erste Zimmer rechts aus: „Shin und Ana.“
Diesmal gab es bereits keine Proteste mehr; widerstandslos schleiften die beiden Eingeteilten ihre Taschen hinter sich her. Diese Aufteilung der romanzenfreien Heterobelegungen schien beibehalten zu werden, außer bei Caroline und Natasha, den beiden „übriggebliebenen“ Frauen bei ihrem Zahlenverhältnis Mann/Frau, die sich jedoch von Anfang an so Spinnefeind gewesen waren, dass das nur therapeutisch sein konnte, sie zu einem gemeinsamen Quartier zu nötigen.
Gut, waren noch vier übrig, dachte Karin. Simon war ja ein alter Bekannter als Zimmergenosse, daher wussten Daniel und Abbey, dass sie keine Probleme haben würde...
„Simon und Aishe.“ Ungerührt wies Abbey auf die zweite der drei rechten Quartierstüren, worauf logischerweise nur noch ein freies Zimmer und ein Zimmergenosse übrig blieb.
„Bernd und Karin.“
„Moment mal, das kann nicht sein“, entfuhr es Karin. In dem Moment, in dem sie es ausgesprochen hatte, bereute sie das bereits wieder.
„Ich dachte, ich hätte mich klar und deutlich ausgedrückt. Ihr beide habt euch nur in der Wolle, seit ihr zwei zusammen seid. Glaubt ihr, wir haben euch nicht bereits auf der Fahrt hierher mit voller Absicht ins gleiche Auto gesetzt und Natasha dazu angehalten, immer vorne zu sitzen? Alles fruchtlos. Ihr zwei habt ein großes Problem miteinander und ihr werdet daran arbeiten müssen. Man wird sich künftig nicht mehr unbedingt aussuchen können, mit welchem Menschen man sich das kleinste bisschen Raum teilen muss. Jeder einzelne Mensch wird von unermesslichem Wert sein, muss das sein, da es bald nicht mehr allzu viele davon geben wird. Ist euch eigentlich klar, was demnächst geschehen wird? Es werden drei Milliarden Menschen an einem einzigen Tag sterben, nur aufgrund der direkten Einwirkungen der Atomschläge, ohne die ganzen Strahlenopfer, im atomaren Winter Erfrorenen und Verhungerten und diejenigen, die keine Hoffnung mehr haben und sich selbst das Leben nehmen. Ganz zu schweigen von denen, die sich gegenseitig umbringen werden im Kampf um die letzten Vorkriegsressourcen. Niemand wird sich unmittelbar nach dem Krieg vorstellen können, dass es noch schlimmer kommen könnte, dass man jedes einzelne Menschenleben für einen viel wichtigeren Kampf schonen müsste, der noch in weiter Ferne liegt, wenn jeder Tag aufs Neue ein Kampf ums nackte Dasein ist.“
„Wir nehmen das Zimmer. Ihr habt uns überzeugt.“ Bernd stieß Karin leicht an, worauf sie aufmerkte.
„Ja... ja, wir werden schon... klarkommen.“ Bernd nahm seine Tasche auf und betrat den dritten Raum rechts, während sie noch zurückblieb und hinter sich starrte.
„Ist noch irgend etwas?“ wollte Daniel wissen.
„Ach, nichts. Ich habe mich nur gefragt, weil doch ein Zimmer leer steht...“
Ungnädig fuhr er sie an: „Dir geht’s wohl zu gut, meine Liebe! Ich tue einfach mal so, als hätte ich das nicht gehört, okay?“
„Ja, gut. Entschuldige. Danke.“ Sie schnappte sich ihre Reisetasche und schlurfte auf die Tür ihres neuen Zuhauses zu. Dabei dachte sie griesgrämig über Daniel: <Und den hab’ ich mal geliebt.>





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Hallevik, Insel Rolla, Troms Fylke, Norwegen                         10. Juli 2004

Ihr Zimmer erwies sich als klein, etwa zwei auf drei Meter, und sehr spartanisch eingerichtet. Wie im gesamten Haus waren auch seine Wände mit weiß gestrichenen Brettern verkleidet. Das Fenster gegenüber erwies sich ebenfalls als klein und war nur dem Anschein nach mit einem Holzrahmen versehen. Dahinter verbarg sich zweischichtiges Panzerglas, das absolut luftdicht eingepasst war. Sie sah auch jetzt zum ersten Mal deutlich an der Tiefe des Fensterbrettes, dass die Außenwand des Hauses über einen halben Meter dick war. Sie hoffte, es war alles gut isoliert. Ihr fielen auch gleich die dezenten schmalen Lüftungsschlitze überall unter der Zimmerdecke und an den Bodenleisten auf, über welche die Luft im Zimmer umgewälzt wurde. Die Luft war tatsächlich angenehm, wie sie feststellte, weder zu warm noch stickig oder trocken.
Dann registrierte sie die Möblierung. Ein Doppelstockbett entlang der rechten Zimmerseite mit den Fußenden zur Außenwand hin und zwei Schränke nebeneinander an der linken Zimmerwand, beides aus Naturholz, bildeten die komplette Einrichtung. Die Bettdecken sahen warm und mollig aus. Nun, es würde bald recht kalt werden, wenn alles so eintraf, wie es prognostiziert war.
Bernd räumte bereits den rechten Schrank ein und fragte sie über die Schulter: „Willst du unten oder oben liegen?“
Sie grinste; offenbar war er sich nicht bewusst, dass das erste, was er als Zimmergenosse zu ihr gesagt hatte, bereits als zweideutige Anzüglichkeit gelten konnte. „Ach, da bin ich ganz flexibel. Entscheide du.“
„Dann nehme ich das obere Bett.“ Er erschien mit dem Kopf aus der Tiefe des Schrankes und grinste. „Oben hat man mehr Freiraum, trotz der niedrigen Zimmerdecke.“
„Ja, das ist mir auch schon aufgefallen. Das sind doch höchstens 2,10 Meter, oder? Was sich der T-X dabei wohl gedacht hat?“ Sie begann nun ebenfalls, ihren Schrank mit der mitgebrachten Wäsche zu füllen.
„Das wird wohl statische Gründe haben. Ein Freund in Köln, der Architektur studiert, hat mir mal einen Crashkurs darüber gegeben. So wie das Haus hier gebaut ist, mit diesen dicken Mauern und der niedrigen Decke, ist es sehr solide gehalten. Als ob die Wände und die Decke selbst ein sehr hohen Gewicht tragen müssten.“ Er kratzte sich nachdenklich an der Wange und meinte dann: „Vielleicht hätte ich den Bart doch nicht abrasieren sollen.“
„Warum nicht? Abgesehen vom Schockeffekt für uns andere, steht dir ein glattrasiertes Gesicht ganz gut.“
„Danke. Wollen wir versuchen, uns zu vertragen? Unsere Supercomputer-Gehirne haben sich sicher was dabei gedacht, uns hier zusammen in ein Zimmerchen zu stecken.“ Er beendete seine Aktivität und warf die leere Tasche auf den Schrank hinauf.
Karin lachte über den Scherz und folgte ihm dann auf den Gang hinaus, um die Führung durchs Haus zu erhalten.
Die anderen waren bereits losgezogen, weshalb Alex auf sie wartete und sagte: „Beginnen wir mit dem Wohnzimmer.“
Als sie die entsprechende Tür öffneten, die gleich schräg gegenüber ihrer Zimmertür am Ende des breiten Teiles des Flurs lag, kamen Dimitri, Silke, Caroline und Natasha aus der Tür neben Karins und Bernds Zimmer am Ende des Flurs, geführt von Abbey. Sie wirkten nicht sehr glücklich. Vor allem Natashas Mund war zu einem schmalen Schlitz zusammen gekniffen und drückte deutliches Unbehagen aus. Im Gegensatz dazu zeigte Carolines Miene grimmige Zufriedenheit. Karin konnte sich auch zusammen reimen, was sich in dem Raum, in dem sich ihrer Erinnerung nach das Bad befand, abgespielt haben mochte: die Ausstattung mochte Natasha nicht zugesagt haben und nachdem sie das ausgedrückt haben mochte, würde sie sicher – wieder einmal – zurecht gewiesen worden sein.
Sie betraten das Wohnzimmer, welches sehr groß und geräumig war und auch wie ein Aufenthaltsraum und kombinierter Speiseraum eingerichtet war. Links entlang der Rück- und Außenwand waren ein riesiges Ecksofa und vier passende Sessel um einen kleinen Couchtisch arrangiert, rechts neben einer Durchgangstür in die Küche stand ein schlichter rechteckiger Esstisch mit zehn Stühlen darum. Die zum Meer hin gelegene Front war fast völlig verglast, bis auf je einen Meter links und rechts die ganze Seite vom Boden bis zur Decke. Eine schmale, hohe Glastür in der Fensterfront führte auf einen Balkon, der ebenfalls die gesamte Breite des Raumes aufwies.
„Und, was meint ihr?“ wollte Alex wissen.
„Ich finde es gemütlich. Doch, hier kann man es durchaus eine Weile aushalten.“ Bernd ging direkt zum Balkon und fragte über die Schulter: „Darf ich?“
Der dunkelblonde Hüne nickte bedächtig. „Noch ist es unbedenklich. Wenn der Atomschlag stattgefunden hat, wird die Benutzung des Balkons eventuell für eine Weile nicht möglich sein. Doch bis dahin...“
Karin sah sich noch ein wenig in dem hell gehaltenen Raum um, als Bernd bereits ächzend und stöhnend an der Tür zog, die wie alle Fenster aus doppelt ausgeführtem Panzerglas bestanden, wie sie feststellte. Sie folgte ihm hinaus und musterte die schmale Grundfläche des Balkons. Er war von einer meterbreiten Holzwand rechts und links und einer meterhohen Brüstung eingefasst, so dass nur eine relativ kleine Öffnung ins Freie blieb. Als Karin sah, dass die Seitenwände und die Brüstung ebenfalls halbmeterdick waren, ging ihr auf, dass auch diese Teile aus Beton sein würden und nur für den äußeren Schein mit Holz verkleidet waren. Sie beugte sich vor und sah das weit vorspringende Dach, das zusätzlich zur Decke des Balkons einen Schutz vor Niederschlägen bot.
„Ein wenig mehr verkleidet, und der Balkon könnte auch als Schiessscharte einer Festung durchgehen.“ Sie sah Alex erwartungsvoll an.
„Er ist so ausgelegt, dass er auch bei schwerem Regen und Wind betreten werden kann. Durch das stark überhängende Dach werden übrigens alle Hauswände vor allfälligem radioaktivem Regen geschützt, nicht nur der Freiraum hier. Sobald keine belasteten Schwebeteilchen mehr in der Luft liegen, sondern nur noch vom Regen herab gewaschen werden, ist es sicher genug, auf dem Balkon Luft zu schnappen, auch wenn man nicht ins Freie gehen kann.“
„Sehr ernüchternd, vielen Dank.“ Bernd stützte sich auf die Brüstung und sah hinaus. „Ich dachte eigentlich, dass wir hier so weit ab vom Schuss sind, dass die Gegend nicht verseucht würde.“
„Wir sind nirgendwo auf der nördlichen Hemisphäre weitab vom Schuss, jedenfalls nirgendwo nördlich des 23. Breitengrades, das dürft ihr nie vergessen. Es kann eventuell eine Woche oder länger dauern, doch schlussendlich wird der vorherrschende Südwestwind sogar eine gewisse Restkontamination vom nordamerikanischen Kontinent bis hierher tragen. Fast die halbe Welt wird von einer Staub- und Rußwolke eingehüllt werden. Dabei ist das atomare Potential der Supermächte heute eingeschränkter als noch vor zehn oder zwanzig Jahren. In den Achtziger Jahren wären die Auswirkungen viel drastischer gewesen.“ Alex blieb wie immer relativ unberührt von dem, was er vortrug.
Bernd schluckte und starrte dann mit zusammen gekniffenen Augen aufs Meer hinaus. Plötzlich fragte er: „Ist das am anderen Ufer eine Stadt?“
„Alle Achtung, du hast gute Augen. Das ist Harstad, der Haupthafen und die größte Stadt der Vesterålen, von der aus eine regelmäßige Fährverbindung zur Südspitze von Rolla besteht.“
„Dahin führt also die Straße, auf der wir hergekommen sind, weiter“, stellte Karin fest und beugte sich vor, um über die Brüstung hinab zu spähen. Der kleine Hang seeseitig war mit Sand und Steinen bis auf die Höhe des Fußbodens aufgeschüttet.
„Genau. Kommt ihr bitte weiter?“
Sie schlossen den Balkon und nahmen die Verbindungstür vom Wohnraum in die Küche, die sich als modern eingerichtet, aber sehr eng erwies. Sie verweilten auch nicht lange in dem L-förmigen und von zwei kleinen Milchglasfenstern nur dürftig erhellten Raum, sondern nahmen auf der Schmalseite die zweite Tür zum Flur hinaus.
Direkt nebenan im schmalen Endteil des Gangs war die Badtür, die in einen nahezu quadratischen Raum mit gekacheltem Boden und Wänden führte. Eigentlich wäre er geräumig gewesen, doch bei zwei verriegelbaren Toilettenparzellen, zwei Duschzellen und drei Waschbecken blieb nicht mehr viel Freiraum zur Bewegung. Karin kam der Begriff ‚Schulklo’ in den Sinn, doch sie verkniff sich tunlichst jede Bemerkung und tauschte nur einen Blick mit Bernd aus. Er grinste nur, doch sie wollte gar nicht wissen, woran er jetzt gerade dachte. Die Palette an anzüglichen oder geschmacklosen Bemerkungen, die er zu diesem Hygienebereich hätte abgeben können, war zu vielfältig.
Zurück auf dem Gang langte Alex nach oben, zog die verkleidete Zugangsleiter zum Dachboden hinab und erklärte: „Es ist nicht genug Platz für uns alle, deshalb könnt ihr nur schnell einen Rundblick machen und dann gleich wieder hinabkommen. Viel zu sehen gibt es ohnehin nicht.“
Mit gerunzelter Stirn erklomm Karin die stabile Aluleiter, dicht gefolgt von Bernd. Im Halbdunkel oben brauchten sie ein paar Sekunden, nahmen jedoch sofort das Gefühl der beklemmenden Enge wahr, das sie in der engen Kammer umgab. Der Freiraum, den sie hatten, betrug nur einen mal zwei Meter und war kaum zwei Meter hoch, der Rest war mittels soliden Betonwänden und einer ebensolchen Decke ihren Blicken entzogen. An einem Ende der Kammer stand ein Metallkasten, der mit Reglern, Anzeigegeräten und Kontrolllampen übersät war und aus dem viele Rohre unterschiedlicher Durchmesser in die dahinter liegende Wand führten. Gegenüber stand ein weiterer Kasten, der mit viel umfangreicheren Röhren vernetzt war, die knapp über dem Boden an allen vier Wänden der Kammer entlang liefen.
Bernd sah hinab und rief: „Was ist das hier? Die Lüftung?“
„Ja, und die Trinkwasserversorgung, Filterung sowie Stromkontrollelemente. Falls ihr euch wundert: unter dem  gesamten Dach sind Wassertanks verbaut. Das ganze Dachgeschoss besteht im Grunde daraus.“
„Aha, deshalb die starken Wände und Decken, bei dem Gewicht, das darauf lasten muss. Und besteht keine Gefahr, dass von außen der Wasservorrat kontaminiert wird?“ Bernd sah zu Karin hinüber.
Wieder antwortete die Stimme von unten: „Nein, das Dach ist wie die Wände mit einem halben Meter dicken Beton hermetisch verschlossen und nach außen hin auch thermisch isoliert. Es würde zu weit gehen, die Gründe dafür auszuführen. Die Temperaturverteilung innerhalb des Hauses wird indirekt dadurch beeinflusst, die Befeuchtung der Umluft, all das wird hier geregelt. Ich weiß, es sieht sehr unorthodox aus und wäre unter normalen Umständen niemals so gebaut worden.“
„Tja, besondere Zeiten erfordern besondere Maßnahmen.“ Bernd lächelte Karin an und stieg wieder hinab. Ihr mulmiges Gefühl angesichts der gewaltigen Wassermasse direkt über ihren Köpfen ebbte ein wenig ab und sie folgte ihm dankbar hinab.
„Dann lasst uns weiter gehen, in den Keller.“ Alex winkte sie ans vordere Ende des Flurs und neben der gläsernen Schleuse die enge Treppe hinab.
„Können wir uns gleich ein paar verschwiegene Eckchen aussuchen?“ wollte Bernd wissen, wobei er schelmisch grinsend über die Schulter sah. Sie gab ihm einen Klaps auf den Hinterkopf und nannte ihn kopfschüttelnd einen Deppen.
„He, das geht aber tief hinunter“, stellte Karin fest, als es immer weiter auf der langen schmalen Treppe hinab ging, viel weiter als bei einem normalen Tiefgeschoss. Als sie am Ende der Treppe ums Eck stiegen und unten ankamen, stockte ihr der Atem.
„Das sind doch mindestens fünf Meter!“ entfuhr es Bernd, worauf Alex nickte und sie zum Mittelgang des Kellergeschosses führte. An der Wand in zwei Meter Höhe des hier halb so breiten Hauptflures wie oben hingen nur wenige schwache Leuchtstoffröhren, deren trübes, kaltes  Licht kaum bis zum nackten Betonboden reichte und die weit oben gelegene Decke in Dunkelheit gehüllt ließ. Alles war unverkleidet und roh, niemand schien hier Wert auf den äußeren Schein zu legen. Vom Gang führten links und rechts insgesamt fünf Türen in Hochregallager, die von Lebensmitteln und Gegenständen des täglichen Bedarfs über technische Ersatzteile bis hin zu Waffenmaterial mit allem Erdenklichen bevorratet waren. Sie warfen schweigend einen kurzen Blick in jeden der düsteren, ungemütlich eng vollgepackten Räume und wandten sich dann der letzten Tür am Kopfende des Flurs zu.
Karin bemerkte beim Verlassen des letzten inspizierten Lagerraumes: „Die Mauern scheinen hier noch dicker als oben zu sein.“
„Ja, anders als bei normalen Häusern ist auch jede Innenmauer eine tragende Struktur. Dadurch wird das Dach und der Wassertank darunter getragen.“
„Ich fühle mich immer mehr wie in einem Atombunker, wenn auch in einem sehr gut ausgestatteten. Und was ist dort?“ Bernd zog die letzte Tür auf und erstarrte.
Ein weitläufiger Raum, welcher die gesamte Breite des Hauses einnahm und in etwa die Länge des Wohnzimmers über ihnen, vermittelte zusammen mit der Höhe und der sehr guten Ausleuchtung den Eindruck einer Turnhalle, was nicht zuletzt auch am zur Hälfte mit Matten ausgelegten Boden lag.
„Das Spielzimmer. Hier werden wir trainieren und euch in Form bringen und halten.“
„Na toll, ich hasse Sport.“ Bernd verzog das Gesicht.
„Das sieht man“, hieb Karin sofort in die entstandene Bresche, was ihr augenblicklich einen rügenden Kommentar von Alex einhandelte.
„Karin, Karin, Karin“, begann er kopfschüttelnd. „Was müssen wir nur tun, um dich von deiner Aversion gegen Bernd zu befreien? Ihr seid jetzt auf der gleichen Seite, verstehst du das nicht? Er ist einer von den Guten, so wie du. Du warst es doch, die ihn in Köln sozusagen rekrutiert hat, nicht wahr? Und jetzt lässt du keine Gelegenheit aus, ihn zu piesacken und ihm das Leben schwer zu machen. Gibt es dafür einen bestimmten Grund?“
Sie sah schuldbewusst zu Boden. „Nichts, was erwähnenswert wäre.“
„Nun, vielleicht könnt ihr das irgendwann später in Ruhe auf eurem Zimmer bereden. Die Türen zu den einzelnen Räumen sind solide und schalldicht, niemand wird euch hören. Alles klar?“ Ungnädig musterte er sie, bis sie aufsah und sich ihre und Bernds Blicke trafen.
Mit fester Stimme sagte sie nach einem langen Seufzer: „Ja, natürlich werden wir unsere Differenzen aus der Welt schaffen. Du kannst dich auf mich verlassen.“
„Das hört man gerne. Ihr habt noch einen weiten Weg vor euch, aber du hast gerade einen kleinen Schritt auf diesem Weg getan.“ Er klatschte zufrieden in die Hände, um darauf die Halle zu verlassen.
Bernd sah sie unverwandt an. „War das dein Ernst, dass ich eine unsportliche Figur habe?“
„Nein, vergiss es, ich bin einfach nur eine blöde alte Zicke, die jede Gelegenheit nutzt, um auf anderen rumzuhacken.“ Sie zuckte traurig mit den Schultern und bekam wässrige Augen. Schnell eilte sie Alex hinterher und ließ Bernd ratlos zurück. So ein spontanes Bekenntnis hätte er von ihr zuletzt erwartet. Was ging nur in ihr vor?
Er war schon gespannt, ob sie das mit der Aussprache auch wirklich ernst gemeint hatte.
Alex zeigte ihnen noch die Heizungsanlage, die am entfernten Ende des Treppenaufgangs im ‚toten Winkel’ positioniert war. „Die Heizung läuft mit Öl, hat aber wegen der extrem guten Isolierung des Hauses und der durchdachten Umwälzung der Warmluft, die auf die Wohnräume beschränkt ist, einen sehr geringen Verbrauch. Das ist auch der Grund, weshalb wir nur Autos mit Dieselmotor wollten, weil man diese auch mit Heizöl betreiben kann. Und hier geht es zu den Tanks.“
Der riesige Cyborg zog eine gigantische, bündig in die Wand am diesseitigen Ende des Kellerflurs eingelassene Stahltür auf und wies mit der Hand auf das dunkle Rechteck, das sich auftat. „Die Tanks sind außerhalb des Hauses unterirdisch versenkt, wie ihr seht. Seht nur hinein, das ist schon in Ordnung.“
Sie warfen einen kurzen Blick hinein und entdeckten, dass ein Gewölbe von ungeahnten Ausmaßen direkt unterhalb des Vorplatzes zwischen Haus und Garage gebaut war. Die Decke befand sich auf normaler Höhe, doch eine Treppe führte mehrere Meter hinab in die Halle, die fast vollständig von den zwei Reihen an gigantischen Tanks eingenommen wurde. Sie konnten bei der schwachen Beleuchtung kaum das hintere Ende des meterbreiten Mittelgangs erkennen.
„Meine Güte, wie viel Öl ist das?“ wollte Karin atemlos wissen.
„Genug für einige Jahre Heizen und Versorgung der Autos und des Bootes. Über der Decke befindet sich eine drei Meter dicke Stahlbetonplatte. Wahrscheinlich ist das der sicherste Ort der ganzen Anlage, wenn ihr mich fragt. Hier drin könnte man fast einen direkten Treffer in unmittelbarer Umgebung überstehen, schätze ich. Dort drüben steht noch ein kleiner Generator, der für den Notfall gedacht ist, dass unsere Fallleitungsturbine den Geist aufgeben sollte.“ Alex löschte das Licht wieder und schlug die Eisentür zu.
„Und was ist mit den Fahrzeugen?“ wollte Bernd wissen.
„Du nimmst den nächsten Punkt vorweg“, erklärte Alex und wies auf eine weitere schwere Stahltür direkt neben dem Treppenaufgang, die ebenfalls aus dem Haus hinausführen musste. „Dort hinein.“
Mit einem Laut der Verblüffung betrat Karin einen finsteren Gang, der etwa zwanzig Meter geradeaus führte und dann an einer weiteren Stahltür endete. Sie zog mühsam an der Tür und betrat einen nur zwei Meter langen Raum, den sie sofort als Pendant der Schleuse am Haupteingang des Hauses erkannte. Sie konnten sich zu dritt gerade so hineinquetschen und die Tür schließen, damit die äußere sich öffnen ließ. Eine betonierte Treppe führte hinauf an die Rückseite der Garage.
Die drei Volvo-Kombis standen bereits im Inneren neben einem mindestens sechs Meter langen Monstrum von amerikanischem Van der Marke GMC mit drei Sitzreihen und einem Gepäckabteil, in das ein Smart gepasst hätte. „Den werden wir hoffentlich nicht so oft brauchen, er säuft sicher Unmengen an Diesel. Wie ihr sicher schon vermutet habt, ist auch die Garage mit soliden Wänden und Dach aus Beton ausgestattet. Unter dem Dach ist das Boot verstaut, das wir erst nach dem Tag des Jüngsten Gerichtes herausholen werden, wenn ein triftiger Grund dafür besteht, es einzusetzen.“
Alex drückte auf einen Knopf, worauf das erste der Tore aufschwang und sie ins Freie entließ. Sie sahen zum Haus hinüber, das auf sie nun völlig anders wirkte als bei ihrem eintreffen. Es war Festung und Bollwerk, Zuflucht und Zuhause gleichzeitig.
Und für eine Weile auch Gefängnis, wenn Alex richtig lag.
„Sind wir dann fertig mit der Führung?“ fragte Bernd und sah nach Norden an der Küste entlang, wo ein verwitterter Steg in einiger Entfernung ins Wasser ragte.
„Ja, als nächstes steht Essen auf der Tagesordnung. Bis dahin haben wir noch etwa eine Stunde. Wieso fragst du?“
„Ich wollte mir gerne das verlassene Fischerdorf ansehen. Ist das okay für dich?“
„Wenn du Karin mitnimmst. Nein, bitte keine Widerrede, ich möchte nicht, dass einer von euch hier alleine herumläuft, solange ihr euch noch nicht auskennt.“ Gebieterisch wies er auf sie.
„Wenn’s sein muss...“ Ergeben sah er sie an und winkte sie mit sich.
Sie gingen schweigend am steinigen Ufersaum entlang und sahen die Überreste der Siedlung fast sofort. Die Häuser, von denen die rote Farbe abblätterte, standen zur Hälfte auf Pfählen im Wasser und ragten zur Hälfte aufs felsige Land. Teilweise waren sie mittels Holzstegen verbunden gewesen, doch die Ansiedlung schien wirklich seit Jahrzehnten verlassen und befand sich in einem Zustand des fortgeschrittenen Zerfalles. Halbe Seitenwände aus Holz waren weggefault, ein Haus war auf einem Pfahl weggeknickt und ins Wasser gestürzt, wo es vor sich hin rottete, die Planken der Verbindungsstege hatten große Löcher und sichtbar morsche Stellen zuhauf und machten den Eindruck, dass man es besser nicht wagen sollte, sie zu betreten. An den weniger felsigen Stellen standen noch teilweise Holzgestelle, auf denen der Dörrfisch damals getrocknet worden war. Ein Boot war von den Fluten gegen die Felsen geschmettert worden und lag mit zersplittertem Bug in der kleinen natürlichen Felsbucht, in der sich das Dörfchen befand.
„Das ist fantastisch... unbeschreiblich...“
„So etwas Schönes habe ich schon lange nicht mehr gesehen. Man sollte ein Bild von diesem Dorf malen.“ Bernd erklomm eine hohe Stufe im Fels und reichte Karin die Hand, um ihr hoch zu helfen.
Ihre Blicke trafen sich.
Sie schluckte und starrte in seine tiefdunklen Augen. Mit trockenem Mund sagte sie leise: „Denkst du das gleiche wie ich?“
„Ja. Warum sollen wir das noch lange aufschieben? Hier ist der perfekte Ort für unsere Aussprache.“ Er setzte sich auf den dunklen Felsen, von dem aus man den ganzen Fischerort überblicken konnte. Sie setzte sich neben ihn und musterte ihn mit fast ängstlicher Miene. Dass er ihre Hand nicht losgelassen hatte, entging ihr dabei.
„Dann schieß mal los: was ist dein Problem?“
„Wie meinst du das? Es ist unser Problem!“ Energisch entzog sie ihm ihre Hand, bereute das jedoch augenblicklich und nahm seine Hand darauf in ihre, um ihm fest in die Augen zu sehen. „Ich fürchte, dazu müssen wir ein wenig zurück gehen.“
Er nicke. „Es hat etwas damit zu tun, dass du so plötzlich abgehauen bist, als wir in Schweden nach unserer Bootsfahrt bei Karlshamn an Land gegangen sind und wir die verblüffende Ähnlichkeit zwischen mir und Daniel festgestellt haben. Ich habe mich damals gefragt, was du gehabt hast. Ich für meinen Teil war selbstverständlich erleichtert, dass ich mich geirrt haben muss.“
Sie sah zu Boden und dann aufs Meer hinaus. „Sag mal, glaubst du an Schicksal?“
„Was anderes bleibt mir kaum übrig, nach dem was sich hier abspielt. Ich meine, können wir daran überhaupt noch etwas ändern?“ Er musterte sie und wartete darauf, welche Richtung dieses Gespräch nehmen würde. „Und dass wir uns wieder begegnen, nach dem ich schon jahrelang nicht mehr in Freiburg wohne...“
„Zufall! Du hast dich noch an mich erinnert, weil du...“ Sie zögerte, es auszusprechen und gab es dann auf. „Ach, komm! Wir haben uns nur vom Sehen gekannt.“
„Ja, schon. Ich bin wohl nicht der Hellste, wenn es darum geht, Frauen anzusprechen. Außerdem warst du damals vergeben.“
„Tja, aber... mir ist damals ein Gedanke gekommen, im Wald bei Karlshamn meine ich. Kann es sein, dass ich Daniel geliebt habe, weil er eine Art Schatten war von dir? Ich meine, da er ja kein richtiger Mensch ist, was ich unterschwellig wohl gespürt haben muss. Natasha hat ein sehr viel besseres Gespür dafür, muss ich zugeben, aber auch ich habe irgendwann kapiert, dass etwas mit ihm nicht stimmte.“ Ihre hellbraunen Augen wirkten fast grünlich, als sie ihn musterte.
„Wenn es bestimmt war, dass wir uns begegnen sollten, warum wehrst du dich dann so dagegen? Schlussendlich werden wir doch nichts dagegen machen können. Diese ungeheure Spannung, die zwischen uns in der Luft liegt, ist von den anderen und vielleicht auch von uns selbst als Antipathie gedeutet worden. Mache ich mir etwas vor?“ Sein Gesicht lag im Schatten, als er sich gegen die tiefstehende Sonne im Süden zu ihr umwandte.
„Es ist eine emotionale Anspannung, da hast du recht. Ich wollte es mir nicht eingestehen, weil ich mir immer noch nicht ganz sicher bin, welche Konsequenzen das womöglich für die Zukunft hat, aber ich bin es leid, dich aus falschem Selbstschutz so schlecht zu behandeln. Du verdienst das einfach nicht.“ Sie hob eine Hand und legte sie auf seine Wange.
Er schloss die Augen und sagte leise mit gequälter Miene: „Ich weiß nicht, wie ich jetzt reagieren soll, Karin. Ich stehe kurz vor einer Schwelle, die ich noch nie überschritten habe. Was erwartest du von mir? Ich...“
„Schhh. Bleib ganz ruhig. Ich werde nicht mehr länger dagegen ankämpfen, diesen Entschluss habe ich inzwischen gefasst. Mir ist egal, ob ich das irgendwann bereuen könnte, denn nicht alles ist festgeschrieben. Man kann sicher zu einem gewissen Grad auch selbst seine Zukunft beeinflussen, oder nicht?“
Als er einen Anflug von Verzweiflung in ihrer Stimme hörte, öffnete er die Augen wieder, in denen es feucht wurde. „Was meinst du damit? Ich verstehe nicht...“
Sie beugte sich vor und küsste ihn ganz sanft auf den Mund. „Sei ruhig. Ich möchte den Augenblick genießen. Niemand weiß, was genau uns erwarten wird und wie viel Zeit wir noch haben, bis es dunkel wird auf der Welt.“
Zaghaft erwiderte er ihren Kuss, der sich langsam in seiner Leidenschaft steigerte. Als sie voneinander abließen, um zum Haus zurück zu kehren, gingen sie Hand in Hand bis in Sichtweite, um dann loszulassen und zur Eingangstür zu gehen, ohne sich noch anzusehen.
„Ich frage mich, ob wir das nicht unterbewusst sogar geplant haben.“
Sie sah scheinbar genauso unbeteiligt nach vorne und raunte: „Was meinst du?“
„Na, wir haben uns dermaßen gefetzt in letzter Zeit, dass sie uns sogar in ein Zimmer gesteckt haben, damit wir uns besser vertragen.“ Sie konnte seinen belustigten Unterton genau erkennen. „Wer hätte gedacht, dass sie so schnell Erfolg haben?“
„Und jetzt? Soll ich dich weiter anzicken, damit sie keinen Verdacht schöpfen? Ich meine, wir haben immerhin das Privileg eines gemeinsamen Zimmers, was die anderen Frischverliebten nicht gerade von sich behaupten können. Was kann schon abtörnender sein, als sich das Zimmer mit einem anderen Kerl teilen zu müssen, während der Mann deiner Träume nur zwei Türen weiter das selbe Problem mit einer anderen Frau hat?“
„Ein bisschen mäßigen könntest du dich schon, aber nicht so viel, dass es auffällt. Wir können vielleicht eine Art Waffenstillstand und den Versuch einer beginnenden Zweckfreundschaft vortäuschen. Wir werden schon eine vernünftige Balance finden, oder?“ Nun sah er sie doch noch an und lächelte wieder sein schelmisches Lächeln, das ihr Herz schon beim ersten Mal hatte schneller schlagen lassen, wie sie sich jetzt ungeniert eingestehen konnte.
Kein Selbstbetrug mehr, sagte sie sich.
„Was meinst du, wie lange können wir ihnen diese kleine Komödie vorspielen?“
Er wiegte den Kopf leicht hin und her, nachdenklich ausführend: „Kommt ganz darauf an. Wir dürfen einfach nicht übertreiben oder auch nur zu viel Aufmerksamkeit innerhalb der Gruppe auf uns lenken. Am besten wird es sein, wenn wir nicht zu betont aufeinander hocken, uns aber doch regelmäßig zu Vernunftgesprächen aufs Zimmer zurück ziehen. Sie werden sagen: ‚Ach, sind sie nicht süß, wie sie sich anstrengen, einander besser zu verstehen?’“
Karin schmunzelte und drückte sich mit ihm zusammen in die Schleuse, neben der auf dem Flur Natasha und Caroline standen und ihre Ankunft bemerkten. Sofort protestiere sie: „He, kannst du nicht warten, bis du an der Reihe bist?“
„Die Schleuse ist groß genug für uns beide. Dein Ego nimmt nämlich keinen Platz weg, weißt du?“ Er musterte sie ungnädig und unterdrückte den Reflex, loszuprusten vor Lachen.
Caroline rief zu ihnen hinüber: „So ist’s recht, lass dir nichts gefallen von ihr, Bernd.“
Betreten sahen sich beide an, während die Innentür entriegelt wurde. Sie sagte mit traurigem Hundeblick: „Wir können einfach nicht anders, was? Tut mir leid, ich dachte, ich hätte genug Dampf abgelassen, aber offenbar ist dem nicht so.“
„Wollen wir darüber reden? Ich glaube, wir haben inzwischen eine vernünftige Basis, auf der wir aufbauen können.“ Galant winkte er sie vor und hielt ihr die Tür offen.
Natashas Brauen zuckten steil in die Höhe. „Was sind denn das für Töne? Sagt bloß, eure Aussprache hat etwas gebracht?“
„In dieser kleinen Gemeinde bleibt nichts lange geheim, was? Ja, wir sind auf einen gemeinsamen Nenner gekommen, was unsere Differenzen anbelangt. Allerdings müssen wir wohl noch so manches Gespräch führen, bis das meiste im Lot ist, so wie es aussieht.“ Sie sah zum Wohnzimmer hinüber. „Wie lange noch, bis es Essen gibt?“
„Eine gute halbe Stunde. Wir werden nicht geholt, sondern sollen uns nach und nach etwa  zur vollen Stunde einfinden. Bis dahin sind alle anderen auf den Zimmern und dösen noch ein wenig. Ist doch etwas anderes als immer nur im Auto auf der Fahrt zu schlafen.“
„Eine halbe Stunde?“ Karin sah Bernd an, wobei ihr Gesicht einen entschlossenen Ausdruck bekam. „Für ein weiteres klärendes Gespräch nicht viel Zeit, aber ich denke, da lässt sich was draus machen.“
Er trottete ihr ergeben nach, bis ihre Tür ins Schloss gefallen war. Sofort packte sie ihn am Kragen und küsste ihn, während ihre Hand durch sein Haar fuhr und es zerzauste. Dann zog sie ihm sein Hemd aus dem Hosenbund, ohne von ihm abzulassen.
Er nuschelte zwischen ihren Lippen hindurch: „Was hast du vor? Hast du nicht gehört...?“
Sie beugte sich zurück, zog ihr Haargummi ab und schüttelte ihr schwarzes, gut schulterlanges Har frei, das ihr nun in Wellen wirr übers Gesicht fiel und ihr ein beinahe wildes Aussehen verlieh. Atemlos hauchte sie: „Ich kaufe doch nicht die Katze im Sack. Worauf wartest du noch? So eine Gelegenheit kommt nicht alle Tage.“
„Wer weiß? Kommt darauf an, wie ich hier und jetzt abschneide.“ Er zog ihren dünnen schwarzen Pullover über den Kopf und umfasste sie an der Taille.
„Abwarten. Die Zeit läuft...“



Hallevik, Insel Rolla, Troms Fylke, Norwegen                         10. Juli 2004

Nach dem Mittagessen hatte Daniel verkündet, dass sie jetzt eine knappe Stunde für sich hatten und dann zu einer kurzen Wanderung aufbrechen würden, um die nähere Umgebung zu erkunden. So zogen sich alle auf ihre Zimmer zurück.
Simon lag auf seinem Bett und starrte an die Decke, als Aishe herein kam und sich ihrerseits hinlegte. Sie war kaum zur Ruhe gekommen, als sie Simons Stimme hörte: „Aishe?“
„Ja, was ist?“
„Ich habe eine Frage an dich. Du besitzt doch einiges an diplomatischem Geschick, oder?“
„Na ja, könnte man so sagen“, gestand sie ein, „warum fragst du?“
„Es geht um Karin und Bernd.“
„Dir ist es auch aufgefallen? Ja, ich mache mir auch ein wenig Sorgen, obwohl sie behaupten, dass sie sich jetzt besser vertragen. Hast du gesehen, wie fertig sie beim Essen ausgesehen haben?“
„Ja, völlig zerzaust und verschwitzt. Was glaubst du, was sich auf ihrem Zimmer abgespielt hat? Meinst du etwa, sie werden handgreiflich?“ Simons Stimme klang ehrlich besorgt.
„Ich bin mir nicht sicher. Wäre eigentlich ziemlich kindisch, oder?“ Auch Aishe klang sehr verunsichert. „Ich kann mir einfach keinen Reim darauf machen, das muss höhere Psychologie sein. Sie haben sich die ganze Zeit nur gestritten, bis es unseren Protegés zuviel wurde und sie die beiden in ein Zimmer gesteckt haben, als therapeutische Radikalmaßnahme. Die Frage ist nur, ob das nicht zuviel des Guten war.“
„Natasha hat mir vor dem Essen gesteckt, dass sie bei ihrer Rückkehr behauptet haben, sie hätten eine ‚gemeinsame Basis’ oder ‚einen gemeinsamen Nenner’ gefunden.“ Er betonte die beiden Worte, als glaube er nicht recht daran.
„Ich frage mich, was das sein soll. Dass sie sich nach außen benehmen und nur noch in der isolierten Abgeschiedenheit ihrer eigenen vier Wände Dampf ablassen, um die Gruppe nicht mit ihren Differenzen zu belasten?“
Simon merkte auf: „He, das klingt vernünftig und schlüssig. Aishe, ich glaube, du hast einen Volltreffer gelandet. Du hast wirklich ein intuitives Gespür für Menschen.“
„Zu viel des Lobes“, wiegelte sie ab. „Das ist nur so eine Vermutung, okay?“
„Okay. Ich tendiere jedoch dazu, an diese Theorie zu glauben. Wollen wir mal unauffällig nach Hinweisen Ausschau halten, die das untermauern könnten?“
Aishe meinte skeptisch: „Schaden könnte es nichts. Vielleicht rede ich auch mal mit ihr, wenn es zu entgleisen droht.“
„Alles klar. Wo sind die beiden jetzt eigentlich? Wieder auf ihrem Zimmer?“
„Ja. Ich mache mir schon etwas Sorgen, weil sie kein Wort miteinander gewechselt haben und sich kein einziges Mal angesehen haben, obwohl sie nebeneinander gesessen sind. Gut, sie hatten auch keine andere Wahl, weil sie als letzte gekommen sind und die einzigen beiden Stühle, die wir frei gelassen haben, nebeneinander lagen.“
Simon lachte. „Ja, ihre Gesichter waren köstlich. Mir kam es allerdings so vor, als hätten sie ihren Disput nur widerwillig unterbrochen, um zum Essen zu erscheinen. Und wie lieblos sie schnell alles runtergeschlungen haben. Sie waren die ersten, die wieder gegangen sind. Das gibt einem schon zu denken.“
„Ob ich mal bei ihnen reinschauen sollte?“ fragte sie besorgt.
„Um Himmels Willen, nein. Das gibt nur böses Blut! Vertrau’ mir, ich kenne Karin; sie will das alleine auf die Reihe bekommen, so ist sie. Und wenn Bernd auch nur halb so starrsinnig ist wie sie, wird nichts ihre vier Wände verlassen, das einen Hinweis darauf liefern wird, was sich bei ihnen abspielt.“



Alle fanden sich pünktlich in bequemer Kleidung ein, worauf sie gleich losmarschierten und der Küste in nördlicher Richtung folgten. Alex, der sie begleitete, führte aus: „Dies ist übrigens der Vågsfjorden, der die Inselgruppe der Vesterålen von Rolla und dem Festland trennt. Dort hinten am Horizont seht ihr im Westen die Insel Hinnøja, die Hauptinsel dieser Gruppe, an die sich direkt die Lofoten anschließen, welche weiter ins Meer hinausragen.“
„Aha, Lofoten. Von denen habe ich schon gehört. Ich dachte schon, ich kenne gar nichts hier oben.“ Shin machte ein zufriedenes Gesicht, als sei das eine große Leistung.
Natasha öffnete ihren Mund, um eine Spitze auf ihn loszulassen, als sie eine Hand auf ihrer Schulter spürte und erstaunt Aishe hinter sich sah, die nur stumm den Kopf schüttelte. Ertappt schloss Natasha den Mund wieder und beschleunigte ihren Schritt ein wenig. Dabei murmelte sie vor sich hin: „Allmählich wird die Kleine mir unheimlich.“
Simon, der das Geschehene vor sich mit bekommen hatte, klopfte ihr anerkennend auf den Rücken und raunte leise: „Ich kann es kaum fassen, Aishe. Du bist hiermit offiziell zur guten Seele unserer Gruppe ernannt. Wahrscheinlich bist du die einzige Person, vor der ‚der General’ Respekt auf einer moralischen Ebene hat.“
Aishes Augen wurden groß. „Ihr... ihr nennt sie... ‚den General’? Das kann nicht euer Ernst sein!“
„He, das ist nicht böse gemeint. Alex ist so etwas in der Art heraus gerutscht, als es um unsere Zukunft beim menschlichen Widerstand geht. Genau genommen ist es das einzige, was wir sicher über irgend einen von uns wissen, was das anbelangt.“ Simon machte ein wichtigtuerisches Gesicht.
„Er sagte aber ‚Vizegeneral’,“ korrigierte Caroline.
„Schon, aber wie hört sich das an?“ protestierte Shin, der aufgemerkt hatte. „Wenn schon einen Spitznamen, dann auch einen einprägsamen. Und wenn man bedenkt, was die zweite Wahl war...“
Aishe sah in die breit grinsenden Gesichter von Caroline, Shin und Simon. „Und was war die zweite Wahl... nein, wartet, ich will’s gar nicht wissen.“
Als sie abwinkte, grinsten die anderen noch breiter.
Sie folgten etwa eine Stunde lang dem dunklen steinigen Küstenverlauf, der nur wenigen Meter überm Wasser abrupt in den üppigen, ursprünglichen Mischwald überging. Dann wandten sie sich ostwärts und gelangten auf einem Wanderweg, vorbei an zwei Seen und durch die fast unberührten Wälder im Inselinneren, nach einer weiteren Stunde an den Nordrand der großen östlichen Bergkette. Direkt vor ihnen erhob sich ein mächtiger dunkler Berg, wie aus einem Fels gemeißelt, steil aus der dicht bewaldeten Ebene heraus über die sehr tief gelegene Baumgrenze. Von ihrem Blickwinkel aus war das fahle Weiß des schneebedeckten Gipfels kaum noch erkennbar, doch das schmälerte nicht den phantastischen Anblick, den sie die ganze Wanderung über schon genossen hatten. Alex beschied sich mit folgender Erklärung: „Dies ist der Drangen, mit 1022 m der höchste Punkt von Rolla.“
Sie folgten dem Verlauf des Bergzuges nach Süden und begegneten dabei einer Familie mit zwei kleinen Jungen in voller Wandermontur, die sie alle freundlich grüßten. Als sie am Südende des längsten Sees der Insel, dem Skipsvatnet ankamen, war die Sonne bereits nach Westen ausgewandert, so dass sie den Rückweg auf dem vom T-X angelegten Fahrweg von der Hauptstraße zum Haus im Schatten der westlichen Bergkette, deren Gipfel sich ebenfalls auf etwa 900 m erhoben, zurücklegen mussten. Dabei wurde es bereits ziemlich frisch.
Als sie beim Haus ankamen, waren sie müde und erschöpft, aber auch ausgelassen nach dem schönen Ausflug, der laut Alex zwar ihrer körperlichen Ertüchtigung und dem kennen lernen der Insel gedient hatte, aber doch auch ein positives Erlebnis darstellte.
Sie beschlossen den Tag mit ein paar belegten Broten und einem anschließenden gemütlichen Zusammensitzen in der Sofaecke im Wohnraum. Die Balkontür hatten sie trotz des Unmutes von Abbey weit offen stehen und ließen viel Frischluft ein, als ob sie bereits ahnen würden, was auf sie zukommen würde.
Auf dem Balkon standen Silke und Simon und sahen hinaus auf die im Nordosten stehende Sonne, die den Nordatlantik nicht ganz berührte. Silke wies nach Westen und sagte verträumt: „Sieh mal die Wolken da drüben, Simon. Wie schön sie leuchten in der Abendsonne.“
„Ich wusste schon gar nicht mehr, wie Wolken aussehen. Wir haben jetzt fast eine Woche ununterbrochen nur blauen Himmel gesehen.“ Er legte seine Arme von hinten um ihre Hüften und ließ sein Kinn auf ihrer Schulter ruhen.
„Ich kann mir immer noch nicht vorstellen, dass das alles bald vorbei sein soll. Das wir für den Rest unseres Lebens keinen Himmel mehr sehen können sollen. Und was uns noch alles bevorsteht...“ Sie verstummte und sah hinaus auf die Wolken, die orangerot und violett leuchteten, wobei sie sich rasch vermehrten und sich nach und nach am gesamten Westhorizont verbreiteten.
„Machst du dir Sorgen um deine Leute?“
„Natürlich. Ich fürchte, sie werden viel leiden müssen. Mein ganzes Volk wird unendliches Leid ertragen, weil viel weniger direkt beim Atomschlag sterben werden.“
Er wurde hellhörig. „Wie kommst du darauf?“
„Ach, du weißt das wahrscheinlich gar nicht. Wir haben sehr strikte Bauvorschriften für den Zivilschutz bei uns.“ Sie seufzte. „Seit den späten Fünfziger Jahren hat jedes in der Schweiz gebaute Haus einen atombombensicheren Schutzraum.“
„Im Ernst? Das würde ja heißen, dass bei entsprechender Vorwarnzeit...“ Simon stockte angesichts der Ungeheuerlichkeit dieses Gedankens der Atem. „Wenn alles vorbei ist und Mitteleuropa in Schutt und Asche liegt, erhebt sich das schweizerische Volk zum großen Teil noch unversehrt aus den Trümmern ihrer Heime. Oh Mann, weißt du, was das bedeuten könnte?“
„Dass wir für den Rest des Kontinents die Herdöpfel, ich meine die Kartoffeln, aus dem Feuer holen müssen, wenn es zum Krieg mit den Maschinen kommt. Ein komischer Gedanke, nicht wahr? Dass das kleine, militärisch neutrale Land, das offenbar als einziges den Kalten Krieg richtig ernst genommen hat, beim kommenden Atomkrieg im Ganzen am wenigsten Opfer zu beklagen haben wird.“ Sie sah über die Schulter und fügte hinzu: „Gemeinsam mit den Russen, die abseits der Ziele der Atombomben in den Weiten ihres Landes überleben werden. Ich glaube, es wird Zeit für uns, eine der zukünftigen Weltsprachen zu erlernen.“
„Ich bin für Russisch. So wie es aussieht, werden wir das am ehesten brauchen können.“
„Ja, Abbey hat erwähnt, dass wir morgen Nachmittag unsere erste Unterrichtsstunde haben werden.“ Sie schüttelte den Kopf ungläubig.
Am Horizont türmten sich die Wolken aufeinander und bedeckten nun den ganzen Himmel über den Vesterålen. Es sah nach Regen aus.



Bröttorpören, Småland, Schweden                                   11. Juli 2004

An die Ruine des alten Safehouse auf Öland war für die Presse zu deren großem Bedauern kein Herankommen. Die schwedische Polizei hatte noch in der Nacht nach der enormen Detonation ‚aus heiterem Himmel’ alles in weitem Umkreis abgesperrt und auch bald nach den ersten Überflügen der Nachrichten-Helikopter aus Stockholm ein Flugverbot für zivile Luftfahrzeuge erlassen. Die Bilder des gigantischen Kraters, dessen Ausmaße anhand des kollabierten Hauses und der beiden zerstörten Minivans davor sich problemlos von jedem Laien erahnen ließen, liefen durch die Nachrichtensendungen und weckten das Interesse auf der anderen Seite des Atlantiks.
Nein, nicht in Kanada.
Die schwedische Regierung zeigte sich angesichts der neuen potenziellen Terrorbedrohung, die mit diesem ‚Bombenunfall’ oder ‚Bombentest’, je nachdem, welcher Schlagzeile man glauben wollte, nun auch ihr bisher neutrales Land erreicht zu haben schien, außerordentlich kooperationsbereit mit diversen US-Behörden. Folglich tummelten sich neben den üblichen heimischen Untersuchungsbeamten auch diverse Spezialisten aus den USA und auch Großbritannien, um diese offenbar völlig neuartige und unbekannte Waffe anhand ihrer Sprengwirkung und dem dadurch erzeugten Krater zu untersuchen.
Keiner der Experten hatte nach Ausschluss aller bekannten konventionellen Stoffe auch nur die geringste Ahnung, welcher nicht nukleare Sprengsatz eine solche Energiemenge freisetzen konnte, wie es hier offenbar der Fall gewesen war.
Auch eine Woche nach dem Vorfall wurde das Areal noch rund um die Uhr scharf bewacht und gesichert. Heute Nacht standen direkt beim Safehouse zwei Soldaten und schlugen sich die Nacht um die Ohren, was dank des Zwielichtes, das die nur knapp unter dem Horizont im Norden stehende Polarsonne spendete, nicht ganz so unerträglich war wie in völliger Dunkelheit.
Im Westen, aus Richtung des schwedischen Festlandes waren im Verlauf des Abends zunehmend mehr Wolken hereingezogen und verfinsterten nun zum ersten Mal seit fast zwei Wochen den Himmel. Die Wachsoldaten Lind und Gustaffsson sahen beunruhigt hinauf und bemerkten auch schon erste entfernte Blitze, die sich innerhalb der Wolken entluden und diese von innen heraus erhellten. Da Gewitter in diesen Breiten eher selten waren, vor allem sommerliche Wärmegewitter, war ihnen nicht so ganz geheuer.
Als Gustaffsson seine Bedenken äußerte, wies ihn Lind zurecht: „Stell’ dich nicht so an, was soll schon passieren, außer dass wir etwas nass werden? Für Öland ist Regen im Sommer immer gut; dieser Kreidefelsen ist sonst immer völlig ausgetrocknet.“
„Ja, schon, aber das Gelände hier ist recht flach. Wo sollen wir Schutz suchen, wenn es ein wenig heftiger über uns hereinbricht?“
„Du kannst dich ja dann in den Jeep setzen; mir macht der Regen nichts und die Blitze auch nicht, falls sie überhaupt kommen sollten. Jedenfalls verlasse ich meinen Posten nicht wegen einem harmlosen Gewitter.“
„He, hast du das gerade gesehen?“ Gustaffsson wies über Linds Schulter, wo ein heller Schimmer für einige Sekunden aus der Nähe des Bombenkraters über die flache Hügelkuppe geschienen hatte, begleitet von einigen kleineren Blitzen. „Das sah eben aus wie ein Blitz, aber es war auf dem Boden.“
Lind wandte sich um, hatte aber zu spät reagiert, um noch etwas sehen zu können. „Wovon sprichst du?“
„Gerade hatte es aufgeleuchtet, wie ein Kugelblitz oder so“, behauptete Gustaffsson im Brustton der Überzeugung.
„So ein Schwachsinn, Kugelblitze gibt es doch gar nicht, das ist ein Mythos. Habe ich erst neulich gelesen.“
„Das da oben sah aber aus wie einer. Ob er in den Bombenkrater eingeschlagen ist?“
Lind winkte ab. „Kann ich mir nicht vorstellen. Und selbst wenn, was kann es schon schaden?“
„Aber meinst du nicht, wir sollten trotzdem mal nachsehen?“
„Ich sehe keinen Grund zur Veranlassung dafür. Ich bleibe schön artig auf meinem Posten, wie befohlen.“ Stur verschränkte er die Arme über der Brust und gab seinem Kameraden so seinen Standpunkt zu verstehen.
„Also gut, dann werde ich alleine nachsehen. Aber merke dir eines, Scully: Die Wahrheit ist irgendwo dort draußen.“ Und damit zeigte er in die Richtung, in der er das Licht gesehen hatte, um langsam und gemächlich loszutrotten.
„Das war mit Sicherheit das witzigste, was du bisher von dir gegeben hast“, rief ihm Lind grinsend hinterher und wandte sich wieder ab von ihm, um nach Osten hinaus aufs Meer und den dort noch klaren, dunklen Himmel zu sehen.
Nach einigen Minuten kam Gustaffsson zurück. Irgendetwas war mit ihm nicht in Ordnung, denn er hielt sich aufrechter als sonst und hatte auf einmal einen geschmeidigen, beinahe athletischen Gang, der sehr gleichmäßig war. „Und was war das jetzt für ein Licht? Hast du etwas entdeckt?“
„Nein, da war nichts, was uns Sorgen machen sollte.“ Auch Gustaffssons Stimme klang ein wenig belegt, so als habe er mit einem Mal einen rauen Hals. Lind ignorierte das und wandte sich wieder ab.
„Wie viele Wachposten sind noch hier?“ wollte sein Kamerad unvermittelt wissen.
„Alle zehn, wenn sie nicht herumspazieren wie du, statt auf ihrem Posten zu bleiben.“
Gustaffsson ignorierte die Spitze und fragte weiter: „Was haben wir denn bisher über den Detonationsradius in Erfahrung gebracht?“
„Holla, seit wann drückst du dich denn so gewählt aus? Und was soll die dumme Frage? Du weißt so gut wie ich, dass weder die Amis noch unsere Jungs irgendwas Vernünftiges herausbekommen haben. Heute bist du aber echt neben dir...“
Eine Hand legte sich von hinten auf seinen Mund. Erschrocken wollte er herumfahren und Gustaffsson für seinen dämlichen Scherz anschnauzen, als er registrierte, dass die Hand ihn brutal und mit riesiger Kraftanstrengung nach hinten riss. Das war kein Spaß mehr. Die Wut wich Angst, doch es war bereits zu spät für irgendwelche Reaktionen. Ein scharfer Stich in seinem Rücken und dann sah er auch schon einen spitzen glänzenden Stachel fingerdick aus seiner Brust herausragen.
Glänzend von seinem Blut.
Er wollte schreien, doch die Hand war unmenschlich fest auf seinen Mund gepresst, als habe sie sich an seinem Gesicht festgesaugt. Lind konnte gar nicht fassen, was da vor sich ging.
Er war gerade erstochen worden.
Der Schock wich, als der T-1000 den Dorn mit einem Ruck nach hinten riss und sowohl Ein- und Austrittswunde sich schnell mit dem Blut aus der Herzkammer füllten, die penetriert worden war. Lind schlug auf dem Boden auf wie ein nasser Sack und war bereits tot, die aufgerissenen Augen glasig und starr nach oben gerichtet.
Es sah ganz so aus, als würde es schwer werden, von hier aus eine vernünftige Spur der Widerstandsgruppe aufzunehmen. Ihm wäre am besten gedient, wenn er Kontakt mit eventuell hier verbliebenen T-880-Einheiten aufnehmen und seine Anstrengungen mit ihnen würde koordinieren können.
Zuerst nahm er den Militärjeep des Wachtrupps in Besitz und begann, die Insel abzufahren, nachdem er die Sicherheitszone verlassen hatte. Er würde sich Zugang zu einem besseren Funkgerät verschaffen müssen, um Kontakt zu Skynets anderen Dienern aufnehmen zu können. Da sein rein aus Flüssigmetall bestehender Körper nicht mit internen Funkanlagen ausgerüstet war wie seine ansonsten rückständigeren soliden Brüder, war dies eine technische Kleinigkeit, die es zu überwinden galt.
Er hatte es nicht eilig. Da das Schadensereignis offenbar bereits eine Woche zurücklag, war die Spur nicht mehr frisch und er konnte genauso gut in Ruhe recherchieren, was seit diesem Zeitpunkt an auffälligen Dingen in der Gegend auf und rund um die Insel geschehen war.
Und mit etwas Glück konnte er noch auf besagte Verstärkung zählen. Er würde die Suche leiten und dirigieren. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er seiner Bestimmung gerecht werden konnte, er, der letzte T-1000 Prototyp, den Skynet noch als Ganzes aus polimimetischem Metall hergestellt hatte, bevor er zur Fertigung der T-X übergegangen war.
Er würde nicht lange brauchen, bis er von der unheimlichen Geschichte der spurlos verschwundenen Reisegruppe erfahren würde, deren komplette Campingausrüstung man im verwunschenen Trollwand gefunden hatte. Um die Zusammenhänge zwischen diesem Ereignis und dem Explosionsort eines der T-880, denn nichts anderes stellte dieser monströse Krater inmitten Ölands pittoresker Landschaft dar, in Verbindung zu bringen, mussten seine auf rudimentärer Nanotechnologie basierende und in der gesamten Masse gleichmäßig verteilte Prozessorchips nicht viel Arbeit leisten; das hätte auch ein Mensch vollbracht, der die Hintergründe gekannt hätte, mit denen er vertraut war.
Einen Tag später konnte er seine Ermittlungen auf der schmalen Ostseeinsel bereits abschließen, da er im einzigen Internetcafé der Insel alles gefunden hatte, was er wissen musste. Drei Mietwagen, abgestellt und verlassen aufgefunden in einem kleinen Fischerdorf am Südende Ölands und die von der Küstenwache ebenfalls leer auf hoher See vor Bornholm treibende Motorjacht, welche in besagtem Fischerdorf in derselben Nacht gestohlen worden war, sprachen Bände.
Sie hatten die Insel also schon vor Tagen wieder verlassen und sich sehr geschickt abgesetzt, wahrscheinlich aufs schwedische Festland. Die Vermutung, dass sie in Begleitung von mindestens einem Terminator waren, lag nahe. Nun, vielleicht waren sie gar nicht mehr im Land, auf jeden Fall aber würden sie so rasch wie möglich so viel Abstand wie möglich zwischen sich und Öland, ihrem letzten bekannten Aufenthaltsort gebracht haben.
Ein Rückschlag, sicher, aber nur ein zwischenzeitlicher.



Hallevik, Insel Rolla, Troms Fylke, Norwegen                         11. Juli 2004

Ein Summen, welches tieffrequent und durchdringend war, drang immer lauter werdend in Bernds Bewusstsein vor und weckte ihn. Langsam drehte er sich von der Wand weg und murmelte: „Karin?“
„Ja?“ Ihre Stimme kam vom Fenster her. Er blinzelte im Gegenlicht und erkannte ihre schlanke Silhouette im Gegenlicht.
„Was ist das für ein Geräusch? Ist schon Krieg?“
„Ich fürchte, das ist die hausinterne Version des allgemeinen Weckers. Gewöhn’ dich lieber dran.“
„Hm. Guten Morgen.“ Er gähnte und rieb sich die Augen, bevor er seine Beine über die Bettkante schwang und sich auf den Boden herabließ. Die Holzdielen waren angenehm warm, wie ihm jetzt zum ersten Mal auffiel, da er barfuss auf dem Zimmerboden stand. Sicher wurde er irgendwie geheizt, dachte Bernd, weshalb auch keine Heizkörper im Zimmer waren. Zusammen mit der ausgeklügelten Lüftung würde das sicher genügen.
Karin schlang ihre Arme um ihren Hals und küsste ihn kurz. „Sieh mal hinaus.“
Er folgte ihrer Anweisung und bemerkte: „Es regnet ja wie in Strömen.“
„Ja, obwohl man hier drinnen überhaupt nichts davon mitbekommt. Schon ein seltsames Gefühl, so abgeschottet zu leben.“
„Ja.“ Er kratzte sich seine Bartstoppel und sagte lahm: „Ich werde mal sehen, ob ich ein Waschbecken im Bad ergattern kann.“
„Ich komme nach.“ Sie gab ihm einen Klaps auf den Hintern und fügte noch hinzu: „Was meinst du, wie lange können wir diese Komödie durchziehen?“
„Kommt ganz auf dich an. Ich für meinen Teil beabsichtige einen Oscar für meine schauspielerische Leistung einzustreichen.“ Er lachte sie über die Schulter an, wurde wieder ernst und öffnete dann die Tür.
Das Frühstück war angerichtet, als Karin den Wohnraum betrat. Außer Shin und Ana, die in ihrem Zimmer wohl nicht sofort auf das Wecksignal reagiert hatten, saßen bereits alle am Tisch. Diesmal war ein Platz frei, der nicht direkt neben Bernds lag, auf welchen sie sofort zusteuerte. Natasha lachte ungewollt und merkte an: „Siehst du, es geht doch, wenn man nur rechtzeitig genug kommt.“
„Was bitte soll das heißen?“ erkundigte sich Karin mit aufgesetzter Höflichkeit, worauf Natasha nervös ihre Brille zurechtrückte.
„Simon sprang unerwartet für Natasha ein: „Na ja, du weißt schon...“
Als er zögernd stockte und hilfesuchend in die Runde sah, hakte Karin nach: „Ich weiß was schon? Sag es ruhig, wir sind doch eine große glückliche Familie hier.“
Silke sagte tonlos und ohne direkt zu ihr zu sehen. „Jeder von uns weiß es. Du bist nicht sehr glücklich über die Belegung der Räume. Und jetzt versuchen Bernd und du sogar bei jeder Mahlzeit nicht nebeneinander sitzen zu müssen. Es ist so offensichtlich, aber es macht mich traurig, das mit ansehen zu müssen.“
Bernd rückte seinen Stuhl zurück, erhob sich betont langsam und setzte sich mit versteinerter Miene neben Karin. „So, sind jetzt alle zufrieden? Ich möchte das für alle klar und deutlich sagen: Karin und ich werden einen Weg finden, unsere Differenzen beizulegen. Genau genommen haben wir schon einen Weg gefunden. Mehr müsst ihr nicht wissen, denn einen kleinen Rest an Privatsphäre gönnt ihr uns noch, oder?“
„Gut gesagt, mein Lieber“, lobte Karin und tätschelte mit verkniffenem Mund Bernds Arm, worauf es totenstill am Tisch wurde. Alle anderen hatten mit ihren jeweiligen Tätigkeiten inne gehalten und diese Szene verfolgt.
„Kann mir mal jemand die Milch reichen?“ erkundigte Bernd sich am anderen Tischende und beendete damit die Phase des Staunens.
Caroline raunte zu Aishe: „Bin mal gespannt, wie lange sie dieses Friede-Freude-Pfannkuchen-Getue durchhalten, bis sie sich wieder in den Haaren liegen.“
„Es heißt <Eierkuchen>, Gallierin“, fuhr Aishe sie leise an, „und ich glaube, sie halten das problemlos durch. Für mich sieht das nach einem echten Zeichen der Verbesserung aus.“
Daniel steckte den Kopf durch die Küchentür. „Natasha, Simon, Silke und Caroline, ihr kommt nach dem Frühstück bitte alle in den Keller hinab. Die anderen machen einen netten Spaziergang mit Alex.“
Ohne ein weiteres Wort zog er sich zurück, worauf erneut Schweigen am Tisch herrschte. Bernd sah Karin an und fragte: „Fällt dir etwas auf?“
„Ja, er hat alle aufgerufen, die sich zu unserem angeblich gespannten Verhältnis negativ geäußert haben. Und zwar in genau der Reihenfolge, in der sie sich dazu geäußert haben. Seltsam, nicht wahr?“
Natasha sah ihre alte Freundin ungnädig an: „Na und, soll ich jetzt Angst haben? Was kann schon passieren? Dass ich mit Bernd in ein Zimmer gesteckt werde, anstatt mit Caroline? Und wenn schon.“
„Ja, warum nicht?“ warf Bernd ein, worauf Natasha grinste und Karin ihm einen skeptischen Seitenblick zuwarf. Er reizte das Spiel wirklich aus.
„Das würde dir wohl so gefallen? Nein, danke“, winkte Natasha ab.
„Wer nicht will, der hat schon, was? Gefällt es dir auf einmal so gut in deiner kleinen Frauen-WG mit Caro?“ gab er eine Spur heftiger zurück, als es nötig gewesen wäre.
Caroline sah ihn mit kaltem Blick an und zischte: „Lass das bitte, das muss nicht sein, Bernd.“
Er hielt inne und lenkte dann ein: „Ja, du hast recht. Es gibt Wichtigeres als kleine Streitereien und verpasste Gelegenheiten. Unseren Spaziergang im strömenden Regen zum Beispiel, vor dem ihr vier euch ja meisterhaft gedrückt habt.“
Als er aufstand und seinen halbvollen Teller stehen ließ, sahen ihm alle nach. Shin und Ana rannten in der Tür fast in ihn hinein. Verständnislos sahen sie ihn hinausstürmen. Aishe schüttelte den Kopf. „Fragt nicht. Das meine ich ernst. Vier von uns haben schon gefragt.“
„Wir müssen uns nach dem Essen vom Rest der Gruppe trennen und uns im Keller melden. Zur moralischen Nachschulung, wie es aussieht.“ Natasha war ihr Widerwillen deutlich anzusehen.
Der Rest des Morgenmahles verlief in gedämpfter Atmosphäre, zum einen weil die vier Aufgerufenen nicht wussten, was sie erwarten würde und zum anderen weil der Rest der Gruppe sich nicht unbedingt auf einen Ausflug bei diesem fürchterlichen Wetter freute. Kurz bevor der erste der „Wandergruppe“ fertig war, sah Alex vom Flur aus zu ihnen herein.
„Guten Morgen. Ich habe euch angemessene Schutzkleidung auf eure Zimmer gebracht; Bernd legt seine bereits an. Wieso ist er nicht hier bei euch?“
„Das wissen wir nicht, er hat es uns nicht gesagt, als er aufgestanden und gegangen ist“, erklärte Caroline hastig.
Eine Sekunde erstarrte Alex, als müsse er das Gehörte verarbeiten, dann sagte er: „Das klingt einleuchtend. Ich treffe euch dann in ein paar Minuten auf dem Flur.“
Sobald er weg war, beendeten die letzten der Gruppe hastig ihr Mahl und gingen auf ihre Zimmer. Karin fand Bernd vor, wie er gerade eine grüne imprägnierte Sturmjacke zuknöpfte und sich dann die Kapuze mit eingearbeitetem Schild gegen Wind und Regen über den Kopf zog. Mitsamt den militärisch aussehenden schwarzen Stiefeln und einer zum Parka passenden Regenhose sah er gut gefeit gegen die Unbill des Regensturmes draußen aus. Aus dem kleinen Ausschnitt heraus, über dem der Schild seine Augen verdeckte, lachte er sie an: „Na, wie sieht das aus?“
„Wie ein halber Raumanzug.“ Sie grinste ihn schief an und griff zu ihrem Exemplar der Schutzkleidung, welches auf ihrem Bett lag. „Wie viel von deinem kleinen Ausbruch eben wegen Caroline war eigentlich echt?“
„Auf einer Skala von eins bis zehn? Eins. Ich wollte einfach die Gelegenheit nutzen, den Eindruck zu erwecken, ich würde immer noch trauern, weil sie mir eine Abfuhr erteilt hat.“
Karin schlüpfte in die gut sitzende und wärmende Hose und verzog das Gesicht beim Anblick des stumpfen neutralen Grüns. „Wie war das denn damals genau? Willst du darüber reden?“
Er zuckte mit den Schultern und meinte lapidar: „Das war eigentlich vorbei, bevor es richtig angefangen hat. Ich war anfangs schon ziemlich verschossen in sie, aber sie hat meine Gefühle wohl nicht in dem Maß erwidert, in dem ich sie ihr entgegen gebracht habe. Als ich ernstere Gefühle ausgedrückt habe, hat sie sich nach und nach zurück gezogen. Ich konnte förmlich zwischen den Fingern spüren, wie sie mir entglitten ist. Ich wollte sie festhalten, doch sie war wie mit Schmierseife eingerieben, ach was, wie mit Teflon beschichtet. Ich hatte keinen Ansatzpunkt, an dem ich Halt gefunden hätte. Ja, klingt blöd, ich weiß...“
„Nein, gar nicht“, entgegnete sie und schlüpfte in die engen schwarzen Lederstiefel mit hohem Schaft und langen Schnürsenkeln, die sie mehrfach über Ösen kreuzweise umschlingen musste, bevor sie sie zubinden konnte. „Für mich klingt das so, als würdest du das vernünftig verarbeiten wollen und als suchtest du deshalb nach einem passenden bildhaften Vergleich.“
Er nickte nachdenklich und sah ihr dann ernsthaft in die Augen. „Ich glaube, Caroline hat damals schon gemerkt, wie es in mir aussah, bevor ich selbst es realisiert habe. Dass ich nämlich in Wirklichkeit mit dir zusammen sein wollte, sobald ich dir in Köln wieder begegnet bin.“
Sie hielt kurz inne und musterte ihn. „Das ist dein voller Ernst.“
„Ja.“ Er griff sie an den Schultern und küsste sie lange und leidenschaftlich. Als sie voneinander abließen, zog sie schwer atmend den wasserdichten Reißverschluss bis unters Kinn zu, um darauf die zusätzliche Knopfleiste des Überschlags zuzuknöpfen.
„Wow. Ich kann nur hoffen, dass Caro nicht allzu schnell mitbekommt, was zwischen uns läuft. Ich glaube, sie könnte es dir am ehesten anmerken.“
„Und du musst dich gleich vor vier Leuten, nämlich Daniel, Abbey, Natasha und Simon in Acht nehmen. Sie alle kennen dich gut genug, um etwas merken zu können, oder?“ Er kratzte sich kurz an der Kapuze, unter der es ihm offenbar am Schopf juckte.
„Ja. Geh lieber schon mal vor, bis ich soweit bin. Schließlich warst du der erste auf dem Zimmer, der sich angekleidet hat.“ Sie zog an den Gummibändern ihrer Ärmel.
Wieder nickte er auf seine bedächtige, ernste Art und schlüpfte zur nur spaltbreit geöffneten Tür hinaus. Sie musste ungewollt lächeln. Wenn schon jemand auf dem Flur war, so musste es für sie ausgesehen haben, als wollte er lediglich verhindern, dass jemand in ihren Raum hineinspähen und sie beim Umziehen sehen könnte.
Als sie kurz darauf, noch mit herabgelassener Kapuze, auf den Flur hinaustrat, waren die anderen fünf ihrer Gruppe mitsamt Alex bereits anwesend. Milde erstaunt nahm sie wahr, dass der Cyborg keinerlei Regenkleidung außer einer normalen Lederjacke trug. Scheinbar gut gelaunt, soweit man das bei ihm beurteilen konnte, sagte er: „Wunderbar, damit sind wir vollzählig. Bitte immer zu zweit in die Schleuse.“
Augenblicklich war Bernd zu Shin in die enge Glaskammer geschlüpft, bevor Aishe auch nur eine Chance hatte, zu reagieren. Mit befremdeter Miene und in die Hüfte gestützten Händen funkelte sie den jungen Zivi an, der nur frech zurück grinste.
Kaum waren sie draußen, folgten ihnen Ana und Dimitri. Karin wollte von Alex wissen: „Ziehst du denn keine Regensachen an?“
„Ich benötige keine, da ich für den Einsatz im postnuklearen Winter konstruiert bin. So ein bisschen Regen ist noch das wenigste, was ich wegstecken kann. Meine Brennstoffzelle erhöht einfach ihren Wärmeausstoß geringfügig, um die organische Komponente auf Temperatur zu halten. Nach euch.“ Er wies auf die Glastür, die sich wieder entriegelt hatte, nachdem die letzten beiden Benutzer ins Freie getreten waren.
Aishe ließ Karin den Vortritt und zog dann mit aller Kraft an der dickwandigen, schweren Panzerglastür. Kaum hatte sie sich geschlossen, fragte die zierliche Türkin mit neugierig blickenden Glutaugen: „Und, macht ihr Fortschritte?“
Karin erstarrte einen Moment, bevor ihr Gehirn ihr Entwarnung signalisierte und sie betont lange seufzte: „Ja, ich denke schon. Auf lange Sicht gesehen, war es wahrscheinlich ein heilsamer Schock für uns beide, gegen unseren Willen in ein Zimmer gesteckt zu werden. Wir erinnern uns stets gegenseitig daran, warum wir überhaupt hier sind. Weißt du, irgendwie glaube ich, wir werden erst wirklich kapieren, was passiert ist, wenn es passiert ist. Wer kommt schon einfach so mit dem Konzept der Vorhersehung und des vorausbestimmten Schicksals zurecht?“
Aishe sah sie bewundernd an. „Du jedenfalls eher als ich. Und es hilft dir, den großen Rahmen zu betrachten?“
„Mir und Bernd. Wir sagen uns immer aufs Neue: wir sind alle nur Menschen. Wenn wir beide es nicht einmal schaffen, zurecht zu kommen, geben wir diesem verfluchten Computer am Ende noch Recht, wenn er alle Menschen für schlecht hält und deshalb alle umbringen will. Also reden wir viel miteinander, wenn es ein Problem gibt und versuchen uns zu arrangieren, so gut es geht.“ Sie machte ein gefasstes und beinahe feierliches Gesicht. <Dafür kassiere ich den Oscar>, dachte sie beim Verlassen der Schleuse. Bernd konnte seine Nominierung am besten gleich vergessen.
„Du gefällst mir immer besser, Mädchen.“ Sie stellten sich unbewusst zu den anderen unter den schützenden Überhang des tief hinabgezogenen Daches, obwohl sie eigentlich perfekt gegen den strömenden Regen geschützt waren. Aishe zupfte ihren Bund unten am Parka zurecht und meinte dann nachdenklich: „Ist dir auch aufgefallen, dass unsere Sachen wie angegossen passen?“
„Ja, du hast recht. Vor allem bei den Stiefeln wundert mich das. Wie machen sie das nur?“
Sobald Alex hinter ihnen ins Freie getreten war, fragten sie ihn danach. Er erklärte kurz angebunden, dass sie mittels ihrer räumlichen Tiefenwahrnehmung den genauen Körperbau jeder Person im Bedarfsfall, auch durch deren momentane Bekleidung hindurch, sehr genau vermessen und demnach deren Größe ermitteln konnten. Er gestand ein, dass er gestern Abend mit der Fähre nach Harstad gefahren war und die passende Bekleidung besorgt hatte. Offenbar war das einer der wenigen offenen Punkte in der Bestandsliste des T-X gewesen, als er das Haus ausgerüstet hatte.
Wortlos stapfte Alex los, wieder in Richtung Norden an der Küste entlang. Die Gruppe sah sich an, um sich dann dem Cyborg anzuschließen, dessen dunkelblonde Bürste bereits total durchnässt war und ihm am Kopf klebte. Er nahm keine Notiz davon.
Karin hörte sogar die einzelnen Tropfen im Inneren ihrer Kapuze auf selbige prasseln. Ihr kam es vor, als habe sie noch nie in ihrem Leben so starken Regen gesehen, der zudem auch noch vom unangenehm kühlen Südwestwind von See her übers Land getrieben wurde. Sie schmeckte zu ihrer Verwunderung nach wenigen Minuten bereits Salz auf ihren Lippen.
Sie schloß zu Bernd auf, der direkt vor ihr ging. „Schmeckst du das auch? Der Regen ist salzig.“
„Nein, nicht der Regen direkt. Ich glaube, das ist wegen der Nähe zum Meer. Wenn der starke Regen auf die Wasseroberfläche trifft, wird dabei eine kleine Menge Meerwasser hochgeschleudert. Der starke Wind trägt diesen feinen zerstäubten Meerwassernebel landeinwärts und erreicht uns damit.“ Sie konnte sein Gesicht nicht sehen, da er beim Abgeben dieser Erklärung wie alle anderen auch den Kopf gesenkt hielt, damit der Schild über der Stirn das Gesicht schützte. „Und voilà, Salz auf unserer Haut.“
Sie musste lächeln. Dieses Buch kannte sie. Eine nette kleine Anspielung, geschickt versteckt von ihm, falls einer der anderen etwas von ihrer Unterhaltung mithören würde.
Eine halbe Stunde später lächelte sie nicht mehr.
Ihre Augen brannten vom Salzwasser und ihre Lippen waren spröde und rau, kurz vorm aufplatzen. Doch es erging allen anderen ebenso, denn sie hatten schon lange die Ruine von Hallevik hinter sich gelassen.
Shin wurde auch ein wenig unruhig und fragte: „Wie weit willst du denn noch gehen, Alex?“
„Du kennst die Strecke bereits. Wir sind sie gestern gegangen.“
„Du willst im Ernst die ganze Wanderung bei diesem Wetter machen? Ist das nicht ein wenig übertrieben?“ fragte Dimitri mit einem mulmigen Gefühl im Magen.
„Ich fürchte, auf das Wetter können wir keine Rücksicht nehmen. Wir wissen nichts genaues über die Situation hier in diesem Gebiet während und nach dem Atomkrieg. Es kann demnach durchaus passieren, dass wir sehr lange Zeit auf das Innere des Hauses beschränkt sein werden. Heute werdet ihr diesem Marsch vielleicht nichts abgewinnen können, aber schon bald seid ihr mir sicher dankbar, dass ihr noch ein wenig freie Natur genießen konntet, solange das noch möglich war.“ Er machte ein beinahe ermutigendes Gesicht, was für seine Mimik hervorragend war.
„<Genießen> trifft es nicht so ganz, aber wenn du meinst...“ Seufzend nahm Dimitri wieder Schritt auf, doch Ana war hellhörig geworden.
„Wieso sagst du, ihr wisst nichts über die Auswirkungen des Krieges in dieser Region? Das alles hier ist doch vorausbestimmt, dachte ich?“
„Nein. Nach der Erinnerung eurer Alter Egos in der Zukunft habt ihr die Zeit nach dem Tag des Jüngsten Gerichts im Safehouse auf Öland verbracht. Der Angriff der feindlichen T-880 hat diese Zeitlinie durcheinander gebracht. Ohne die Voraussicht des T-X hätten wir uns selbst nach einem alternativen Safehouse umsehen müssen.“
Wie vom Donner gerührt blieb Ana stehen. „Das gefällt mir nicht. Ganz und gar nicht.“
„Tut mir leid, aber so stehen die Dinge nun mal.“ Unbeirrbar setzte Alex einen Fuß vor den anderen, stets gleichschnell und mit hohem Tempo.
„Das klang fast menschlich.“ Sie ließ sich frustriert zurück fallen und erzählte die Neuigkeit den anderen, die sie genauso wenig begeistert aufnahmen.
Sie hatten den Punkt erreicht, wo sie landeinwärts abbogen und auf der weitläufigen ebenen Fläche im Inneren der Insel durch den üppigen, dichten Mischwald von Rolla gingen. Shin begann sich bereits jetzt zu beklagen, dabei hatten sie erst ein Drittel der Wegstrecke zurückgelegt und mussten sich viel mehr vorsehen, da der Waldweg an vielen Stellen rutschig und matschig war.
Auf halbem Weg zwischen der Bergkette im Osten und der Westküste meinte er plötzlich: „He, ich habe eine Idee. Warum tun wir nicht einmal etwas Unvorhergesehenes? Alex legt so ein strammes Tempo vor, dass er gar nicht merken würde, wenn wir ausbüxen und eine Abkürzung durch den Wald zurück zum Haus nehmen würden. Das gäbe ihm vielleicht mal ein wenig zu denken, oder?“
Später konnte Karin nicht mehr genau sagen, warum sie alle das zu jenem Zeitpunkt für eine ausgezeichnete Idee gehalten hatten, aber sie waren tatsächlich bei der nächsten Möglichkeit nach rechts in den Wald abgebogen, wo ein schmaler Pfad in die ungefähre Richtung von Hallevik führte. Und tatsächlich hatte Alex sich nicht umgedreht und nichts davon gemerkt, als sie sich auf Kommando abgesetzt hatten und den schmalen, halb zugewachsenen Pfad entlanggesprintet waren, bis sie um die nächste Biegung und damit außer Sicht gelangt waren.
„Das wird ihn lehren, uns solche Gewaltmärsche bei diesem Sauwetter aufs Auge zu drücken. So, nun soll er mal zeigen, was er so drauf hat.“
„Ist euch eigentlich klar, was das bedeutet?“ fragte Bernd in die Runde.
Als alle gespannt schwiegen, ließ er die Bombe platzen. „Wir sind die ersten Menschen, die von einem Terminator richtig durchs Gelände gejagt werden. Noch vor Ausbruch des Krieges.“
„Dann kommt schnell weiter.“ Sie eilten durchs Dickicht des Waldes, das abseits des schmalen Weges immer undurchdringlicher wurde.
„Ich hätte nie gedacht, dass es so etwas irgendwo in Europa geben könnte. Das ist fast wie ein Urwald“, keuchte Ana, als sie nach wenigen Minuten ihr Tempo verringerten und gemächlicher weiterliefen.
„Das hier ist ein Urwald“, korrigierte Shin sie, „denn so nennt man einen Wald, in dem keine Forstwirtschaft betrieben wird und der im ursprünglichen Zustand belassen wurde. Daher auch das Wort Urwald.“
„Ja, schon klar. Da, wo du herkommst, gibt es das sicher auch, mein kleiner gelber Freund.“ Ana nervte es offenbar, vom jüngeren Asiaten so schulmeisterlich belehrt zu werden.
„In Thüringen? Das wage ich zu bezweifeln“, mischte sich Bernd ein, worauf Karin laut loslachte und Ana nichts mehr sagte.
„Ihr seid vom Weg abgekommen.“
Wie vom Schlag getroffen erstarten sie und fuhren auf dem Absatz herum. Alex stand genau vor ihnen; er hatte sich offenbar einen Weg mitten durchs unwegsame Unterholz des Waldes gebahnt, den zerrissenen Hosen und der völlig zerkratzten Lederjacke nach zu urteilen. Seine Hände und sein Gesicht waren von Kratzern und Schrammen überzogen, doch er wirkte völlig unbeteiligt, als ginge ihn das alles nichts an.
Als sie verdattert schwiegen, meinte er lediglich: „Wenn ich euer Verhalten richtig interpretiere, seid ihr nicht derselben Meinung wie ich, was den Aufenthalt im Freien bei diesen meteorologischen Bedingungen angeht. Nun, dann kehren wir eben zum Safehouse zurück. Wir können dort ein wenig weitertrainieren. Die Zurückgebliebenen können sich uns dann anschließen.“
„Wie... wie hast du uns gefunden? Wir sind doch... du bist direkt durch den Wald gelaufen, um uns abzufangen, oder?“ Shin konnte es nicht fassen.
„Das siehst du ganz richtig. Ich verfüge nicht nur über visuelle und Audiosensoren zur Ortung und Verfolgung meiner Ziele. Es war nicht schwer, euch zu umrunden und abzufangen.“
„Das ist total frustrierend“, meinte Dimitri ernüchtert und trat einen Stein vom Weg ins Dickicht. „Wenn ich mir vorstelle, dass du ein feindlicher Terminator gewesen wärst, hätten wir keine Chance gehabt.“
„Ja, und dabei bin ich ein älteres Modell der Reihe T-800.. aber daran kann man etwas ändern. Deshalb hat uns der Widerstand auch geschickt, denn ihr seid noch nicht bereit dafür, euch dieser Bedrohung zu stellen. Alles andere, was Skynet euch hinterher schicken könnte, ist noch weiterentwickelt als ich Und da wir wissen, dass noch mindestens zwei T-880 frei herumlaufen, schlage ich vor, ihr entfernt euch nicht mehr unbeaufsichtigt allzu weit vom Haus.
Es ist unter Umständen gut, dass dieser Vorfall stattgefunden hat. Ich werde die Gelegenheit dazu benutzen, mit Abbey und Daniel über eine Einweisung zu reden, die wir euch in Bezug auf das Verhalten geben müssen, das ihr in Sicherheitsbelangen einhalten solltet.“
„Na toll, jetzt werden sie uns endgültig wegsperren. Vielen Dank für diese tolle Idee, Shin“, zischte Ana ihm erbost zu.
„Laß mich bloß in Frieden, meinst du ich habe geahnt, dass das so ausgehen könnte? Wie hat er uns nur so schnell gefunden?“
„Bei diesen trüben Lichtverhältnissen und dem kühlen Regenwetter seid ihr wie leuchtende Punkte in tiefster Nacht, wenn man im Infrarotmodus nach euch sucht“, sagte Alex über die Schulter, ihn wieder einmal mit der Leistung seines elektronischen Gehörs überrumpelnd..
„Verd... hätte ich mir ja denken können. Infrarot! So ein Mist!“



Sie erreichten das Haus am späten Vormittag, als der Regen ein wenig nachließ. Nachdem ihnen ausreichend Zeit gegeben wurde, um sich zu duschen und umzuziehen, beendeten sie die Zeit bis zum Mittagessen mit einer knappen Stunde Gymnastik in der Übungshalle im Keller. Caroline, Silke und Simon waren bereits zum Anfang des Trainings zu ihnen gestoßen, schwiegen sich aber über den Grund ihres Fortbleibens während ihrer nasskalten Exkursion grinsend aus. Das einzige, was Silke schmunzelnd zu Karin sagte, war: „Es ist ganz anders, als ihr denkt.“
Sie musterte die junge, große Schweizerin, die mit offenen Haaren kaum wiederzuerkennen war, solch eine riesige nussbraune Strähnenmähne fiel bis über ihre Schultern. Irgendetwas war anders an ihr, aber sie kam im Moment nicht darauf, was das sein könnte. Auch als sie Simon und Caroline musterte, glaubte sie einen Unterschied zu ihrer sonstigen Erscheinung am Rande zu bemerken, doch so sehr sie ihr Hirn auch marterte, sie konnte es nicht eruieren.
Nach dem Sport noch mal unter die Dusche, noch mal umziehen und dann fanden sie sich zum Mittagessen ein. Sie saßen bereits am Tisch und waren mitten am Essen, als Natasha sich zu ihnen gesellte und sich lächelnd an den einzigen freien Platz setzte.
Auf einmal fiel es Karin wie Schuppen von den Augen. Ihr Blick zuckte hinüber zu Simon, Silke und Caroline, bevor sie herausplatzte: „Ihr vier, wo sind eure Brillen?“
Simon grinste breit und sagte: „Ich war mir sicher, dass du es zuerst bemerken würdest.“
Natasha drehte kokett eine Strähne ihres fast hüftlangen Haares um einen Finger und fügte wie beiläufig hinzu: „Wir werden unsere Sehhilfen nicht mehr brauchen. Abbey und Daniel haben uns erklärt, dass es wichtig für uns sei, in Zukunft nicht blind wie ein Maulwurf übers Schlachtfeld irren zu müssen, wenn wir unsere Brille einmal in der Hitze des Gefechts verlieren sollten. Das heißt, unser Sehfehler ist von ihnen behoben worden.“
„Echt? Wie denn das?“ fragte Ana.
„Mit Lasertechnik. Sie haben das echt fachmännisch gemacht, muss ich sagen. Obwohl ich mir nicht ganz sicher bin, was das für ein Laser war. Sie haben eine Weile an dem Ding rumgebastelt, bevor sie ihn benutzen konnten. Daniel ist anscheinend noch immer dabei, das Ding in seinen ursprünglichen Zustand zu bringen. Aber immerhin hat es funktioniert.“ Natasha blinzelte wie zur Bekräftigung.
„Ja, und bei mir haben sie festgestellt, dass ich eigentlich gar keine Brille mehr brauche. Ich hatte fünf Jahre lang unter einem Dioptrin, war aber nie mehr beim Optiker. Und als sie jetzt nachgemessen haben, hat Daniel festgestellt, dass mein Sehfehler durch das Brillentragen behoben ist. Toll, oder?“ Caroline sah nach Bestätigung heischend in die Runde.
„Interessant.“ Bernd war genauso erstaunt wie alle anderen. Mit dieser „Aktion Sehhilfe“ war auch dem letzten von ihnen endgültig bewusst geworden, dass sie für Großes vorgesehen waren, wenn solche Anstrengungen unternommen wurden, um ihnen das Leben zu erleichtern und ihre Fähigkeiten zu steigern.
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