Das Mordkomplott
von Heike
Kurzbeschreibung
Eine Geschichte um Rochefort und seine Zeit bei den Musketieren (basierend auf dem Film "Die drei Musketiere" von 1993, Disney)
GeschichteAbenteuer / P12 / Gen
Aramis
Athos
Graf Rochefort
Porthos
26.11.2005
21.07.2006
7
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26.11.2005
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Am Abend des gleichen Tages hatten die Musketiere sofort versucht, Tréville zu informieren, doch dieser war beim König, vermutlich, um von ihm zu erfahren, wie sich d´Artagnan als Leibwächter angestellt hatte. So erfuhr Tréville noch nichts von dem, was passiert war. Die Musketiere, die Rochefort ins Hauptquartier brachten, sorgten dafür, dass er einen ruhigen Raum bekam. Er war aus seiner Ohnmacht noch immer nicht erwacht, was sie alle sehr beunruhigte. Man hatte einen Arzt kommen lassen, es war der persönliche Leibarzt Trévilles, der den Musketieren ebenfalls zur Verfügung stand. Er war ein dicker Mann mit einem roten Gesicht und vollen, rosigen Lippen. Er sprach mit sehr weicher Stimme und es schien stets, als würden die Worte wie Konfitüre von seinen Lippen tropfen. Doch trotz dieser eher unangenehmen Äußerlichkeiten war er ein sehr fähiger Arzt und besaß Trévilles vollstes Vertrauen, welches er durch die ausgezeichnete Pflege seiner Patienten, zu denen oft genug auch Tréville selbst zählte, rechtfertigte.
Dieser Arzt nun sah sich Rocheforts Auge an, beziehungsweise das, was davon übrig war und schickte dann die anderen Musketiere aus dem Raum. Sie erfuhren also nicht, was der Arzt da tat, doch als nach einer halben Stunde der junge Mann, der Rochefort auf sein Pferd genommen hatte, wieder hereindurfte, war Rocheforts Kopf so verbunden, dass das linke Auge von einem Verband bedeckt war.
Der Musketier, ein hübscher Mann mit einem schwarzen Schnurrbart, de Jambert geheißen, wandte sich an den Arzt, der in einer Schüssel, die mit Wasser gefüllt war, seine zum Fürchten aussehenden Instrumente reinigte.
"Oh Monsieur le docteur, was wird nun? Ist er wach?"
"Nein, ist er nicht", sagte der Arzt und die Worte tropften von seinen Lippen. Ruhig und gemessen trocknete er mit einem weichen Tuch ein Gerät, welches an einem Ende eine gebogene Spitze hatte.
"Er hat Opium eingeatmet und wird eine Zeit schlafen. Wie lange... das kann ich nicht genau sagen. Und sein Auge... Tja, so Leid es mir tut, aber bei Duellen... er hat keine Chance mehr gehabt. Das linke Auge war nicht mehr zu retten."
Der Arzt zuckte mit den Schultern. Wie jeder in seinem Metier, der noch ein bisschen Menschlichkeit in sich hatte, lehnte er es ab, wegen solcher Kleinigkeiten wie Streitereien Blut zu vergießen. Daher hatte er für Rochefort auch kein Verständnis, dieser war seiner Meinung nach selbst Schuld, dass er von nun an mit einer Augenklappe herumlaufen musste, wollte er nicht den Leuten den Anblick einer leeren Augenhöhle zumuten.
Monsieur de Jambert schüttelte den Kopf und setzte sich vorsichtig an Rocheforts Bett, dabei die schönen Hände ineinander verschränkend. "Mon Dieu, es ist furchtbar, dass es so gekommen ist. Sagt, Monsieur le docteur, darf er Besuch empfangen?"
"Sobald er wach ist, wird er sich auch daran erfreuen können", meinte der Arzt. "Meinetwegen können so viele Besucher kommen, wie er Freunde hat."
Er packte seine Sachen zusammen. Trotz seiner Leibesfülle bewegte er sich überraschend behende.
"Spätestens morgen früh", sagte er mit weicher Stimme und strich sich über die sehr kurz geschnittenen Haare, "wird Euer Freund wieder aufwachen. Geht nach Hause, Monsieur, Ihr könnt nichts mehr für ihn tun."
Jambert nickte, erhob sich und nahm seinen Hut, den er während des Besuches auf Rocheforts Bett abgelegt hatte.
Der Arzt trat ein letztes Mal an das Bett des Verwundeten. "Diese Duelle", brummte er und zum ersten Mal klang seine Stimme nicht so weich wie gewöhnlich. "Das bringt sie alle noch ins Grab. Lauter junge hoffnungsvolle Edelleute."
Monsieur de Jambert lächelte schwach. "Wir wollen es doch so, Monsieur. Es ist zwar tragisch, dass Ihr dann die Wunden versorgen müsst-"
"Ihr habt den Krieg noch nicht gesehen, junger Mann?", fragte der Arzt.
Jambert schüttelte den Kopf. Der Arzt nickte, als hätte er dies erwartet und verließ das Zimmer.
Monsieur de Jambert verließ ebenfalls das Zimmer und ging aus dem Hauptquartier geradewegs in das Wirtshaus "Zum Goldenen Stern", wo er Athos, Porthos, Aramis und den anderen Musketier, der mit ihm Rochefort geholt hatte, treffen wollte. Es war bereits dunkel, als er in die Schenke eintrat. Drinnen war es warm und verräuchert, fast alle Tische waren besetzt.
Als sich Monsieur de Jamberts Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, gewahrte er schließlich auch seine Kameraden, die im linken Teil des Schankraumes an der Wand saßen. Er ging zu ihnen und setzte sich zwischen Aramis und den anderen Musketier, George du Grés geheißen.
"Wie geht es ihm?", fragte Aramis beunruhigt, als er Jamberts ernstes Gesicht sah.
Jambert zuckte mit den Schultern. "Wie soll es ihm gehen? Er ist noch immer ohnmächtig, Opium... Das linke Auge..." Jambert brach ab und nahm einen Schluck von dem Wein, den ihm ein Mädchen hinstellte.
Aramis warf Athos einen kurzen Blick zu. Dieser schüttelte ernst den Kopf. "Das ist entsetzlich", sagte er mit etwas heiserer Stimme.
"Ob er noch weiterhin Musketier bleiben wird?"
Du Grès, ein untersetzter Mann von etwa fünfundvierzig Jahren, zuckte mit den Schultern. "Es gibt viele Soldaten mit nur einem Auge. Die andere Frage ist, ob er noch weiterhin mit d´Artagnan wird leben können."
Aramis schüttelte langsam den Kopf und strich sich die langen schwarzen Haare aus der Stirn. "Ich wusste nicht, dass sie so verfeindet mit einander waren", sagte er dabei mit seiner angenehm tiefen Stimme.
"Sie konnten sich noch nie leiden", erklärte Jambert. "Aber eigentlich dachte ich, es wäre geklärt. Angeblich sollen sie sich vorhin noch ganz normal unterhalten haben."
Du Grés schnaubte und zerrte an seinem buschigen Schnurrbart, der schon leicht ergraut war. "Die beiden können sich sehr gut beherrschen, glaube ich. Ich habe schon einige Male bemerkt, wie sie sich vorher voller Hass angestarrt haben und, wenn sich jemand ihnen näherte, über das Wetter oder die Familie gesprochen haben."
"Familie?", fragte Aramis erstaunt. "Wer von ihnen hat denn Familie?"
"D´Artagnan", antwortete du Grés. "Aber seine Frau und sein Sohn wohnen in der Gascogne, der Heimat d´Artagnans. D´Artagnan hat mir mal erzählt, dass er sich in ein paar Jahren wieder seiner Familie widmen möchte."
"Er will die Kompanie verlassen?", fragte Jambert überrascht. "Das kann ich mir gar nicht vorstellen."
"Nun, es ist aber so. Bisher hatte er ja kaum Zeit für seine Angehörigen."
"Nun, dann ist es doch verständlich", meinte Porthos. "Allerdings hätte ich an seiner Stelle dafür gesorgt, dass meine Familie hier in Paris lebt."
Monsieur du Grés lächelte breit. "Seine Frau meinte aber, es sei für ihren Sohn besser, wenn dieser nicht in der Stadtluft aufwachse. Der Sohn ist inzwischen schon an die siebzehn Jahre alt, wenn ich mich recht entsinne. Vor ein paar Jahren war er mal in Paris. Er ist das Ebenbild d´Artagnans. Lockige Haare, genauso gebaut. Natürlich möchte er ebenfalls Musketier werden. Hat seinen Vater vergöttert-"
Die Tür des Wirtshauses öffnete sich und ein großer, kräftiger Soldat in der roten Uniform der Garde des Kardinals trat ein. Er hielt sich sehr gerade, hatte den linken Arm in der Schlinge und braune Haare und einen Spitzbart. Mit heldenhafter Miene setzte er sich zu einigen Gardisten, die auf der rechten Seite des Schankraumes saßen.
Monsieur de Jambert pfiff durch die Zähne.
"Sieh mal einer an, Monsieur de Jussac, Leutnant der Garde des Kardinals. Ich hätte nicht gedacht, dass er sich von unserem Duell vorgestern so schnell erholt."
Athos, Porthos und Aramis, die den Leutnant noch nicht kannten, wandten sich unauffällig um. "Den Stich habt Ihr ihm beigebracht?", fragte Porthos begeistert und strich mit der rechten Hand über einen Dolch, eine seiner neueren Errungenschaften, die allerlei Tücken hatte "Das ist ja großartig."
"Nicht wahr?", bestätigte der junge Mann bescheiden. "Es war gar nicht so schwer. Ob er jetzt seinen Pflichten bei der Garde nachkommen kann?"
"Wahrscheinlich nur schwer", sagte Monsieur du Grés. "Immerhin muss er ja alles allein machen." Sie sahen sich an und grinsten breit.
Aramis sah sie erstaunt an und strich sich über seinen Bart. "Darf man erfahren, was daran so amüsant ist?"
"Natürlich, bitte verzeiht", sagte Jambert. "Die bedauernswerte Garde des Kardinals hat keinen Hauptmann mehr. Seit etwa... vier Tagen." Die beiden Musketiere grinsten spöttisch.
Porthos sah sie verständnislos an, während Aramis´ Mundwinkel verdächtig zuckten. "Das ist ja höchst bedauerlich. Wer war denn dieser Hauptmann?"
"Monsieur de Cavois. Friede seiner Überreste."
Aramis bekreuzigte sich unauffällig, was Athos, der still ein Glas Wein nach dem anderen leerte, zu einem traurig- überheblichen Lächeln veranlasste.
"Cavois?", fragte Porthos mit nachdenklichem Gesicht. "Hieß so nicht eine Adelsfamilie an der Küste?"
"Natürlich. Sie sind ständig zur See gefahren, die Vorfahren des verblichenen Hauptmannes. Haben es mit bösen Piraten zu tun gehabt." Monsieur de Jambert kicherte, der Wein tat seine Wirkung.
"Nein, wartet", rief Porthos. "War es wirklich so?"
"Ach, man erzählt es sich. Warum fragt Ihr denn?"
"Ach nichts, schon gut", grummelte Porthos und zupfte an seiner Schärpe.
"Gehörtet Ihr etwa auch zu den bösen Piraten?", fragte Monsieur du Grés interessiert. "Ihr habt uns noch gar nicht erzählt, wo Ihr eigentlich herkommt."
"Ach, aus der Gegend so", brummte Porthos scheinbar gleichmütig.
Aramis und Athos sahen ihren Freund erstaunt an. "Tatsächlich?", fragte Aramis. "Das wussten wir ja gar nicht."
"Ist ja auch nicht so wichtig", sagte Porthos hastig und winkte ab. "Reden wir lieber von Jussac. Er hat jetzt den Hauptmannsposten übernommen?"
"Nur auf Zeit", erklärte Jambert, während er das nächste Glas Wein leerte. "Er macht jetzt beides gleichzeitig und ist damit sichtlich überfordert."
George du Grès wollte noch etwas zu Porthos sagen, unterließ es dann aber, als dieser ihn wütend anfunkelte.
"Warum gibt es keinen anderen Leutnant?", fragte Aramis erstaunt, der dies nicht bemerkte.
"Glaubt Ihr, es gibt einen Gardisten, der dazu fähig ist?", fragte Jambert und gluckste. "Ich nehme an, der Kardinal hat noch keine geeignete Persönlichkeit dafür gefunden. Eigentlich brauchen sie ja einen richtigen Hauptmann und das müsste einer sein, der fähig ist, diese Bande unter Kontrolle zu halten. Das sind doch alles Taugenichtse."
"Darauf trinken wir", meinte Monsieur du Grés.
Sie stießen an.
D´Artagnan hatte, als er festgestellt hatte, dass Monsieur de Tréville auf einer Festlichkeit weilte, aus der man ihn schlecht wegholen konnte, den Heimweg angetreten. Es war schon sehr spät und bereits dunkel. Der Musketier war erschöpft und hatte nur den einen Wunsch, sich hin zu legen und von seinem Diener die kleineren Wunden und Kratzer versorgen zu lassen. Im Gegensatz zu Rochefort hatte er das Duell sehr glücklich überstanden, allerdings konnte ihn das nicht allzu sehr zufrieden zu stellen. Immerhin war es ihm ein wenig unangenehm gewesen, Rocheforts blutbedecktes Gesicht zu sehen- einer der Gründe, warum er nicht dageblieben war, um zu warten, bis die Musketiere, die er losgeschickt hatte, um den Verwundeten zu holen, wiederkamen. Er war nicht feige- wer es wagte, ihn so zu nennen, konnte am nächsten Tag damit rechnen, eine Aufforderung zu einem Duell zu bekommen- doch er wollte Rochefort, den er fast nur spöttelnd und immer kampfbereit kannte, nicht ohnmächtig und völlig hilflos im Krankenzimmer liegen sehen. Er hätte ohnehin nichts für ihn tun können.
D´Artagnan ging eine kleine Straße hinter der Bastille entlang, als das leise Knarren einer Tür ihn den Schritt verhalten ließ. Aus einem unauffälligen Ausgang trat ein dem Musketier wohlbekannter Mann. Dieser Mann war kräftig, aber schlank gebaut, hatte, was man in der Dunkelheit selbstverständlich nicht erkennen konnte, fuchsrote Haare und eine blasse, unreine Gesichtshaut. Die grüngrauen Augen traten froschähnlich hervor. Während dieser Mann aus der Tür trat- einer Tür, die, wie d´Artagnan wusste, ein eher unauffälliger Ausgang der Bastille war- während dieser Mann also aus der Tür trat, zerrte er an seinen Manschetten, als wolle er etwas in Ordnung bringen.
D´Artagnan lächelte vor sich hin und schritt rasch und leise auf den Mann zu, den er trotz der finsteren Nacht sofort erkannt hatte.
"Guten Abend, Monsieur de Jounieux", sagte er dann deutlich und zog den Hut.
Der mit Jounieux angesprochene fuhr zusammen und starrte den Musketier an, wie eine Erscheinung. Doch dann fasste er sich rasch.
"Oh, Monsieur d´Artagnan", sagte er unmutig. "Euch trifft man immer dann, wenn man Euch nicht braucht."
"Das werdet Ihr noch oft feststellen", lächelte d´Artagnan freundlich. "Es ist immer wieder schön, Euch zu treffen, so herzerfrischend, mit Euch zu plaudern. Was tut Ihr denn hier in dieser Gegend?"
Monsieur de Jounieux funkelte ihn böse an. "Ich hatte mich verlaufen", log er dann unverschämt. "Auf Saint-Louis und bin dann hier gelandet."
D´Artagnan lachte, als glaubte er diese Geschichte. "Es ist erstaunlich, dass Ihr Euch nichts merken könnt. Niemand könnte Euch für so verwirrt halten, dass Ihr Euch nicht auf der kleinen Insel zurecht findet und dann hier her gelangt."
Jounieux knischte mit den Zähnen, antwortete jedoch nicht.
D´Artagnan musterte ihn lächelnd und anscheinend ohne Argwohn. "Wie geht es Eurer Tochter, Monsieur? Ist sie immer noch nicht vergeben?"
"Meine Tochter geht es gut, danke der Nachfrage", antwortete Jounieux, ohne auf die letzte Frage einzugehen. "Euer Sohn, so hörte ich, hat schon wieder ein Duell gegen meinen Sohn verloren."
"Wie könnte er auch gewinnen", sagte d´Artagnan heiter. "Euer lieber Sohn Girard ruft ja immer seine vier Brüder zur Hilfe, wenn er sein Heil nicht gerade in der Flucht sucht."
"Lügengeschichten, in der Tat. Euer Sohn ist so sehr Gascogner, er übertreibt maßlos." Während er dies sagte, griff Monsieur de Jouniuex in seinen Ärmel, um sein Taschentuch hervor zu ziehen. Er ging dabei sehr sorgfältig vor, was d´Artagnan auffiel. Er gab sich jedoch den Anschein, nichts zu bemerken und wischte sich gelangweilt über sein Wams, als sei es staubig. Sein Gegenüber musterte sein Wams und zog das Taschentuch vollends heraus. Dabei entfiel ihm, ohne dass er es bemerkte, ein zusammengefaltetes Papier, welches er offensichtlich vorher mit so viel Mühe im Ärmel verstaut hatte, als er aus der Tür getreten war.
"Euer Sohn ist doch auch Gascogner", sagte d´Artagnan scheinbar erstaunt und hütete sich, auf den Boden zu blicken.
"Ja, aber er denkt sich nicht irgendwelche hanebüchenen Geschichten aus, um nicht eingestehen zu müssen, dass er verloren hat, wie Euer Sohn es tut."
"Da habt Ihr natürlich Recht, so etwas würde Euer Sohn nie tun. Er verliert ja sowieso."
Jounieux schnaubte und wandte seine Aufmerksamkeit dann seinem Taschentuch zu. Ohne große Anmut putzte er sich die Nase und stopfte das Tuch dann wieder unordentlich in den Ärmel.
"Ich glaube nicht", sagte er dann ärgerlich, "dass ich Euch darauf irgendetwas erwidern muss. Ihr werdet die Güte haben, mich zu entschuldigen, ich kann meinen Abend nicht mit Nichtstun verschwenden, wie die Musketiere des `Königs´ es tun."
Um die Mundwinkel d´Artagnans zuckte es, doch er nickte nur. "Selbstverständlich, Monsieur. Ich wünsche Euch eine angenehme Nachtruhe."
Er verneigte sich kurz, Monsieur de Jounieux nickte grüßend und verschwand in einer Seitengasse.
D´Artagnan wartete einen Moment und blickte Jounieux hinterher, bis dieser nicht mehr zu sehen war. Dann beugte er sich nach unten und hob den Zettel auf. Dieser hatte trotz des Schmutzes keinen besonderen Schaden erlitten. D´Artagnan faltete ihn langsam auseinander und las:
Rue de Vaugirard, "Zum Goldenen Huhn", 23. April, Letztes Treffen, die anderen informieren
D´Artagnan starrte schweigend den Zettel an und überlegte. Der dreiundzwanzigste April war heute und Monsieur de Jounieux war Gegner der Royalisten. Man wusste allerdings nicht, ob er Kardinalist war. Der Musketier wusste nur, dass er ein Feind des Königs war... ein Feind allerdings, dem man nichts anhängen konnte. Sein ehemaliger gascognischer Nachbar war in Richtung Rue de Vaugirard verschwunden, sogar recht eilig.
D´Artagnan steckte den Zettel ein und ging über einen Umweg ebenfalls in Richtung Rue de Vaugirard. Er konnte sich sein Handeln selbst kaum erklären, doch er hatte ein Gefühl, als drohe Unheil. Schon nach kurzer Zeit begann der Musketier zu laufen und hatte immer nur den Wunsch, nicht zu spät zu kommen.
Als er in die Rue de Vaugirard dann einbog, verhielt er etwas, um erst einmal wieder zu Atem zu kommen. Außerdem versuchte er zu lauschen, doch er hörte nichts. Langsam und argwöhnisch ging er die etwas breitere Straße entlang und bemühte sich, die Dunkelheit mit den Augen zu durchdringen. Plötzlich öffnete sich nicht weit vor ihm eine Tür, ein heller Schein fiel auf den schmutzigen Boden und ein Mann wurde aus der Tür geschoben. "Schlaf deinen Rausch woanders aus", hörte er noch eine bräsige Stimme und dann wurde die Tür wieder zugeschlagen. Der auf diese unsanfte Art hinausbugsierte Mann ächzte und stöhnte und schien sich sehr anzustrengen, hochzukommen. Der Musketier kam langsam näher- nicht um zu helfen, sondern um festzustellen, ob diese Kneipe "Zum Goldenen Huhn" hieß. Der am Boden liegende Mann schaffte es endlich, auf alle Viere zu kommen und kroch ein Stück weit auf die andere Straßenseite zu. D´Artagnan bezweifelte, dass es dort sauberer war, doch er hinderte den Anderen auch nicht an seinem Vorhaben, zumal ihn dieser überhaupt nicht bemerkte. Der Musketier sah zu der Schenkentür und versuchte, das Schild zu entziffern. Er konnte nur erkennen, dass neben dem Schilde eine Laterne hing, die nicht brannte. Nach einem kurzen Moment des Starrens sah d´Artagnan auf dem Schild endlich ein Huhn an einem Bratspieß und bezweifelte nun nicht mehr, dass es diese Schenke war, die Monsieur de Jounieux aufsuchen wollte.
Er warf noch einen letzten Blick auf den Mann auf der anderen Straßenseite, den er allerdings nur als graue Masse wahrnehmen konnte und öffnete dann entschlossen die Tür, um einzutreten. D´Artagnan erkannte sofort, dass die Trunkenheit in dieser Kneipe schon so weit gediehen war, dass die meisten der Zecher nichts mehr von ihrer Umgebung mitbekamen, schrien und pöbelten und immer noch mehr tranken. Ein Mann sprang auf den Tisch und grölte, während er er versuchte, Gewalt über seine eigene Stimme zu bekommen: "Brüder! Müssen wir uns das gefallen lassen?! Ich sage euch-" Er brach mitten im Satz ab, sein Blick wurde glasig und er kippte seitlich vom Tisch, ohne, dass sich einer der Umstehenden die Mühe gemacht hätte, ihn aufzufangen.
Der Wird, ein behender, überraschend gut gepflegter Mann, trat auf d´Artagnan zu und murmelte leise: "Geht durch und dann die Treppe runter."
D´Artagnan verbarg gekonnt seine Überraschung und nickte. Dann zog er den Hut ins Gesicht und ging er an den Betrunkenen vorbei, die fluchten, wenn er sie versehentlich oder absichtlich anstieß und gelangte schließlich an eine Tür. Er drehte sich um, unsicher, ob es die richtige Tür sei und erblickte den Wirt, der ein Tablett in beiden Händen trug und heftig nickte und ihm ein Zeichen machte, weiter zu gehen. D´Artagnan öffnete die Tür und wäre fast die Treppe heruntergefallen, die sofort hinter der Tür begann. Langsam begann der Musketier sie herunterzusteigen, wobei ihm nun das Herz bis zum Halse klopfte. Die Treppe war sehr steil und eng und er musste sich an der Wand abstützen. Es war nichts zu hören außer seiner eigenen Schritte. Als er unten angekommen war, gewahrte er einen schwachen Lichtschein, der unter einer dicken Tür schwach hervordrang und trat leise näher. Eine angenehm sonore Stimme sagte in ruhigem Tonfall: "Dann wäre das ja geklärt. Wer möchte derjenige sein, der den tödlichen Schuss abgibt?"
"Die Ehre, einen König zu ermorden, hat man nicht allemal", erwiderte eine schrille, männliche Stimme. "Überlasst es mir!"
D´Artagnan hatte die ganze Nacht kein Auge zugemacht, zu sehr bewegte ihn, was er im "Goldenen Huhn" erlauscht hatte. Er hatte sich nach etwa einer Viertelstunde von seinem Lauscherposten wegbegeben und war zum Hauptquartier geeilt. Der Wirt war glücklicherweise nicht im Schankraum gewesen, als d´Artagnan gegangen war und so hatte er sich unbehelligt entfernen können. Doch beim Hauptquartier angelangt, musste er feststellen, dass alles in tiefster Dunkelheit lag und die wachhabenden Musketiere sagten ihm, was er ohnehin schon wusste, dass der Hauptmann auf einer Festlichkeit war und nicht vor vier Uhr morgens zurückerwartet wurde.
Also war d´Artagnan nach Hause gegangen, um sich einige Stunden Schlaf zu gönnen, da er sich noch wegen des Duells, das ihm jetzt ganz unwirklich und sehr fern erschien, wie gerädert fühlte. Doch auch in seiner Wohnung fand er keine Ruhe und ging nur stundenlang auf und ab oder saß grübelnd auf dem Bette, da er für den Schlaf nicht die Muße fand. Schließlich graute der Morgen und um sechs Uhr fand sich der Musketier im Hauptquartier ein.
Er ließ sich seinem Hauptmann melden, doch es dauerte eine gute halbe Stunde, ehe er empfangen wurde. Überraschenderweise hatte der Hauptmann vor ihm noch andere Musketiere vorgelassen, was d´Artagnan sehr ungewöhnlich fand, da er selbst eine bevorzugte Stellung genoss. Als er jedoch endlich gegen halb sieben Uhr herein gerufen wurde, musste er feststellen, dass sein Stern beim Hauptmann augenscheinlich im Sinken war. Denn der Hauptmann kochte geradezu vor Wut.
"Da haben wir ja den Herrn Leibwächter!" dröhnte Monsieur de Tréville und schlug mit der Faust auf den Tisch. "Glaubt Ihr, Ihr habt Privilegien und seid etwas Besseres als Eure Kameraden?"
D´Artagnan wusste nicht, was er von diesem Ausbruch halten sollte. Er war übernächtigt und hatte seinem Hauptmann sehr wichtige Neuigkeiten mitzuteilen und war sich keiner Schuld bewusst. "Monsieur le capitaine, ich weiß nicht, womit ich Euer Missfallen verdient habe."
Monsieur de Tréville kniff die Augen zusammen und knirschte mit den Zähnen. Dann polterte er los: "Ach, tatsächlich, das wisst Ihr nicht? Soll ich Euch den Grafen de Rochefort vielleicht auf einem silbernen Tablett servieren, damit es Euch wieder einfällt?"
D´Artagnan hätte beinahe laut gelacht. Sein alter Feind erschien ihm jetzt harmlos im Gegensatz zu dem, was er zu berichten hatte.
"Monsieur le capitaine, die Sache mit Rochefort tut mir aufrichtig leid, aber-"
"Tut Euch leid?", fragte Tréville laut und kam auf den Musketier zu. "Tut Euch leid, ist ja reizend, d´Artagnan!" Der Hauptmann der Musketiere baute sich vor seinem besten Musketier auf und fragte sehr leise und bedrohlich: "Glaubt Ihr, für Euch gelten diese Regeln hier nicht? Glaubt Ihr, Ihr zählt nicht mehr zu den einfachen Musketieren?"
D´Artagnan sah seinen Hauptmann offen an. "Doch, Monsieur le capitaine, ich bin ein Musketier wie jeder andere von uns. Aber ich habe Euch etwas Wichtiges mitzuteilen."
"Das interessiert mich jetzt nicht!", erwiderte Tréville streng. "Wie wollt Ihr das wieder in Ordnung bringen, d´Artagnan? Duelle sind verboten! Vor allem in der Kompanie. Untereinander! Musketiere! Duellieren sich miteinander!" Offenbar konnte es Tréville gar nicht fassen. "Was habt Ihr Euch dabei gedacht?"
"Nichts", bekannte d´Artagnan, der einsah, dass er jetzt ein bisschen Geduld aufbringen musste, sonst würde ihn sein Hauptmann nie anhören. "Der Graf de Rochefort und ich haben schon lange eine Gelegenheit gesucht, ein Duell austragen zu können..."
Tréville sah den Musketier schweigend an. Dann fragte er: "Wie ist es dazu gekommen?"
D´Artagnan zuckte mit den Schultern. "Der Graf hat mich gestern abgefangen. Es kam eins zum andern, wir provozierten uns gegenseitig. Es... musste eben zu einem Duell kommen."
"Und warum musste es dazu komen?", fragte Tréville, der sich allmählich beruhigte.
D´Artagnan atmete auf. "Nun ja, wir konnten uns nie besonders leiden. Es ging wohl immer darum, wer der Bessere sei. Dass ich zum Leibwächter ernannt wurde, wurmte ihn wohl ein wenig... Und so ist es passiert."
Tréville zog die Augenbrauen hoch. "Rochefort ist eifersüchtig auf den Posten gewesen? Nun... das erklärt einiges."
D´Artagnan nickte und fragte sich, ob dies nun eine Gelegenheit wäre, mit seiner Mitteilung zu kommen. Doch der Hauptmann kam ihm zuvor. "Wie wollt Ihr das wieder gut machen?"
Der Musketier sah auf den Schreibtisch des Hauptmannes, der wie üblich mit Papieren aller Art überladen war. "Ich weiß es nicht, Monsieur le capitaine... Wie geht es ihm denn?"
"Ohnmächtig", antwortete Tréville knapp. "Seit gestern Abend. Er liegt immer noch hier im Krankenzimmer."
"Und der Arzt?" fragte d´Artagnan zögernd.
"War heute schon bei ihm. Das Auge ist raus, meint er. Und ob er wieder aufwacht... besonders kräftig ist seine Konstitution nicht..."
D´Artagnan musste trotz allem lächeln. Der Graf de Rochefort war sehr dünn, fast mager. Da er, wenn er seine Uniform nicht trug, oft dunkle Farben bevorzugte, wurde dieser Eindruck noch verstärkt.
Tréville beobachtete ihn. D´Artagnan nahm Haltung an. "Es wäre zu wünschen, dass der Graf de Rochefort wieder gesundet." sagte er höflich.
Der Hauptmann schüttelte den Kopf. "Was habt Ihr nur gegen ihn? Er ist ein guter Musketier."
"Ja, leider", antwortete d´Artagnan etwas vorschnell. Doch noch ehe der Hauptmann ihn tadeln konnte, sagte er: "Monsieur le capitaine, ich habe Euch eine sehr wichtige Mitteilung zu machen-"
"Nicht so eilig, Monsieur le mousquetaire", unterbrach ihn Tréville. "Langsam reicht es mir mit Euch. Ihr werdet jetzt Euren normalen Dienst nach Wachplan versehen, da Seine Majestät Euch heute nicht braucht. Ihr könnt gehen."
"Aber Monsieur le capitaine!" rief d´Artagnan verzweifelt und wohl auch ohne den gebührenden Respekt. "Ich muss Euch etwas berichten, was mit-"
"D´Artagnan! Ich denke doch, dass ich mich klar ausgedrückt habe. Ihr könnt gehen."
D´Artagnan starrte seinen Hauptmann stumm an. Dieser ging zu seinem Schreibtisch und setzte sich nieder, ohne sein Gegenüber noch eines Blickes zu würdigen. D´Artagnan holte tief Luft, als wolle er es noch einmal auf einen Versuch ankommen lassen, doch dann grüßte er nur und verließ das Arbeitszimmer.
Als er die Treppe hinunter ging, begegnete er Monsieur de Jambert, der ganz offensichtlich gerade Rochefort besucht hatte. Er nickte dem Jüngeren höflich zu und dieser schloss sich ihm an. Sie betraten den wichtigsten Raum des Hauptquartieres, eine sehr große hohe Halle mit einem riesigen Kamin, wo auch im Sommer ein Feuer brannte, mehreren langen, niedrigen Tischen und vielen Rüstungen und Flaggen, die an der Decke hingen. Hier hielten sich zu fast jeder Tageszeit Musketiere auf, sofern sie nicht auf dem Hof waren oder zum Dienst eingeteilt waren. Auch an diesem Tag waren hier an die zwanzig Musketiere zu finden, die sich die Zeit mit kleineren Fechtübungen oder Kartenspiel vertrieben. D´Artagnan grüßte einige seiner Freunde, während er mit Monsieur de Jambert durch den Raum ging. "Ihr wart bei Rochefort?" fragte der Musketier dann.
"Ja, Monsieur", antwortete Jambert. "Er ist gerade aufgewacht. Es geht ihm gar nicht gut."
D´Artagnan verzog das Gesicht. "Das ist nicht schön", sagte er ohne viel Teilnahme, in Gedanken schon wieder bei Tréville und der Überlegung, wann er es wieder wagen konnte, bei ihm vorzusprechen.
"Allerdings nicht", antwortete Monsieur de Jambert und zupfte an seinem akkurat gestutzen, schwarzen Schnurrbart, der seinen noch recht weichen Gesichtszügen wohl mehr Männlichkeit verleihen sollte.
"Hat er was gesagt?" erkundigte sich d´Artagnan, um irgendetwas zu sagen.
"Ja, dass er niemanden sehen will", erklärte Jambert traurig. "Nur der Arzt darf zu ihm."
"Sehr bedauerlich", entgegnete d´Artagnan kurz. "Entschuldigt mich, Monsieur, mein Wachdienst wartet." Der Musketier ließ den anderen, für den er nur Gleichgültigkeit empfand, stehen und begab sich zu seinem Posten. Er musste sich auf eine langweilige Wartezeit einrichten und in seiner Ungeduld verging ihm sein Dienst besonders langsam.
Unterdessen war der Leibarzt Monsieur de Trévilles bei Rochefort in dessen Krankenzimmer und kümmerte sich um den soeben aus der Ohnmacht Erwachten. Er nahm seine Hand, um dessen Puls zu fühlen, doch der Musketier entzog sie ihm mit einer matten Bewegung und fragte heiser: "Wer ist das? Jambert?"
"Ich bin der Leibarzt Eures Hauptmannes", antwortete der Mann weich. "Ich kümmere mich um Euch, seid unbesorgt."
"Was?" fragte Rochefort müde. "Was ist passiert? Ich kann nichts sehen. Wo bin ich?" Er tastete mit der Hand nach seinem Gesicht, doch der Arzt hinderte ihn daran, den Verband zu berühren.
"Ihr hattet ein Duell mit Monsieur d´Artagnan. Ihr wart ohnmächtig und vor zehn Minuten seid Ihr wieder aufgewacht. Dieser junge Mann war hier, aber Ihr habt ihn weggeschickt. Könnt Ihr Euch daran erinnern? Ihr seid danach wieder ohnmächtig geworden."
Rochefort schwieg. Dann räusperte er sich und fragte: "Was ist bei dem Duell passiert? Wo bin ich verletzt?"
Der Leibarzt seufzte. Es war immer unangenehm, einem Patienten eine Behinderung anzukündigen. "Am linken Auge", sagte er schließlich.
Rochefort schwieg und der Arzt konnte sehen, wie es um seine Mundwinkel zuckte. "Am linken Auge", wiederholte der Musketier dann. "Und... was heißt das?"
"Es heißt, dass dieses Auge... nicht mehr da ist. Habt Ihr Schmerzen?"
"Nicht mehr da?" fragte Rochefort und der Arzt spürte, wie Panik in dem Patienten aufstieg. "Heißt das, ich kann nicht mehr sehen? Bin ich blind?"
"Nein nein", versuchte er ihn zu beruhigen. "Das andere Auge hat alles unbeschadet überstanden. Nur das Linke..."
"Aber ich kann nichts sehen!"
"Ihr habt einen Verband um beide Augen, damit Ihr nicht mit der Hand in die Nähe der Wunde gelangen und sie berühren könnt. Es soll sich ja nichts entzünden." Der Arzt grinste schief, was Rochefort natürlich nicht sehen konnte.
"Wann bin ich wieder gesund?" fragte Rochefort nervös und bewegte den Kopf, als sei ihm der Verband unangenehm.
"Das kommt auf Euch an", erwiderte der Arzt. "Ihr müsst etwas Nahrung zu Euch nehmen. Bitte, ich helfe Euch, Euch aufzurichten." Er trat an das Bett heran, doch Rochefort wich zurück, soweit ihm das möglich war.
"Lasst mich", sagte er hastig. "Ich möchte nach Hause, in meine Wohnung. Ich-"
"Monsieur, das ist nicht möglich. Ihr könnt in Eurem Zustand nicht weggebracht werden. Außerdem bekommt Ihr hier alles, was Ihr braucht." Der Arzt goss Wasser aus einer Karaffe in einen kleinen Becher und wollte ihn an Rocheforts Lippen setzen. Doch dieser schob den Becher zurück
"Ihr müsst etwas trinken", erklärte der Arzt geduldig. "Ihr könnt es ja selbst versuchen." Er drückte ihm den Becher in die Hand. Etwas zittrig führte Rochefort den Becher zum Mund, doch als er trinken wollte, vergoss er die Hälfte. Ohne ein Wort nahm der Arzt ihm den Becher aus der Hand und stellte ihn wieder auf den Tisch.
"Wo ist meine Kleidung?" fragte Rochefort und hustete rauh. Er strich sich über das Gesicht und betastete dann den Verband. Der Arzt schob seine Hand wieder zurück.
"Eure Kleidung ist hier auf einem Stuhl. Es ist alles vollständig. Ein paar Musketiere haben Euch gestern hierher gebracht und Ihr wart bis eben ohnmächtig. Ich bitte Euch, vernünftig zu sein und hier zu bleiben. Vielleicht dauert es nur ein paar Tage, bis wir den Verband abnehmen können."
Der Musketier sank in die Kissen zurück. "Ich möchte nicht, dass alle Stunde ein paar Musketiere reinkommen, um mich anzustarren", sagte er und war bemüht, seiner Stimme Festigkeit zu geben.
"Das verlangt auch niemand von Euch", versetzte der Arzt und ordnete die Bettdecke, sodass der Verwundete besser liegen konnte. "Ich werde dafür sorgen, dass niemand Euch stört. Gibt es jemanden, den wir benachrichtigen sollen?"
Rochefort schüttelte leicht den Kopf, hielt aber sofort inne, als ob es ihm Schmerzen bereite. "Nein, niemand..."
"Gut, Monsieur, ich lasse Euch jetzt allein. Bitte versucht zu schlafen. Wenn ich wiederkomme, müsst Ihr etwas essen."
Der Arzt verließ das Zimmer.
Es ging schon gegen Mittag, als d´Artagnans Wachdienst endlich beendet war. Der Musketier verließ sofort seinen Posten, als die Ablösung kam und stürmte in das Vorzimmer des Hauptmannes. Dort ließ er sich melden.
"Worum geht es denn?" fragte François, der Sekretär Trévilles, der stets so tat, als kenne er die Musketiere allesamt nicht.
"Um meinen Wachdienst", gab der Gascogner an, nicht ganz der Wahrheit gemäß. Allerdings wäre es unsinnig gewesen, François von einer Verschwörung zu erzählen.
"Dann gebt mir Euren Bericht", verlangte der Sekretär gemessen. "Ich kann ihn selbst überbringen."
"Bedaure", sagte d´Artagnan, dessen Nerven inzwischen zum Zerreißen gespannt waren. "Ich muss ihn in diesem Fall selbst überbringen, da es Monsieur de Tréville so angeordnet hat."
François zuckte mit den Schultern und sagte dann gelassen: "Ihr müsst ein wenig warten. Monsieur de Tréville führt gerade ein Gespräch."
Damit musste sich der Musketier bescheiden, wenn es ihn auch schwer fiel. Er wandte sich von dem Sekretär ab und lehnte sich an die Wand gegenüber der Tür, da alle Sitze besetzt waren. Mit Schrecken malte sich der Gascogner aus, wie erst alle anderen vor ihm eingelassen wurden und er immer noch warten müsse, doch ein gütiges Geschick sorgte dafür, dass sich seine Alpträume nicht bewahrheiteten. Die Tür zum Arbeitszimmer des Hauptmannes öffnete sich und der Leibarzt, dick wie eh und je, trat heraus. D´Artagnan war nicht sehr angetan. Er schätzte diesen Mann sehr, da dieser auch ihn selbst schon versorgt hatte, doch zur Zeit kümmerte er sich ja wohl um Rochefort und hatte dem Hauptmann bestimmt mitgeteilt, wie schlecht es demselben ging und dass daran nur d´Artagnan schuld sei. Gewiss würde Monsieur de Tréville ihn nun rufen lassen, um ihm noch einmal eine Standpauke halten zu können. Und wirklich ließ ihn Tréville hereinrufen. Missmutig stieß sich d´Artagnan von der Wand ab und ging in das Arbeitszimmer, böse gemustert von einigen Leuten, die im Vorzimmer schon länger gewartet hatten als der Gascogner und ihm nun den schnellen Einlass missgönnten. Doch im Augenblick interessierte das den Musketier weniger. Er trat durch die Tür, die François hinter ihm schloss und stand vor dem Schreibtisch Trévilles, der wie heute morgen auch schon mit Papieren überladen war. Der Hauptmann selbst saß hinter dem Schreibtisch und musterte den soeben Eingetretenen mit schwer zu enträtselndem Gesichtsausdruck.
"Der Leibarzt war hier", sagte Tréville schließlich und griff nach einer Feder, um eine Unterschrift unter einen Bericht zu setzen.
"Er kommt sicherlich von Rochefort", meinte d´Artagnan etwas enerviert.
"Allerdings", bestätigte der Kapitän der Musketiere. "Und es geht ihm nicht gut."
"Wie lange wird es denn dauern, bis Monsieur de Rochefort wieder aufstehen kann?"
"Einige Tage... oder Wochen", antwortete Tréville ruhig. "Und sobald er aufstehen kann, wird er eine Strafe bekommen, für unerlaubtes Duellieren." Der Hauptmann machte eine kurze Pause und sagte dann: "Genau wie Ihr, d´Artagnan."
D´Artagnan nickte ergeben. Dann trat er einen Schritt vor. "Monsieur le capitaine, ich bitte Euch um die Erlaubnis, eine Mitteilung machen zu dürfen."
Tréville sah unwillig auf. Er bezweifelte, dass es etwas von Wichtigkeit war, was d´Artagnan sagen wollte und nahm an, dass dieser nur von dem Duell, das dem Hauptmann ohnehin schwer im Magen lag, ablenken wollte. Doch er würde ihn nun anhören. "Also bitte", sagte er.
"Es geht um die Hochzeit des Dauphins und der Infantin", sagte d´Artagnan rasch. "Während dieser Feierlichkeiten planen Attentäter den König zu ermorden."
Tréville fuhr aus seinem Sessel hoch und sah den Musketier ungläubig an. "Was sagt Ihr da?"
D´Artagnan nickte heftig, zum Zeichen, dass der Hauptmann ganz richtig verstanden hatte. "Ich habe es gestern Abend mehr durch Zufall erlauschen können. Monsieur de Jounieux, den Ihr auch kennt, ist daran beteiligt."
"Dieser rothaarige Edelmann?" rief Tréville aus.
"Genau der", bestätigte d´Artagnan.
"Der plant ein Attentat?" fragte Tréville zweifelnd und setzte sich wieder hin.
"Allerdings. Er und seine Mitverschwörer haben sich letzte Nacht in einer Schenke mit dem Namen "Zum Goldenen Huhn" getroffen." Der Musketier dachte kurz an die vergangene Nacht zurück und welche Mühe er gehabt hatte, das Schild über der Tür zu entziffern.
"Fahrt fort", verlangte Tréville kurz.
D´Artagnan berichtete nun endlich, was er erlauscht hatte. Als er geendet hatte, schüttelte Tréville den Kopf. "Warum habt Ihr das nicht eher gesagt! Zur Hochzeit, sagt Ihr? Da sind noch zwei Wochen Zeit."
"Ja, Monsieur le capitaine. Ich wollte Euch fragen, wie dagegen vorzugehen ist."
"Ihr habt es entdeckt, d´Artagnan. Was würdet Ihr tun?"
Der Musketier räusperte sich. "Ich würde die Täter in flagranti ertappen wollen, also während der Hochzeitsfeierlichkeiten. Immerhin wissen wir jetzt genau, wie diese Mörder ihre Tat zu begehen denken und können uns darauf einrichten."
Tréville nickte lächelnd, obwohl der Umstand so ernst war. "Also gut, dann warten wir auf die Hochzeit, d´Artagnan. Wir werden natürlich nur wenige Leute einweihen, damit keine Unruhe ausbricht. Und Ihr wisst ja... je weniger Leute davon wissen, desto besser."
Mit einer Handbewegung lud der Hauptmann seinen besten Musketier ein, sich ebenfalls zu setzen. "Also wollen wir schon einmal planen, wie wir vorgehen könnten. Ach, und von Eurer... Strafe", der Hauptmann lächelte ein wenig, "seid Ihr selbstverständlich befreit.
Dieser Arzt nun sah sich Rocheforts Auge an, beziehungsweise das, was davon übrig war und schickte dann die anderen Musketiere aus dem Raum. Sie erfuhren also nicht, was der Arzt da tat, doch als nach einer halben Stunde der junge Mann, der Rochefort auf sein Pferd genommen hatte, wieder hereindurfte, war Rocheforts Kopf so verbunden, dass das linke Auge von einem Verband bedeckt war.
Der Musketier, ein hübscher Mann mit einem schwarzen Schnurrbart, de Jambert geheißen, wandte sich an den Arzt, der in einer Schüssel, die mit Wasser gefüllt war, seine zum Fürchten aussehenden Instrumente reinigte.
"Oh Monsieur le docteur, was wird nun? Ist er wach?"
"Nein, ist er nicht", sagte der Arzt und die Worte tropften von seinen Lippen. Ruhig und gemessen trocknete er mit einem weichen Tuch ein Gerät, welches an einem Ende eine gebogene Spitze hatte.
"Er hat Opium eingeatmet und wird eine Zeit schlafen. Wie lange... das kann ich nicht genau sagen. Und sein Auge... Tja, so Leid es mir tut, aber bei Duellen... er hat keine Chance mehr gehabt. Das linke Auge war nicht mehr zu retten."
Der Arzt zuckte mit den Schultern. Wie jeder in seinem Metier, der noch ein bisschen Menschlichkeit in sich hatte, lehnte er es ab, wegen solcher Kleinigkeiten wie Streitereien Blut zu vergießen. Daher hatte er für Rochefort auch kein Verständnis, dieser war seiner Meinung nach selbst Schuld, dass er von nun an mit einer Augenklappe herumlaufen musste, wollte er nicht den Leuten den Anblick einer leeren Augenhöhle zumuten.
Monsieur de Jambert schüttelte den Kopf und setzte sich vorsichtig an Rocheforts Bett, dabei die schönen Hände ineinander verschränkend. "Mon Dieu, es ist furchtbar, dass es so gekommen ist. Sagt, Monsieur le docteur, darf er Besuch empfangen?"
"Sobald er wach ist, wird er sich auch daran erfreuen können", meinte der Arzt. "Meinetwegen können so viele Besucher kommen, wie er Freunde hat."
Er packte seine Sachen zusammen. Trotz seiner Leibesfülle bewegte er sich überraschend behende.
"Spätestens morgen früh", sagte er mit weicher Stimme und strich sich über die sehr kurz geschnittenen Haare, "wird Euer Freund wieder aufwachen. Geht nach Hause, Monsieur, Ihr könnt nichts mehr für ihn tun."
Jambert nickte, erhob sich und nahm seinen Hut, den er während des Besuches auf Rocheforts Bett abgelegt hatte.
Der Arzt trat ein letztes Mal an das Bett des Verwundeten. "Diese Duelle", brummte er und zum ersten Mal klang seine Stimme nicht so weich wie gewöhnlich. "Das bringt sie alle noch ins Grab. Lauter junge hoffnungsvolle Edelleute."
Monsieur de Jambert lächelte schwach. "Wir wollen es doch so, Monsieur. Es ist zwar tragisch, dass Ihr dann die Wunden versorgen müsst-"
"Ihr habt den Krieg noch nicht gesehen, junger Mann?", fragte der Arzt.
Jambert schüttelte den Kopf. Der Arzt nickte, als hätte er dies erwartet und verließ das Zimmer.
Monsieur de Jambert verließ ebenfalls das Zimmer und ging aus dem Hauptquartier geradewegs in das Wirtshaus "Zum Goldenen Stern", wo er Athos, Porthos, Aramis und den anderen Musketier, der mit ihm Rochefort geholt hatte, treffen wollte. Es war bereits dunkel, als er in die Schenke eintrat. Drinnen war es warm und verräuchert, fast alle Tische waren besetzt.
Als sich Monsieur de Jamberts Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, gewahrte er schließlich auch seine Kameraden, die im linken Teil des Schankraumes an der Wand saßen. Er ging zu ihnen und setzte sich zwischen Aramis und den anderen Musketier, George du Grés geheißen.
"Wie geht es ihm?", fragte Aramis beunruhigt, als er Jamberts ernstes Gesicht sah.
Jambert zuckte mit den Schultern. "Wie soll es ihm gehen? Er ist noch immer ohnmächtig, Opium... Das linke Auge..." Jambert brach ab und nahm einen Schluck von dem Wein, den ihm ein Mädchen hinstellte.
Aramis warf Athos einen kurzen Blick zu. Dieser schüttelte ernst den Kopf. "Das ist entsetzlich", sagte er mit etwas heiserer Stimme.
"Ob er noch weiterhin Musketier bleiben wird?"
Du Grès, ein untersetzter Mann von etwa fünfundvierzig Jahren, zuckte mit den Schultern. "Es gibt viele Soldaten mit nur einem Auge. Die andere Frage ist, ob er noch weiterhin mit d´Artagnan wird leben können."
Aramis schüttelte langsam den Kopf und strich sich die langen schwarzen Haare aus der Stirn. "Ich wusste nicht, dass sie so verfeindet mit einander waren", sagte er dabei mit seiner angenehm tiefen Stimme.
"Sie konnten sich noch nie leiden", erklärte Jambert. "Aber eigentlich dachte ich, es wäre geklärt. Angeblich sollen sie sich vorhin noch ganz normal unterhalten haben."
Du Grés schnaubte und zerrte an seinem buschigen Schnurrbart, der schon leicht ergraut war. "Die beiden können sich sehr gut beherrschen, glaube ich. Ich habe schon einige Male bemerkt, wie sie sich vorher voller Hass angestarrt haben und, wenn sich jemand ihnen näherte, über das Wetter oder die Familie gesprochen haben."
"Familie?", fragte Aramis erstaunt. "Wer von ihnen hat denn Familie?"
"D´Artagnan", antwortete du Grés. "Aber seine Frau und sein Sohn wohnen in der Gascogne, der Heimat d´Artagnans. D´Artagnan hat mir mal erzählt, dass er sich in ein paar Jahren wieder seiner Familie widmen möchte."
"Er will die Kompanie verlassen?", fragte Jambert überrascht. "Das kann ich mir gar nicht vorstellen."
"Nun, es ist aber so. Bisher hatte er ja kaum Zeit für seine Angehörigen."
"Nun, dann ist es doch verständlich", meinte Porthos. "Allerdings hätte ich an seiner Stelle dafür gesorgt, dass meine Familie hier in Paris lebt."
Monsieur du Grés lächelte breit. "Seine Frau meinte aber, es sei für ihren Sohn besser, wenn dieser nicht in der Stadtluft aufwachse. Der Sohn ist inzwischen schon an die siebzehn Jahre alt, wenn ich mich recht entsinne. Vor ein paar Jahren war er mal in Paris. Er ist das Ebenbild d´Artagnans. Lockige Haare, genauso gebaut. Natürlich möchte er ebenfalls Musketier werden. Hat seinen Vater vergöttert-"
Die Tür des Wirtshauses öffnete sich und ein großer, kräftiger Soldat in der roten Uniform der Garde des Kardinals trat ein. Er hielt sich sehr gerade, hatte den linken Arm in der Schlinge und braune Haare und einen Spitzbart. Mit heldenhafter Miene setzte er sich zu einigen Gardisten, die auf der rechten Seite des Schankraumes saßen.
Monsieur de Jambert pfiff durch die Zähne.
"Sieh mal einer an, Monsieur de Jussac, Leutnant der Garde des Kardinals. Ich hätte nicht gedacht, dass er sich von unserem Duell vorgestern so schnell erholt."
Athos, Porthos und Aramis, die den Leutnant noch nicht kannten, wandten sich unauffällig um. "Den Stich habt Ihr ihm beigebracht?", fragte Porthos begeistert und strich mit der rechten Hand über einen Dolch, eine seiner neueren Errungenschaften, die allerlei Tücken hatte "Das ist ja großartig."
"Nicht wahr?", bestätigte der junge Mann bescheiden. "Es war gar nicht so schwer. Ob er jetzt seinen Pflichten bei der Garde nachkommen kann?"
"Wahrscheinlich nur schwer", sagte Monsieur du Grés. "Immerhin muss er ja alles allein machen." Sie sahen sich an und grinsten breit.
Aramis sah sie erstaunt an und strich sich über seinen Bart. "Darf man erfahren, was daran so amüsant ist?"
"Natürlich, bitte verzeiht", sagte Jambert. "Die bedauernswerte Garde des Kardinals hat keinen Hauptmann mehr. Seit etwa... vier Tagen." Die beiden Musketiere grinsten spöttisch.
Porthos sah sie verständnislos an, während Aramis´ Mundwinkel verdächtig zuckten. "Das ist ja höchst bedauerlich. Wer war denn dieser Hauptmann?"
"Monsieur de Cavois. Friede seiner Überreste."
Aramis bekreuzigte sich unauffällig, was Athos, der still ein Glas Wein nach dem anderen leerte, zu einem traurig- überheblichen Lächeln veranlasste.
"Cavois?", fragte Porthos mit nachdenklichem Gesicht. "Hieß so nicht eine Adelsfamilie an der Küste?"
"Natürlich. Sie sind ständig zur See gefahren, die Vorfahren des verblichenen Hauptmannes. Haben es mit bösen Piraten zu tun gehabt." Monsieur de Jambert kicherte, der Wein tat seine Wirkung.
"Nein, wartet", rief Porthos. "War es wirklich so?"
"Ach, man erzählt es sich. Warum fragt Ihr denn?"
"Ach nichts, schon gut", grummelte Porthos und zupfte an seiner Schärpe.
"Gehörtet Ihr etwa auch zu den bösen Piraten?", fragte Monsieur du Grés interessiert. "Ihr habt uns noch gar nicht erzählt, wo Ihr eigentlich herkommt."
"Ach, aus der Gegend so", brummte Porthos scheinbar gleichmütig.
Aramis und Athos sahen ihren Freund erstaunt an. "Tatsächlich?", fragte Aramis. "Das wussten wir ja gar nicht."
"Ist ja auch nicht so wichtig", sagte Porthos hastig und winkte ab. "Reden wir lieber von Jussac. Er hat jetzt den Hauptmannsposten übernommen?"
"Nur auf Zeit", erklärte Jambert, während er das nächste Glas Wein leerte. "Er macht jetzt beides gleichzeitig und ist damit sichtlich überfordert."
George du Grès wollte noch etwas zu Porthos sagen, unterließ es dann aber, als dieser ihn wütend anfunkelte.
"Warum gibt es keinen anderen Leutnant?", fragte Aramis erstaunt, der dies nicht bemerkte.
"Glaubt Ihr, es gibt einen Gardisten, der dazu fähig ist?", fragte Jambert und gluckste. "Ich nehme an, der Kardinal hat noch keine geeignete Persönlichkeit dafür gefunden. Eigentlich brauchen sie ja einen richtigen Hauptmann und das müsste einer sein, der fähig ist, diese Bande unter Kontrolle zu halten. Das sind doch alles Taugenichtse."
"Darauf trinken wir", meinte Monsieur du Grés.
Sie stießen an.
D´Artagnan hatte, als er festgestellt hatte, dass Monsieur de Tréville auf einer Festlichkeit weilte, aus der man ihn schlecht wegholen konnte, den Heimweg angetreten. Es war schon sehr spät und bereits dunkel. Der Musketier war erschöpft und hatte nur den einen Wunsch, sich hin zu legen und von seinem Diener die kleineren Wunden und Kratzer versorgen zu lassen. Im Gegensatz zu Rochefort hatte er das Duell sehr glücklich überstanden, allerdings konnte ihn das nicht allzu sehr zufrieden zu stellen. Immerhin war es ihm ein wenig unangenehm gewesen, Rocheforts blutbedecktes Gesicht zu sehen- einer der Gründe, warum er nicht dageblieben war, um zu warten, bis die Musketiere, die er losgeschickt hatte, um den Verwundeten zu holen, wiederkamen. Er war nicht feige- wer es wagte, ihn so zu nennen, konnte am nächsten Tag damit rechnen, eine Aufforderung zu einem Duell zu bekommen- doch er wollte Rochefort, den er fast nur spöttelnd und immer kampfbereit kannte, nicht ohnmächtig und völlig hilflos im Krankenzimmer liegen sehen. Er hätte ohnehin nichts für ihn tun können.
D´Artagnan ging eine kleine Straße hinter der Bastille entlang, als das leise Knarren einer Tür ihn den Schritt verhalten ließ. Aus einem unauffälligen Ausgang trat ein dem Musketier wohlbekannter Mann. Dieser Mann war kräftig, aber schlank gebaut, hatte, was man in der Dunkelheit selbstverständlich nicht erkennen konnte, fuchsrote Haare und eine blasse, unreine Gesichtshaut. Die grüngrauen Augen traten froschähnlich hervor. Während dieser Mann aus der Tür trat- einer Tür, die, wie d´Artagnan wusste, ein eher unauffälliger Ausgang der Bastille war- während dieser Mann also aus der Tür trat, zerrte er an seinen Manschetten, als wolle er etwas in Ordnung bringen.
D´Artagnan lächelte vor sich hin und schritt rasch und leise auf den Mann zu, den er trotz der finsteren Nacht sofort erkannt hatte.
"Guten Abend, Monsieur de Jounieux", sagte er dann deutlich und zog den Hut.
Der mit Jounieux angesprochene fuhr zusammen und starrte den Musketier an, wie eine Erscheinung. Doch dann fasste er sich rasch.
"Oh, Monsieur d´Artagnan", sagte er unmutig. "Euch trifft man immer dann, wenn man Euch nicht braucht."
"Das werdet Ihr noch oft feststellen", lächelte d´Artagnan freundlich. "Es ist immer wieder schön, Euch zu treffen, so herzerfrischend, mit Euch zu plaudern. Was tut Ihr denn hier in dieser Gegend?"
Monsieur de Jounieux funkelte ihn böse an. "Ich hatte mich verlaufen", log er dann unverschämt. "Auf Saint-Louis und bin dann hier gelandet."
D´Artagnan lachte, als glaubte er diese Geschichte. "Es ist erstaunlich, dass Ihr Euch nichts merken könnt. Niemand könnte Euch für so verwirrt halten, dass Ihr Euch nicht auf der kleinen Insel zurecht findet und dann hier her gelangt."
Jounieux knischte mit den Zähnen, antwortete jedoch nicht.
D´Artagnan musterte ihn lächelnd und anscheinend ohne Argwohn. "Wie geht es Eurer Tochter, Monsieur? Ist sie immer noch nicht vergeben?"
"Meine Tochter geht es gut, danke der Nachfrage", antwortete Jounieux, ohne auf die letzte Frage einzugehen. "Euer Sohn, so hörte ich, hat schon wieder ein Duell gegen meinen Sohn verloren."
"Wie könnte er auch gewinnen", sagte d´Artagnan heiter. "Euer lieber Sohn Girard ruft ja immer seine vier Brüder zur Hilfe, wenn er sein Heil nicht gerade in der Flucht sucht."
"Lügengeschichten, in der Tat. Euer Sohn ist so sehr Gascogner, er übertreibt maßlos." Während er dies sagte, griff Monsieur de Jouniuex in seinen Ärmel, um sein Taschentuch hervor zu ziehen. Er ging dabei sehr sorgfältig vor, was d´Artagnan auffiel. Er gab sich jedoch den Anschein, nichts zu bemerken und wischte sich gelangweilt über sein Wams, als sei es staubig. Sein Gegenüber musterte sein Wams und zog das Taschentuch vollends heraus. Dabei entfiel ihm, ohne dass er es bemerkte, ein zusammengefaltetes Papier, welches er offensichtlich vorher mit so viel Mühe im Ärmel verstaut hatte, als er aus der Tür getreten war.
"Euer Sohn ist doch auch Gascogner", sagte d´Artagnan scheinbar erstaunt und hütete sich, auf den Boden zu blicken.
"Ja, aber er denkt sich nicht irgendwelche hanebüchenen Geschichten aus, um nicht eingestehen zu müssen, dass er verloren hat, wie Euer Sohn es tut."
"Da habt Ihr natürlich Recht, so etwas würde Euer Sohn nie tun. Er verliert ja sowieso."
Jounieux schnaubte und wandte seine Aufmerksamkeit dann seinem Taschentuch zu. Ohne große Anmut putzte er sich die Nase und stopfte das Tuch dann wieder unordentlich in den Ärmel.
"Ich glaube nicht", sagte er dann ärgerlich, "dass ich Euch darauf irgendetwas erwidern muss. Ihr werdet die Güte haben, mich zu entschuldigen, ich kann meinen Abend nicht mit Nichtstun verschwenden, wie die Musketiere des `Königs´ es tun."
Um die Mundwinkel d´Artagnans zuckte es, doch er nickte nur. "Selbstverständlich, Monsieur. Ich wünsche Euch eine angenehme Nachtruhe."
Er verneigte sich kurz, Monsieur de Jounieux nickte grüßend und verschwand in einer Seitengasse.
D´Artagnan wartete einen Moment und blickte Jounieux hinterher, bis dieser nicht mehr zu sehen war. Dann beugte er sich nach unten und hob den Zettel auf. Dieser hatte trotz des Schmutzes keinen besonderen Schaden erlitten. D´Artagnan faltete ihn langsam auseinander und las:
Rue de Vaugirard, "Zum Goldenen Huhn", 23. April, Letztes Treffen, die anderen informieren
D´Artagnan starrte schweigend den Zettel an und überlegte. Der dreiundzwanzigste April war heute und Monsieur de Jounieux war Gegner der Royalisten. Man wusste allerdings nicht, ob er Kardinalist war. Der Musketier wusste nur, dass er ein Feind des Königs war... ein Feind allerdings, dem man nichts anhängen konnte. Sein ehemaliger gascognischer Nachbar war in Richtung Rue de Vaugirard verschwunden, sogar recht eilig.
D´Artagnan steckte den Zettel ein und ging über einen Umweg ebenfalls in Richtung Rue de Vaugirard. Er konnte sich sein Handeln selbst kaum erklären, doch er hatte ein Gefühl, als drohe Unheil. Schon nach kurzer Zeit begann der Musketier zu laufen und hatte immer nur den Wunsch, nicht zu spät zu kommen.
Als er in die Rue de Vaugirard dann einbog, verhielt er etwas, um erst einmal wieder zu Atem zu kommen. Außerdem versuchte er zu lauschen, doch er hörte nichts. Langsam und argwöhnisch ging er die etwas breitere Straße entlang und bemühte sich, die Dunkelheit mit den Augen zu durchdringen. Plötzlich öffnete sich nicht weit vor ihm eine Tür, ein heller Schein fiel auf den schmutzigen Boden und ein Mann wurde aus der Tür geschoben. "Schlaf deinen Rausch woanders aus", hörte er noch eine bräsige Stimme und dann wurde die Tür wieder zugeschlagen. Der auf diese unsanfte Art hinausbugsierte Mann ächzte und stöhnte und schien sich sehr anzustrengen, hochzukommen. Der Musketier kam langsam näher- nicht um zu helfen, sondern um festzustellen, ob diese Kneipe "Zum Goldenen Huhn" hieß. Der am Boden liegende Mann schaffte es endlich, auf alle Viere zu kommen und kroch ein Stück weit auf die andere Straßenseite zu. D´Artagnan bezweifelte, dass es dort sauberer war, doch er hinderte den Anderen auch nicht an seinem Vorhaben, zumal ihn dieser überhaupt nicht bemerkte. Der Musketier sah zu der Schenkentür und versuchte, das Schild zu entziffern. Er konnte nur erkennen, dass neben dem Schilde eine Laterne hing, die nicht brannte. Nach einem kurzen Moment des Starrens sah d´Artagnan auf dem Schild endlich ein Huhn an einem Bratspieß und bezweifelte nun nicht mehr, dass es diese Schenke war, die Monsieur de Jounieux aufsuchen wollte.
Er warf noch einen letzten Blick auf den Mann auf der anderen Straßenseite, den er allerdings nur als graue Masse wahrnehmen konnte und öffnete dann entschlossen die Tür, um einzutreten. D´Artagnan erkannte sofort, dass die Trunkenheit in dieser Kneipe schon so weit gediehen war, dass die meisten der Zecher nichts mehr von ihrer Umgebung mitbekamen, schrien und pöbelten und immer noch mehr tranken. Ein Mann sprang auf den Tisch und grölte, während er er versuchte, Gewalt über seine eigene Stimme zu bekommen: "Brüder! Müssen wir uns das gefallen lassen?! Ich sage euch-" Er brach mitten im Satz ab, sein Blick wurde glasig und er kippte seitlich vom Tisch, ohne, dass sich einer der Umstehenden die Mühe gemacht hätte, ihn aufzufangen.
Der Wird, ein behender, überraschend gut gepflegter Mann, trat auf d´Artagnan zu und murmelte leise: "Geht durch und dann die Treppe runter."
D´Artagnan verbarg gekonnt seine Überraschung und nickte. Dann zog er den Hut ins Gesicht und ging er an den Betrunkenen vorbei, die fluchten, wenn er sie versehentlich oder absichtlich anstieß und gelangte schließlich an eine Tür. Er drehte sich um, unsicher, ob es die richtige Tür sei und erblickte den Wirt, der ein Tablett in beiden Händen trug und heftig nickte und ihm ein Zeichen machte, weiter zu gehen. D´Artagnan öffnete die Tür und wäre fast die Treppe heruntergefallen, die sofort hinter der Tür begann. Langsam begann der Musketier sie herunterzusteigen, wobei ihm nun das Herz bis zum Halse klopfte. Die Treppe war sehr steil und eng und er musste sich an der Wand abstützen. Es war nichts zu hören außer seiner eigenen Schritte. Als er unten angekommen war, gewahrte er einen schwachen Lichtschein, der unter einer dicken Tür schwach hervordrang und trat leise näher. Eine angenehm sonore Stimme sagte in ruhigem Tonfall: "Dann wäre das ja geklärt. Wer möchte derjenige sein, der den tödlichen Schuss abgibt?"
"Die Ehre, einen König zu ermorden, hat man nicht allemal", erwiderte eine schrille, männliche Stimme. "Überlasst es mir!"
D´Artagnan hatte die ganze Nacht kein Auge zugemacht, zu sehr bewegte ihn, was er im "Goldenen Huhn" erlauscht hatte. Er hatte sich nach etwa einer Viertelstunde von seinem Lauscherposten wegbegeben und war zum Hauptquartier geeilt. Der Wirt war glücklicherweise nicht im Schankraum gewesen, als d´Artagnan gegangen war und so hatte er sich unbehelligt entfernen können. Doch beim Hauptquartier angelangt, musste er feststellen, dass alles in tiefster Dunkelheit lag und die wachhabenden Musketiere sagten ihm, was er ohnehin schon wusste, dass der Hauptmann auf einer Festlichkeit war und nicht vor vier Uhr morgens zurückerwartet wurde.
Also war d´Artagnan nach Hause gegangen, um sich einige Stunden Schlaf zu gönnen, da er sich noch wegen des Duells, das ihm jetzt ganz unwirklich und sehr fern erschien, wie gerädert fühlte. Doch auch in seiner Wohnung fand er keine Ruhe und ging nur stundenlang auf und ab oder saß grübelnd auf dem Bette, da er für den Schlaf nicht die Muße fand. Schließlich graute der Morgen und um sechs Uhr fand sich der Musketier im Hauptquartier ein.
Er ließ sich seinem Hauptmann melden, doch es dauerte eine gute halbe Stunde, ehe er empfangen wurde. Überraschenderweise hatte der Hauptmann vor ihm noch andere Musketiere vorgelassen, was d´Artagnan sehr ungewöhnlich fand, da er selbst eine bevorzugte Stellung genoss. Als er jedoch endlich gegen halb sieben Uhr herein gerufen wurde, musste er feststellen, dass sein Stern beim Hauptmann augenscheinlich im Sinken war. Denn der Hauptmann kochte geradezu vor Wut.
"Da haben wir ja den Herrn Leibwächter!" dröhnte Monsieur de Tréville und schlug mit der Faust auf den Tisch. "Glaubt Ihr, Ihr habt Privilegien und seid etwas Besseres als Eure Kameraden?"
D´Artagnan wusste nicht, was er von diesem Ausbruch halten sollte. Er war übernächtigt und hatte seinem Hauptmann sehr wichtige Neuigkeiten mitzuteilen und war sich keiner Schuld bewusst. "Monsieur le capitaine, ich weiß nicht, womit ich Euer Missfallen verdient habe."
Monsieur de Tréville kniff die Augen zusammen und knirschte mit den Zähnen. Dann polterte er los: "Ach, tatsächlich, das wisst Ihr nicht? Soll ich Euch den Grafen de Rochefort vielleicht auf einem silbernen Tablett servieren, damit es Euch wieder einfällt?"
D´Artagnan hätte beinahe laut gelacht. Sein alter Feind erschien ihm jetzt harmlos im Gegensatz zu dem, was er zu berichten hatte.
"Monsieur le capitaine, die Sache mit Rochefort tut mir aufrichtig leid, aber-"
"Tut Euch leid?", fragte Tréville laut und kam auf den Musketier zu. "Tut Euch leid, ist ja reizend, d´Artagnan!" Der Hauptmann der Musketiere baute sich vor seinem besten Musketier auf und fragte sehr leise und bedrohlich: "Glaubt Ihr, für Euch gelten diese Regeln hier nicht? Glaubt Ihr, Ihr zählt nicht mehr zu den einfachen Musketieren?"
D´Artagnan sah seinen Hauptmann offen an. "Doch, Monsieur le capitaine, ich bin ein Musketier wie jeder andere von uns. Aber ich habe Euch etwas Wichtiges mitzuteilen."
"Das interessiert mich jetzt nicht!", erwiderte Tréville streng. "Wie wollt Ihr das wieder in Ordnung bringen, d´Artagnan? Duelle sind verboten! Vor allem in der Kompanie. Untereinander! Musketiere! Duellieren sich miteinander!" Offenbar konnte es Tréville gar nicht fassen. "Was habt Ihr Euch dabei gedacht?"
"Nichts", bekannte d´Artagnan, der einsah, dass er jetzt ein bisschen Geduld aufbringen musste, sonst würde ihn sein Hauptmann nie anhören. "Der Graf de Rochefort und ich haben schon lange eine Gelegenheit gesucht, ein Duell austragen zu können..."
Tréville sah den Musketier schweigend an. Dann fragte er: "Wie ist es dazu gekommen?"
D´Artagnan zuckte mit den Schultern. "Der Graf hat mich gestern abgefangen. Es kam eins zum andern, wir provozierten uns gegenseitig. Es... musste eben zu einem Duell kommen."
"Und warum musste es dazu komen?", fragte Tréville, der sich allmählich beruhigte.
D´Artagnan atmete auf. "Nun ja, wir konnten uns nie besonders leiden. Es ging wohl immer darum, wer der Bessere sei. Dass ich zum Leibwächter ernannt wurde, wurmte ihn wohl ein wenig... Und so ist es passiert."
Tréville zog die Augenbrauen hoch. "Rochefort ist eifersüchtig auf den Posten gewesen? Nun... das erklärt einiges."
D´Artagnan nickte und fragte sich, ob dies nun eine Gelegenheit wäre, mit seiner Mitteilung zu kommen. Doch der Hauptmann kam ihm zuvor. "Wie wollt Ihr das wieder gut machen?"
Der Musketier sah auf den Schreibtisch des Hauptmannes, der wie üblich mit Papieren aller Art überladen war. "Ich weiß es nicht, Monsieur le capitaine... Wie geht es ihm denn?"
"Ohnmächtig", antwortete Tréville knapp. "Seit gestern Abend. Er liegt immer noch hier im Krankenzimmer."
"Und der Arzt?" fragte d´Artagnan zögernd.
"War heute schon bei ihm. Das Auge ist raus, meint er. Und ob er wieder aufwacht... besonders kräftig ist seine Konstitution nicht..."
D´Artagnan musste trotz allem lächeln. Der Graf de Rochefort war sehr dünn, fast mager. Da er, wenn er seine Uniform nicht trug, oft dunkle Farben bevorzugte, wurde dieser Eindruck noch verstärkt.
Tréville beobachtete ihn. D´Artagnan nahm Haltung an. "Es wäre zu wünschen, dass der Graf de Rochefort wieder gesundet." sagte er höflich.
Der Hauptmann schüttelte den Kopf. "Was habt Ihr nur gegen ihn? Er ist ein guter Musketier."
"Ja, leider", antwortete d´Artagnan etwas vorschnell. Doch noch ehe der Hauptmann ihn tadeln konnte, sagte er: "Monsieur le capitaine, ich habe Euch eine sehr wichtige Mitteilung zu machen-"
"Nicht so eilig, Monsieur le mousquetaire", unterbrach ihn Tréville. "Langsam reicht es mir mit Euch. Ihr werdet jetzt Euren normalen Dienst nach Wachplan versehen, da Seine Majestät Euch heute nicht braucht. Ihr könnt gehen."
"Aber Monsieur le capitaine!" rief d´Artagnan verzweifelt und wohl auch ohne den gebührenden Respekt. "Ich muss Euch etwas berichten, was mit-"
"D´Artagnan! Ich denke doch, dass ich mich klar ausgedrückt habe. Ihr könnt gehen."
D´Artagnan starrte seinen Hauptmann stumm an. Dieser ging zu seinem Schreibtisch und setzte sich nieder, ohne sein Gegenüber noch eines Blickes zu würdigen. D´Artagnan holte tief Luft, als wolle er es noch einmal auf einen Versuch ankommen lassen, doch dann grüßte er nur und verließ das Arbeitszimmer.
Als er die Treppe hinunter ging, begegnete er Monsieur de Jambert, der ganz offensichtlich gerade Rochefort besucht hatte. Er nickte dem Jüngeren höflich zu und dieser schloss sich ihm an. Sie betraten den wichtigsten Raum des Hauptquartieres, eine sehr große hohe Halle mit einem riesigen Kamin, wo auch im Sommer ein Feuer brannte, mehreren langen, niedrigen Tischen und vielen Rüstungen und Flaggen, die an der Decke hingen. Hier hielten sich zu fast jeder Tageszeit Musketiere auf, sofern sie nicht auf dem Hof waren oder zum Dienst eingeteilt waren. Auch an diesem Tag waren hier an die zwanzig Musketiere zu finden, die sich die Zeit mit kleineren Fechtübungen oder Kartenspiel vertrieben. D´Artagnan grüßte einige seiner Freunde, während er mit Monsieur de Jambert durch den Raum ging. "Ihr wart bei Rochefort?" fragte der Musketier dann.
"Ja, Monsieur", antwortete Jambert. "Er ist gerade aufgewacht. Es geht ihm gar nicht gut."
D´Artagnan verzog das Gesicht. "Das ist nicht schön", sagte er ohne viel Teilnahme, in Gedanken schon wieder bei Tréville und der Überlegung, wann er es wieder wagen konnte, bei ihm vorzusprechen.
"Allerdings nicht", antwortete Monsieur de Jambert und zupfte an seinem akkurat gestutzen, schwarzen Schnurrbart, der seinen noch recht weichen Gesichtszügen wohl mehr Männlichkeit verleihen sollte.
"Hat er was gesagt?" erkundigte sich d´Artagnan, um irgendetwas zu sagen.
"Ja, dass er niemanden sehen will", erklärte Jambert traurig. "Nur der Arzt darf zu ihm."
"Sehr bedauerlich", entgegnete d´Artagnan kurz. "Entschuldigt mich, Monsieur, mein Wachdienst wartet." Der Musketier ließ den anderen, für den er nur Gleichgültigkeit empfand, stehen und begab sich zu seinem Posten. Er musste sich auf eine langweilige Wartezeit einrichten und in seiner Ungeduld verging ihm sein Dienst besonders langsam.
Unterdessen war der Leibarzt Monsieur de Trévilles bei Rochefort in dessen Krankenzimmer und kümmerte sich um den soeben aus der Ohnmacht Erwachten. Er nahm seine Hand, um dessen Puls zu fühlen, doch der Musketier entzog sie ihm mit einer matten Bewegung und fragte heiser: "Wer ist das? Jambert?"
"Ich bin der Leibarzt Eures Hauptmannes", antwortete der Mann weich. "Ich kümmere mich um Euch, seid unbesorgt."
"Was?" fragte Rochefort müde. "Was ist passiert? Ich kann nichts sehen. Wo bin ich?" Er tastete mit der Hand nach seinem Gesicht, doch der Arzt hinderte ihn daran, den Verband zu berühren.
"Ihr hattet ein Duell mit Monsieur d´Artagnan. Ihr wart ohnmächtig und vor zehn Minuten seid Ihr wieder aufgewacht. Dieser junge Mann war hier, aber Ihr habt ihn weggeschickt. Könnt Ihr Euch daran erinnern? Ihr seid danach wieder ohnmächtig geworden."
Rochefort schwieg. Dann räusperte er sich und fragte: "Was ist bei dem Duell passiert? Wo bin ich verletzt?"
Der Leibarzt seufzte. Es war immer unangenehm, einem Patienten eine Behinderung anzukündigen. "Am linken Auge", sagte er schließlich.
Rochefort schwieg und der Arzt konnte sehen, wie es um seine Mundwinkel zuckte. "Am linken Auge", wiederholte der Musketier dann. "Und... was heißt das?"
"Es heißt, dass dieses Auge... nicht mehr da ist. Habt Ihr Schmerzen?"
"Nicht mehr da?" fragte Rochefort und der Arzt spürte, wie Panik in dem Patienten aufstieg. "Heißt das, ich kann nicht mehr sehen? Bin ich blind?"
"Nein nein", versuchte er ihn zu beruhigen. "Das andere Auge hat alles unbeschadet überstanden. Nur das Linke..."
"Aber ich kann nichts sehen!"
"Ihr habt einen Verband um beide Augen, damit Ihr nicht mit der Hand in die Nähe der Wunde gelangen und sie berühren könnt. Es soll sich ja nichts entzünden." Der Arzt grinste schief, was Rochefort natürlich nicht sehen konnte.
"Wann bin ich wieder gesund?" fragte Rochefort nervös und bewegte den Kopf, als sei ihm der Verband unangenehm.
"Das kommt auf Euch an", erwiderte der Arzt. "Ihr müsst etwas Nahrung zu Euch nehmen. Bitte, ich helfe Euch, Euch aufzurichten." Er trat an das Bett heran, doch Rochefort wich zurück, soweit ihm das möglich war.
"Lasst mich", sagte er hastig. "Ich möchte nach Hause, in meine Wohnung. Ich-"
"Monsieur, das ist nicht möglich. Ihr könnt in Eurem Zustand nicht weggebracht werden. Außerdem bekommt Ihr hier alles, was Ihr braucht." Der Arzt goss Wasser aus einer Karaffe in einen kleinen Becher und wollte ihn an Rocheforts Lippen setzen. Doch dieser schob den Becher zurück
"Ihr müsst etwas trinken", erklärte der Arzt geduldig. "Ihr könnt es ja selbst versuchen." Er drückte ihm den Becher in die Hand. Etwas zittrig führte Rochefort den Becher zum Mund, doch als er trinken wollte, vergoss er die Hälfte. Ohne ein Wort nahm der Arzt ihm den Becher aus der Hand und stellte ihn wieder auf den Tisch.
"Wo ist meine Kleidung?" fragte Rochefort und hustete rauh. Er strich sich über das Gesicht und betastete dann den Verband. Der Arzt schob seine Hand wieder zurück.
"Eure Kleidung ist hier auf einem Stuhl. Es ist alles vollständig. Ein paar Musketiere haben Euch gestern hierher gebracht und Ihr wart bis eben ohnmächtig. Ich bitte Euch, vernünftig zu sein und hier zu bleiben. Vielleicht dauert es nur ein paar Tage, bis wir den Verband abnehmen können."
Der Musketier sank in die Kissen zurück. "Ich möchte nicht, dass alle Stunde ein paar Musketiere reinkommen, um mich anzustarren", sagte er und war bemüht, seiner Stimme Festigkeit zu geben.
"Das verlangt auch niemand von Euch", versetzte der Arzt und ordnete die Bettdecke, sodass der Verwundete besser liegen konnte. "Ich werde dafür sorgen, dass niemand Euch stört. Gibt es jemanden, den wir benachrichtigen sollen?"
Rochefort schüttelte leicht den Kopf, hielt aber sofort inne, als ob es ihm Schmerzen bereite. "Nein, niemand..."
"Gut, Monsieur, ich lasse Euch jetzt allein. Bitte versucht zu schlafen. Wenn ich wiederkomme, müsst Ihr etwas essen."
Der Arzt verließ das Zimmer.
Es ging schon gegen Mittag, als d´Artagnans Wachdienst endlich beendet war. Der Musketier verließ sofort seinen Posten, als die Ablösung kam und stürmte in das Vorzimmer des Hauptmannes. Dort ließ er sich melden.
"Worum geht es denn?" fragte François, der Sekretär Trévilles, der stets so tat, als kenne er die Musketiere allesamt nicht.
"Um meinen Wachdienst", gab der Gascogner an, nicht ganz der Wahrheit gemäß. Allerdings wäre es unsinnig gewesen, François von einer Verschwörung zu erzählen.
"Dann gebt mir Euren Bericht", verlangte der Sekretär gemessen. "Ich kann ihn selbst überbringen."
"Bedaure", sagte d´Artagnan, dessen Nerven inzwischen zum Zerreißen gespannt waren. "Ich muss ihn in diesem Fall selbst überbringen, da es Monsieur de Tréville so angeordnet hat."
François zuckte mit den Schultern und sagte dann gelassen: "Ihr müsst ein wenig warten. Monsieur de Tréville führt gerade ein Gespräch."
Damit musste sich der Musketier bescheiden, wenn es ihn auch schwer fiel. Er wandte sich von dem Sekretär ab und lehnte sich an die Wand gegenüber der Tür, da alle Sitze besetzt waren. Mit Schrecken malte sich der Gascogner aus, wie erst alle anderen vor ihm eingelassen wurden und er immer noch warten müsse, doch ein gütiges Geschick sorgte dafür, dass sich seine Alpträume nicht bewahrheiteten. Die Tür zum Arbeitszimmer des Hauptmannes öffnete sich und der Leibarzt, dick wie eh und je, trat heraus. D´Artagnan war nicht sehr angetan. Er schätzte diesen Mann sehr, da dieser auch ihn selbst schon versorgt hatte, doch zur Zeit kümmerte er sich ja wohl um Rochefort und hatte dem Hauptmann bestimmt mitgeteilt, wie schlecht es demselben ging und dass daran nur d´Artagnan schuld sei. Gewiss würde Monsieur de Tréville ihn nun rufen lassen, um ihm noch einmal eine Standpauke halten zu können. Und wirklich ließ ihn Tréville hereinrufen. Missmutig stieß sich d´Artagnan von der Wand ab und ging in das Arbeitszimmer, böse gemustert von einigen Leuten, die im Vorzimmer schon länger gewartet hatten als der Gascogner und ihm nun den schnellen Einlass missgönnten. Doch im Augenblick interessierte das den Musketier weniger. Er trat durch die Tür, die François hinter ihm schloss und stand vor dem Schreibtisch Trévilles, der wie heute morgen auch schon mit Papieren überladen war. Der Hauptmann selbst saß hinter dem Schreibtisch und musterte den soeben Eingetretenen mit schwer zu enträtselndem Gesichtsausdruck.
"Der Leibarzt war hier", sagte Tréville schließlich und griff nach einer Feder, um eine Unterschrift unter einen Bericht zu setzen.
"Er kommt sicherlich von Rochefort", meinte d´Artagnan etwas enerviert.
"Allerdings", bestätigte der Kapitän der Musketiere. "Und es geht ihm nicht gut."
"Wie lange wird es denn dauern, bis Monsieur de Rochefort wieder aufstehen kann?"
"Einige Tage... oder Wochen", antwortete Tréville ruhig. "Und sobald er aufstehen kann, wird er eine Strafe bekommen, für unerlaubtes Duellieren." Der Hauptmann machte eine kurze Pause und sagte dann: "Genau wie Ihr, d´Artagnan."
D´Artagnan nickte ergeben. Dann trat er einen Schritt vor. "Monsieur le capitaine, ich bitte Euch um die Erlaubnis, eine Mitteilung machen zu dürfen."
Tréville sah unwillig auf. Er bezweifelte, dass es etwas von Wichtigkeit war, was d´Artagnan sagen wollte und nahm an, dass dieser nur von dem Duell, das dem Hauptmann ohnehin schwer im Magen lag, ablenken wollte. Doch er würde ihn nun anhören. "Also bitte", sagte er.
"Es geht um die Hochzeit des Dauphins und der Infantin", sagte d´Artagnan rasch. "Während dieser Feierlichkeiten planen Attentäter den König zu ermorden."
Tréville fuhr aus seinem Sessel hoch und sah den Musketier ungläubig an. "Was sagt Ihr da?"
D´Artagnan nickte heftig, zum Zeichen, dass der Hauptmann ganz richtig verstanden hatte. "Ich habe es gestern Abend mehr durch Zufall erlauschen können. Monsieur de Jounieux, den Ihr auch kennt, ist daran beteiligt."
"Dieser rothaarige Edelmann?" rief Tréville aus.
"Genau der", bestätigte d´Artagnan.
"Der plant ein Attentat?" fragte Tréville zweifelnd und setzte sich wieder hin.
"Allerdings. Er und seine Mitverschwörer haben sich letzte Nacht in einer Schenke mit dem Namen "Zum Goldenen Huhn" getroffen." Der Musketier dachte kurz an die vergangene Nacht zurück und welche Mühe er gehabt hatte, das Schild über der Tür zu entziffern.
"Fahrt fort", verlangte Tréville kurz.
D´Artagnan berichtete nun endlich, was er erlauscht hatte. Als er geendet hatte, schüttelte Tréville den Kopf. "Warum habt Ihr das nicht eher gesagt! Zur Hochzeit, sagt Ihr? Da sind noch zwei Wochen Zeit."
"Ja, Monsieur le capitaine. Ich wollte Euch fragen, wie dagegen vorzugehen ist."
"Ihr habt es entdeckt, d´Artagnan. Was würdet Ihr tun?"
Der Musketier räusperte sich. "Ich würde die Täter in flagranti ertappen wollen, also während der Hochzeitsfeierlichkeiten. Immerhin wissen wir jetzt genau, wie diese Mörder ihre Tat zu begehen denken und können uns darauf einrichten."
Tréville nickte lächelnd, obwohl der Umstand so ernst war. "Also gut, dann warten wir auf die Hochzeit, d´Artagnan. Wir werden natürlich nur wenige Leute einweihen, damit keine Unruhe ausbricht. Und Ihr wisst ja... je weniger Leute davon wissen, desto besser."
Mit einer Handbewegung lud der Hauptmann seinen besten Musketier ein, sich ebenfalls zu setzen. "Also wollen wir schon einmal planen, wie wir vorgehen könnten. Ach, und von Eurer... Strafe", der Hauptmann lächelte ein wenig, "seid Ihr selbstverständlich befreit.